Année politique Suisse 1969 : Enseignement, culture et médias / Enseignement et recherche
 
Bildungspolitik
Das Spannungsverhältnis, das sich naturgemäss zwischen den Bemühungen um eine nationale Bildungspolitik einerseits und der Verteidigung der kantonalen Schulhoheit anderseits ergeben muss, verschärfte sich im Verlaufe des Jahres. Obschon sich Bundesrat Tschudi optimistisch über die Möglichkeiten des kooperativen Föderalismus äusserte, war erkennbar, dass dieser in seiner jetzigen Form, mit Subventionen als einzigem Instrument, noch nicht als gültige Alternative zu einer zentralen Bildungspolitik bezeichnet werden kann [1]. Es zeigte sich weiter, dass als wichtige Voraussetzung die Bildungsforschung intensiviert werden muss. Ein erster Schritt wurde mit dem Beschluss der Errichtung einer Koordinationsstelle für die Förderung der Bildungsforschung getan, die durch die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren getragen wird und später in das in Aarau geplante Institut für Bildungsforschung integriert werden soll [2]. Dass der Rückstand im schweizerischen Bildungswesen in weiten Kreisen des Volkes dem Schulföderalismus angelastet wird, wurde in der Auseinandersetzung um die Schulkoordinationsinitiative der Jugendfraktion der Schweizerischen BGB sichtbar. Gegenüber parlamentarischen Vorstössen, die dem Bund vermehrte Kompetenzen im Schulwesen zuweisen wollten, verhielt sich jedoch der Bundesrat abwartend [3]. Der Präsident des Wissenschaftsrates legte Thesen zur Fortentwicklung des föderativen schweizerischen Bildungssystems vor, die Reformen auf allen Schulstufen postulierten und eine Annäherung der unterschiedlichen kantonalen Schulsysteme auf dem Konkordatsweg empfahlen [4].
Das wachsende Interesse an Fragen der Bildungspolitik kam in der öffentlichen Diskussion zum Ausdruck. Insbesondere wurde auf den wechselseitigen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und dem Stand der Ausbildung hingewiesen. Verschiedene Parteien arbeiten Thesen zur Bildungspolitik aus, der Schweizerische Gewerkschaftsbund setzte eine Kommission zum Studium bildungspolitischer Fragen ein, und in Luzern wurde eine katholische Arbeitsstelle für Bildungsfragen eröffnet [5]. Zu den bisherigen Hauptforderungen — neue Schulungsmöglichkeiten für Schüler aus bildungsfernen Schichten und Durchlässigkeit des Schulsystems durch vermehrte Übertrittsmöglichkeiten von der einen Stufe zur anderen — traten neu das Verlangen nach gleichen Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und der Ruf nach Koordination der «éducation permanente» auf Bundesebene, da kantonale Grundlagen weitgehend fehlen [6].
Die Demonstrationen des Sommers 1968 hatten zu erkennen gegeben, dass das Jugendproblem auch in der Schweiz dringlich ist. Wissenschaftliche Untersuchungen über die Jugend führten zum Postulat einer koórdinierten Jugendpolitik durch die Schaffung einer Kommission, in der alle privaten und öffentlichen Institutionen, die sich mit Jugendarbeit befassen, vertreten wären [7]. Im Nationalrat wurde die Notwendigkeit der Bereitstellung weiterer wissenschaftlicher Unterlagen für die Formulierung einer Jugendpolitik nur einschränkend anerkannt. Der Rat überwies ein Postulat Rasser (LdU, AG), das eine Untersuchung über die politisch tätige Jugend verlangte, während eine Motion Tanner (LdU, ZH), die einen umfassenden Sozialbericht über die Jugend forderte, abgelehnt wurde [8]. Die Studienkommission für Jugendfragen, die nach den Globusdemonstrationen in Zürich eingesetzt worden war, beantragte die Einrichtung autonomer Jugendzentren, und in Bern arbeiteten Behörden und Jugendliche zur Verwirklichung eines entsprechenden Projekts zusammen [9]. Dagegen löste sich in Luzern die nach dem Januarkrawall eingesetzte Jugendkommission wegen Differenzen mit dem Stadtrat in der Frage der Schadenhaftung auf, und das Bedürfnis nach einem autonomen Jugendzentrum wurde von den Behörden nicht als dringend anerkannt [10]. Zur Förderung der Volksgesundheit und im Bemühen um eine sinnvolle Freizeitgestaltung der Jugend legte der Bundesrat, nachdem das Vernehmlassungsverfahren positiv verlaufen war, zuhanden des Parlaments einen Verfassungsartikel über die Förderung von Turnen und Sport vor. Dieser gäbe dem Bund die Befugnis, Vorschriften über Turnen und Jugendsport zu erlassen, die körperliche Ertüchtigung der Erwachsenen zu fördern und eine Turn- und Sportschule zu unterhalten [11]. In der Dezembersession wurde der neue Verfassungsartikel vom Ständerat einstimmig angenommen [12].
