Année politique Suisse 1970 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires
Regierung
Die Bemühungen um eine Anpassung der staatlichen Organe an die gewandelten Verhältnisse kamen nur langsam voran. Der Bundesrat hatte schon 1969 den eidgenössischen Räten beantragt, die periodische Ausarbeitung von Richtlinien zur
Regierungspolitik sowie eines Rechenschaftsberichtes über deren Vollzug im Geschäftsverkehrsgesetz zu verankern. In den parlamentarischen Verhandlungen nahm der Ständerat daran Anstoss, dass der Entwurf des Bundesrates eine Einberufung der Vereinigten Bundesversammlung vorsah, damit der Bundespräsident die Richtlinien in einer Art « Thronrede » erläutern könne, bevor sie in den einzelnen Räten debattiert würden. Er gab aber dem Nationalrat nach, als dieser die gemeinsame Sitzung befürwortete
[1]. Somit ist der Bundesrat 1971 erstmals zur Rechenschaftsablage über eine ganze Amtsperiode verpflichtet. Forderungen nach einer noch ausgeprägteren Profilierung der Regierungstätigkeit, namentlich durch Preisgabe der « Zauberformel » zugunsten einer Koalitionsregierung mit starker Opposition, blieben bis zum Jahresende noch vereinzelt: Nationalrat Binder (k.-chr., AG) rief im Zusammenhang mit einem Vorstoss für die Wiedereinführung des Mehrheitswahlverfahrens nach einer Sprengung des « Regierungskartells »
[2]; die Desavouierung der Bundesratsparteien durch mehr als eine halbe Million Wähler in der Abstimmung über die Überfremdungsinitiative veranlasste auch Binders Kollegen Hubacher (soz., BS) und A. Hürlimann (k.-chr., ZG), für eine Auflösung der «Grossen Koalition» zu plädieren
[3]; Nationalrat Schürmann (k.-chr., SO) wiederholte schliesslich eine entsprechende, schon 1967 geäusserte Anregung
[4]. Im Unterschied zu diesen Befürwortern eines formalpolitisch begründeten Spannungsverhältnisses zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien verfochten Exponenten des linken Flügels der Sozialdemokratie eine von der revolutionären Zielsetzung bestimmte Oppositionspolitik ihrer Partei
[5].
Die Ende 1969 neugewählten Bundesräte Graber und Brugger nahmen im Februar ihre Amtstätigkeit auf; wie erwartet, wurde dem ersten das EPD, dem zweiten das EVD zugeteilt
[6]. Während der Demissionär Spühler sich bewusst auf gemeinnützige und kulturpolitische Aufgaben beschränkte
[7], wandte sich sein ehemaliger Kollege Schaffner ebenso entschieden einer privatwirtschaftlichen Tätigkeit zu, wobei er auf eine Bundespension verzichtete. Die Übernahme mehrerer Verwaltungsratssitze wurde dem früheren Wirtschaftsminister jedoch übel .vermerkt, vor allem als er sich auch zum Verwaltungsratspräsidenten von Brown, Boveri & Cie (BBC) wählen liess; man wies auf die Gefahr hin, dass solche Positionswechsel zu Zweifeln an der Vertrauenswürdigkeit öffentlicher Amtsträger Anlass gäben. Schaffner trat darauf von der Leitung der BBC wieder zurück
[8]. Der Nationalrat überwies im Dezember ein Postulat, das die Anregung enthielt, neu eintretende Bundesräte dazu zu verpflichten, nach ihrem Rücktritt nur mit ihrem Amt vereinbare Stellungen anzunehmen
[9]. Die beim Jahreswechsel 1969/70 aufgeflammte Diskussion una Bundesrat von Moos, dem Linkskreise eine antisemitische Haltung zur Zeit des Dritten Reiches vorwarfen, fand einen Nachhall am sozialdemokratischen Parteitag; doch sah dieser von einer Rücktrittsforderung ab, um den Angegriffenen nicht zum demonstrativen Ausharren in seinem Amt zu veranlassen
[10]. Turnusgemäss wurde am Jahresende Bundesrat Gnägi zum Bundespräsidenten für 1971 und Bundesrat Celio trotz einer früheren Rücktrittsankündigung zum Vizepräsidenten gewählt
[11].
[1] Verhandlungen im StR am 3.3. und 11.6. (Sten. Bull. StR, 1970, S. 1 ff. u. 207), im NR am 4.6. (Sten. Bull. NR. 1970, S. 319 ff.): Vgl. SPJ, 1969, S. 20; ferner BN, 228, 5.6.70.
[2] Vat., 126, 4.6.70. Vgl. unten, S. 23.
[3] Radiogespräch vom 14.6. (NZZ, 272, 16.6.70; Lb, 137, 17.6.70). Vgl. dazu unten, S. 131 f.
[4] NZ, 577, 14.12.70. Vgl. LEO SCHÜRMANN, « Probleme der Allparteienregierung », in SJPW, 7/1967, S. 83 ff.; ferner die Diskussion über den Vorschlag Prof. E. Gruners über eine Koalitionsbildung aufgrund eines Regierungsprogramms in NZZ, 508, 1.11.70; 520, 8.11.70; endlich den Vorschlag der solothurnischen Studienkommission für eine Totalrevision der Bundesverfassung, das Kollegialsystem durch das Präsidialsystem zu ersetzen (Arbeitsgruppe für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Antworten auf die Fragen der Arbeitsgruppe, Bd 1, Bern 1970, S. 512 ff.).
[5] Vgl. unten, S. 187 f., ferner TdG. 274, 23.11.70.
[6] NZZ, 54, 3.2.70. Obwohl BR Schaffner schon beim Jahreswechsel das EVD verliess, konnte sein zürcherischer Nachfolger Brugger seinen Sitz erst im Februar einnehmen, da im Januar der Zürcher Spühler noch als Chef des EPD im Amt war (Tw, 26, 2.2.70). Vgl. SPJ, 1969, S. 20 ff.
[8] Lb, 113, 20.5.70; NZZ, 317, 12.7.70; 234, 16.7.70; 329, 19.7.70; Tw, 163, 16.7.70; TdG, 165, 16.7.70; NZN, 164, 17.7.70; NZ, 455, 4.10.70.
[9] Postulat Baechtold (soz., VD) (Verhandl. B.vers., 1970, IV, S. 18; TdG, 296, 18.12.70; PS, 295, 23.12.70).
[10] Vgl. Sonntags-Journal, 2, 10./11.1.70; NZ, 15, 11.1.70; 66, 10.2.70; Neutralität, 8/1970, Nr. 2, S. 7; Nr. 3, S. 23 ff.; Vat., 147, 29.6.70; ferner SPJ, 1969, S. 22. Eine Aufforderung zum Rücktritt erfolgte auch in JdG, 65, 19.3.70.
[11] Bund, 289, 10.12.70. Gnägi erhielt 180 Stimmen, Celio deren 193.
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