Année politique Suisse 1970 : Eléments du système politique / Structures fédéralistes
 
Beziehungen zwischen Bund und Kantone und zwischen den Kantonen
Die Kritik an einzelnen Elementen der föderativen Struktur der Eidgenossenschaft, die in einigen Stellungnahmen zur Totalrevision der Bundesverfassung zum Ausdruck gekommen war, fand 1970 neue Ansatzpunkte [1]. Im Vordergrund stand die sozialpolitische Zurückhaltung des Ständerates in verschiedenen Gesetzgebungsprozessen (Strafgesetzrevision, Kündigungsschutz im Mietrecht, Arbeitsvertragsrecht, Ergänzungsleistungen zur AHV), die mit der Untervertretung der Sozialdemokraten zusammenhing [2]. Der sozialdemokratische Parteitag übertrug deshalb die Frage einer Ständeratsreform einer Kommission und zog die Lancierung einer Volksinitiative in Betracht. In erster Linie wurde von den Kritikern die Erhöhung der Mitgliederzahl befürwortet, im weiteren eine stärkere Repräsentation der volkreichen Kantone, die Einführung der Proporzwahl oder eine Unterordnung der Ständekammer unter die Volkskammer im Differenzenbereinigungsverfahren[3]. Nach der Abstimmung über die Bundesfinanzreform, bei der das ablehnende Ständemehr ein annehmendes Stimmenmehr wirkungslos machte, wurde von sozialdemokratischer Seite auch verlangt, dass das Erfordernis einer Mehrheit der Kantone für Verfassungsänderungen aufgehoben werde [4].
Die Entwicklung der interkantonalen Zusammenarbeit als Alternative zur Zentralisierung durch den Bund konnte weiterhin nur begrenzt Fortschritte verzeichnen. Wohl gelang den kantonalen Regierungen der Abschluss eines Schulkoordinationskonkordats, aber Widerstände in den Kantonsparlamenten und in der Bürgerschaft der Kantone liessen erkennen, wie schwierig es ist, auf dem Weg des kooperativen Föderalismus mehr als technische Probleme zu lösen [5]. Als Rückschlag für die interkantonale Zusammenarbeit wurde von einzelnen Stimmen das Scheitern des Projekts einer Interkantonalen Mobilen Polizei gewertet [6]. Wenn so auf der einen Seite die Kompliziertheit des Entscheidungsprozesses deutlicher wurde, so fehlte es auf der andern nicht an Warnungen vor der Gefahr, dass das Konkordat die demokratische Kontrolle erschwere, da Parlament und Referendum von den Konkordatsorganen noch leichter überspielt werden könnten als von Regierung und Verwaltung [7]. Die Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit begnügte sich deshalb nicht damit, den Konkordatsweg als Mittel des kooperativen Föderalismus zu empfehlen, sondern sie unternahm auch Studien über die Frage, ob die Schweiz in andere Gebietskörperschaften (Regionen, Grosskantone) gegliedert werden könnte und sollte [8]. Einen Ausbau des Konkordatswesens durch Einschaltung des Bundes und eine Ermächtigung des Bundes zur Allgemeinverbindlicherklärung von Konkordaten empfahl Nationalrat Chevallaz (rad., VD) in einem parlamentarischen Vorstoss [9].
 
[1] Vgl. SPJ, 1969, S. 28.
[2] Vgl. oben, S. 18 f., und unten, S. 119, 136 f. u. 140.
[3] JdG, 73, 31.3.70; Tw, 170, 24.7.70; PS, 200, 2.9.70; TA W, 42, 20.10.70. Zum Parteitag der SPS vgl. unten, S. 188, zur Proporzwahl oben, S. 23.
[4] Vgl. unten, S. 86.
[5] Vgl. unten, S. 148 f.
[6] NZZ, 575, 10.12.70; JdG, 291, 14.12.70. Vgl. oben, S. 17 f.
[7] Vgl. HANS STADLER, « Konkordate: Trugbilder oder Weg in die Zukunft? », in Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit, Das Schweizerische Konkordat, 1970, S. 45 ff., ferner NZ, 180, 21.4.70; Lb, 91, 22.4.70; BN, 170, 25./26.4.70.
[8] Vgl. Modellkonkordate in Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit, Das Schweizerische Konkordat, 1970, S. 37 ff., sowie Bildung von Arbeitsgruppen im Zusammenhang mit einer Umfrage « Die Zukunft der Kantone » (NZZ, 231, 22.5.70; 557, 30.11.70).
[9] Motion Chevallaz, eingereicht am 15.12.70 (Verhandl. B.vers., 1970, IV, S. 21; TLM, 361, 27.12.70).