Année politique Suisse 1970 : Partis, associations et groupes d'interêt / Partis
 
Konservativ-christlichsozialen Volkspartei
Wie kaum in einer anderen Partei manifestierten sich auseinanderstrebende Tendenzen in der Konservativ-christlichsozialen Volkspartei (KCVP). Was schon früher latent schwelte [6], gelangte 1970 deutlicher als je zum Ausdruck: der Antagonismus zwischen einem eher fortschrittlicheren, urbanen und jüngeren Flügel und einem eher beharrenden, ruralen und älteren Flügel. Im Kanton Luzern, wo sich die beiden zur Zeit des ersten Weltkrieges in eigenen Parteien konstituiert hatten, fusionierten sie am 14. März 1970 zur kantonalen « Volkspartei » [7]. Allein die christlichsozialen Parteisektionen in Luzern sowie in den Industrieagglomerationen Kriens und Sursee widersetzten sich diesem Zusammenschluss, da sie einen Profilverlust befürchteten [8]. In der Stadt Zürich betonten die Jungchristlichsozialen (JCSZ): « Wir stehen links »; sie verstanden sich «als Vorkämpfer innerhalb der Partei zur Schaffung eines ,neuen' linken Flügels» [9]. Ihre Durchschlagskraft war aber anscheinend noch nicht so wirksam, dass es ihnen gelungen wäre, die Aufstellung des linksstehenden bisherigen Gemeinderates P. Früh durch die eigene christlichsoziale Partei durchzusetzen [10] oder anlässlich einer Nachwahl in den Stadtrat eine Wahlallianz mit den Sozialdemokraten einzugehen [11]. Auch in Genf reichte es nicht zum Schulterschluss zwischen Christlichsozialen (PICS) und Sozialdemokraten, dem sich letztere nicht abgeneigt gezeigt hatten [12]. Hingegen fiel die Entscheidung des PICS bei zwei anderen Entscheidungsprozessen eher zugunsten der Linken aus. Bei der Administrativratswahl im Februar entschied sich der PICS für Stimmfreigabe, was zum Teil als indirekte Unterstützung des kommunistischen Kandidaten R. Dafflon bewertet wurde [13]. Vor der Abstimmung über das « Recht auf Wohnung » gab er als eine der ersten christlichsozialen Parteisektionen die Ja-Parole heraus und verband diese mit einer scharfen Kritik an Nationalrat K. Hackhofer (k.-chr., ZH), der im gegnerischen Aktionskomitee Einsitz genommen hatte [14]. Die Parteiprominenz lehnte aber diese Vorwürfe ab. Trotzdem gelangte am Parteitag in Biel eine Mehrheit von 83 gegen 64 Delegierte nach « leidenschaftlichen Debatten » ebenfalls zur Befürwortung, was die Öffentlichkeit in nicht geringes Staunen versetzte [15]. Der Linkstrend wurde freilich etwas abgeschwächt, als nur einige Monate später die Delegiertenversammlung bloss mit einem Zufallsmehr, mit 80 gegen 79 Stimmen, der Bundesfinanzvorlage ihre Unterstützung zusagte [16]. Die Unberechenbarkeit der Partei verstärkte sich aber jedes Mal durch die abweichenden Parolen der kantonalen oder kommunalen Sektionen, so dass die Presse bereits Krisen, Zerreissproben oder ein Auseinanderbrechen der KCVP verhiess [17].
Diesen Missstand hatte man in der KCVP spätestens seit der Reorganisation des Parteisekretariates von 1968 erkannt [18]. Um Abhilfe zu leisten und um Leitlinien für die Reformen kantonaler Parteien zur Verfügung zu stellen, wurde eine Statutenrevision in die Wege geleitet. Im Januar 1970 wurde in den Sektionen eine gründliche Umfrage veranstaltet, deren Ergebnisse im Sommer in einen ersten Statutenentwurf einmündeten. Nach intensiven Beratungen auf allen Parteistufen sowie einem Vernehmlassungsverfahren wurden die neuen Statuten am 12. Dezember in Solothurn der Delegiertenversammlung vorgelegt, welche sie mit 154 zu 10 Stimmen guthiess [19]. Die moderne Parteiverfassung wandelt formell eine Dachorganisation von Kantonalparteien in eine föderalistisch aufgebaute Mitgliederpartei um. Alle Mitglieder werden in einer zentralen Mitgliederkartei registriert. Das oberste Parteiorgan ist die Delegiertenversammlung, welche sich aus den Aktivisten des Bundesparteivorstandes und den Delegierten der Kantonalparteien zusammensetzt. Letztere werden gewählt, indem auf 2000 Stimmen bei der letzten Nationalratswahl und auf 500 Parteimitglieder je ein Mandat entfällt. Jeder kantonalen Sektion stehen aber mindestens fünf Delegierte zu. Mit dieser Regelung strebt die KCVP eine innerparteiliche Demokratisierung sowie einen verstärkten Kontakt zwischen Spitze und Basis an. Schliesslich wird auch versucht, den Pluralismus der Parolen innerhalb der Partei abzubauen. Die Kantonalparteien können aber zu Stellungnahmen, «die mit der Parole der Bundespartei übereinstimmen », lediglich angehalten werden.