 
[1] Rede Bundesrat Tschudis in St. Gallen, in Wirtschaft und Recht, 22/1970, S. 1 ff. Hearing des Verbandes der Schweizerischen Studentenschaften in Aarau; vgl. NZZ, 76, 16.2.70.
[2] Vgl. SPJ, 1968, S. 120; Wissenschaftspolitik 3/1969, H. 4, S. 11 ff.; NZZ, 182, 24.3.69. Die Erziehungsdirektoren der Welschschweiz und des Tessins gründeten ein Institut für Bildungsforschung in Neuenburg. Vgl. NZZ, 335, 5.6.69.
[3] Vgl. unten S. 138. Zur Sicherstellung der Zusammenarbeit zwischen Bundes- und Kantonsstellen in Hochschul- und Bildungsfragen berief das EDI im September eine Konferenz ein. Vgl. NZZ, 594, 26.9.69.
[4] MAX IMBODEN, Thesen zur Fortentwicklung des föderativen schweizerischen Bildungssystems (vervielf.).
[5] Vgl. Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 105/1969, S. 275 ff.; Plattform der Konservativ-christlichsozialen Volkspartei der Schweiz zur Bildungspolitik, in Civitas, 24/1968-69, S. 796; Resolution der Parlamentariertagung des Landesrings der Unabhängigen zur Bildungspolitik, in Civitas, 25/1969-70, S. 348; Kyburg-Tagung der Zürcher Freisinnigen und Demokraten, vgl. NZZ, 254, 28.4.69; Lb, 97, 29.4.69; Beschlüsse des Kongresses des Gewerkschaftsbundes über Bildungspolitik, in gk, 36, 18.10.69; zur Arbeitsstelle für Bildungsfragen vgl. NZZ, 80, 10.2.69.
[6] Forderung des Verbandes Schweizerischer Akademikerinnen. Vgl. NZZ, 669, 11.11.69; gk, 40, 13.11.69; Interpellation Kohler (rad., BE) in Verhandl. B.vers., 1969, I, S. 55; vgl. Bund, 61, 14.3.69.
[7] Vgl. NZ, 137, 24.3.69.
[8] Postulat Rasser in Verhandl. B. vers., 1969, I, S. 32; Motion Tanner ebenda, S. 37. Vgl. NZZ, 180, 21.3.69; NZ, 134, 22.3.69; Vat., 68, 22.3.69; NZN, 68, 22.3.69; Tat, 69, 22.3.69; TLM, 81, 22.3.69; GdL, 68, 22./23.3.69; TdG, 69, 22./23.3.69; JdG, 68, 22./23.3.69; Bund, 68, 23.3.69.
[9] Vgl. SPJ, 1968, S. 15 ff. u. 120; NZZ, 160, 13.3.69; 610, 7.10.69; 738, 21.12.69.
[10] Vgl. oben, S. 17; Vat., 133, 12.6.69; 157, 10.7.69; NZZ, 124, 26.2.69; 359, 16.6.69.
[11] BBI, 1969, II, S. 1035. Vgl. SPJ, 1968, S. 120; NZZ, 331, 3.6.69; 559, 11.9.69; 606, 5.10.69; 708, 3.12.69.
[12] Sten. Bull. StR, 1969, S. 313 ff.; vgl. NZZ, 720, 10.12.69.