Die Parteistatuten gaben mit Ausnahme der Namensänderung dem Parteitag keinen besonderen Anlass zu Auseinandersetzungen. Ein Antrag der JCSZ auf Nichteintreten unterlag eindeutig. Sie hatten vor einer Statutenrevision eine grundsätzliche, programmatische Diskussion gefordert, da anderenfalls eine Problemverdrängungs- statt einer Problemlösungsorganisation etabliert würde. — Die ehemals Konservative Volkspartei taufte sich in Christlichdemokratische Volkspartei um, abgekürzt CVP [20]. Dieser Name zeugt von der Neuorientierung, die freilich nicht unwidersprochen blieb. Einerseits kritisierte man die Etikettierung « christlich » [21] und den Ausdruck « Volkspartei »; anderseits bedauerten verschiedene Gruppen den Wegfall der Begriffe « sozial » oder « konservativ » [22]. Immerhin beruht die Parteiideologie auch nach der Revision « auf der konservativen Staatsphilosophie und auf den christlichen Soziallehren », denn diese beiden Säulen machen die Identität der « christlich orientierten Partei » aus [23]. In der politischen Praxis basiert die CVP auf den Grundsätzen der Evolution, der Solidarität und der Subsidiarität. Sie versteht sich dabei als eine Partei der fortschrittlichen Mitte [24]. In den gegnerischen Reihen, welche die Leistung teilweise als geradezu bahnbrechend würdigten, fragte man sich allerdings, ob die CVP das ihr immer noch anhaftende klerikalkatholische Image so leicht abzustreifen vermöge.
 
[6] Vgl. SPJ, 1969, S. 167.
[7] Vat., 55, 7.3.70; 62, 16.3.70; 66, 30.3.70; 67, 21.3.70; 212, 14.9.70; NZZ, 14, 10.1.70; 124, 16.3.70; 145, 31.3.70; BN, 110, 16.3.70; 117, 19.3.70; TdG, 63, 16.3.70; JdG, 64, 18.3.70.
[8] Vat., 99, 30.4.70; 101, 2.4.70; 107, 11.5.70; 110, 14.5.70; Bund, 100, 1.5.70; NZZ, 202, 4.5.70; 288, 25.6.70; 360, 6.8.70.
[9] NZN, 53, 5.3.70; 62, 16.3.70; 67, 21.3.70; AZ, 63, 18.3.70.
[10] NZN, 27, 3.2.70; 31, 7.2.70; NZZ, 87, 22.2.70.
[11] Vgl. NZN, 259, 5.11.70; AZ, 248, 26.10.70; 258, 6.11.70; 259, 7.11.70; oben, S. 33.
[12] Vgl. TdG, 64, 17.3.70; Ostschw., 69, 24.3.70; JdG, 77, 4./5.4.70.
[13] JdG, 28, 27.1.70; 77, 4./5.4.70; Ostschw., 29, 5.2.70; Bund, 38, 16.2.70; 43, 22.2.70; TdG, 44, 21./22.2.70; vgl. oben, S. 33.
[14] TdG, 152, 2.7.70; 198, 25.8.70; NZN, 174, 29.7.70; 193, 20.8.70; Bund, 175, 30.7.70; AZ, 189, 18.8.70; 193, 22.8.70; Ostschw., 195, 22.8.70.
[15] Vat., 193, 22.8.70; 194, 24.8.70; 195, 25.8.70; Ostschw., 195, 22.8.70; 196, 24.8.70; NZN, 196, 24.8.70; 197, 25.8.70; Lib., 269, 24.8.70; NZZ, 390, 24.8.70; 392, 25.8.70; 399, 28.8.70; NBüZ, 243, 24.8.70; Lb, 195, 24.8.70; TdG, 197, 24.8.70; NZ, 385, 24.8.70.
[16] Leitender Ausschuss der KCVP beantragte am 7.10. die Nein-Parole: Tw, 234, 7.10.70; NZN, 237, 10.10.70; Delegiertenversammlung in Luzern: NZN, 244, 19.10.70; 264, 11.11.70; Ostschw., 244, 19.10.70; Vat., 242, 19.10.70; Lib., 16, 19.10.70; NZZ, 485, 19.10.70; 488, 20.10.70; GdL, 243, 19.10.70; Bund, 244, 19.10.70; Tw, 244, 19.10.70; AZ, 243, 20.10.70.
[17] Vgl. gk, 37, 14.10.70; AZ, 243, 20.10.70; TLM, 24.10.70; Sonntags-Journal, 43, 24./25.10.70; NZ, 491, 25.10.70.
[18] SPJ, 1968, S. 152.
[19] Vgl. hierzu und zum Folgenden die Statuten der CVP und die einführenden Erläuterungen zur Statutenrevision von KCVP- bzw. CVP-Generalsekretär U. C. Reinhardt und NR F. J. Kurmann; ferner: Ostschw., 243, 17.10.70; 292, 14.12.70; 293, 15.12.70; NZN, 244, 19.10.70; 281, 1.12.70; 292, 14.12.70; Vat., 287, 11.12.70; 289, 14.12.70; 302, 31.12.70; Lib.. 64, 14.12.70; GdL, 291, 14.12.70; NZZ, 581, 14.12.70; 592, 20.12.70; NZ, 576 u. 577, 14.12.70; AZ, 290, 14.12.70; TAW, 51, 22.12.70.
[20] Schon im Juni hatte der Partito conservatore democratico ticinese sich in Partito popolare democratico unbenannt: PL, 140, 22.6.70; 141, 23.6.70; 143, 25.6.70; LS, 135, 23.6.70; NZZ, 284, 23.6.70; Bund, 145, 25.6.70; NZ, 295, 2.7.70.
[21] Vgl. WILLY SPIELER, « Christliche Politik in laikaler Partei?», in Cavitas, 25/1969-70, S. 990 ff.
[22] JdG, 293, 16.12.70; TLM, 362, 28.12.70.
[23] Einführende Erläuterungen zur Statutenrevision von KCVP- bzw. CVP-Generalsekretär U. C. Reinhardt am 12.12.70, S. 5.
[24] Vgl. ebd., S. 6; TAW, 39, 29.9.70; Vat., 294, 19.12.70; Sonntags-Journal, 51/52, 19./ 20.12.70.