Année politique Suisse 1970 : Chronique générale / Politique étrangère suisse / Aussenwirtschaftspolitik
Die Schweiz blieb nach den USA und knapp nach Grossbritannien der drittwichtigste Handelspartner der EWG. Diese enge wirtschaftliche Verflechtung war bei den Integrationsgesprächen von Vorteil, denn das Einbeziehen unseres Landes in ein freies europäisches Marktsystem lag so im Interesse der beiden potentiellen Partner
[140]. Die Gespräche, denen die sechs Länder der Europäischen Gemeinschaften bereits 1969 grundsätzlich beigestimmt hatten
[141], wurden von der EWG-Kommission für die neutralen Staaten auf Ende des Jahres angekündigt
[142]. Für diese Staaten, die keine Vollmitgliedschaft ins Auge fassen, sah die Kommission im wesentlichen folgende Möglichkeiten der Zusammenarbeit vor: ein einfaches Handelsabkommen, ein präferenzielles Handelsabkommen, eine Freihandelszone, eine Zollunion oder einen Vollbeitritt mit reduzierten Neutralitätsvorbehalten
[143]. Diese Vorschläge lösten in der Schweiz eine rege Vorbereitungstätigkeit namentlich in den Kreisen der Industrie, des Handels und in der Verwaltung aus
[144]. Die schweizerischen Behörden beurteilten die Aussichten auf eine befriedigende Lösung in der Form « besonderer Beziehungen », die weder einen Vollbeitritt noch eine Isolierung bringen würde, als günstig. Es ging ihnen darum, unter Beibehaltung einer glaubwürdigen Neutralität ökonomisch das Beste herauszuholen
[145]. Wie sehr das Gewicht auf wirtschaftliche Probleme gelegt wurde, zeigte auch die Tatsache, dass das EVD und die ihm angehörende Handelsabteilung weiterhin federführend sind
[146]. Die offizielle schweizerische Erklärung, mit der Bundesrat Brugger in Brüssel um die Aufnahme exploratorischer Gespräche ersuchte, drückte denn auch den Willen der Schweiz aus, auf wirtschaftlichem Gebiet möglichst eng mit der EWG zusammenzuarbeiten. Sie enthielt neben den anderswo erläuterten Vorbehalten wegen der Neutralität, der direkten Demokratie und des Föderalismus noch eine Reihe von Hinweisen auf wirtschaftliche Sonderprobleme, die der Schweiz aus einer Zusammenarbeit mit der EWG erwachsen würden. Im Vordergrund standen dabei die Fragen der Landwirtschaft, wo die Schweiz wesentlich höhere Produzentenpreise kennt als die EWG, und der Freizügigkeit der Arbeitskräfte, die wegen des Anteils der Fremdarbeiter, der in der Schweiz um ein Mehrfaches über jenem in den wichtigsten EWG-Ländern liegt, nicht voll realisiert werden könnte. Schwierigkeiten dürften sich auch beim sogenannten Programm der zweiten Generation ergeben; die Schweiz gab immerhin der Hoffnung Ausdruck, dass auch in den Bereichen der Währungs-, Industrie-, Forschungs-, Energie- und Regionalpolitik institutionelle Lösungen gefunden werden können, die es ihr erlauben würden, entsprechend der eingegangenen Verpflichtungen auch gestaltend mitzuwirken
[147]. In den Kommentaren wurde die gute Aufnahme, welche die Erklärung Bundesrat Bruggers gefunden hatte, hervorgehoben
[148]. Es wurde aber auch betont, dass das Moment der Spannung zwischen wirtschaftlicher Verflochtenheit und politischer Autonomie der schweizerischen Verhandlungsdelegation, welche die eigentlichen Gespräche kurz vor .Weihnachten aufnahm
[149], eine wohl faszinierende, aber ungeheuer schwierige Aufgabe stelle
[150]. Dies um so mehr, als aus EWG-Kreisen auch Stimmen laut wurden, die eindeutig festhielten, dass die Schweiz handelspolitische Vorteile mit politischen Konzessionen zu erkaufen habe, dass, wer die wirtschaftlichen Ziele der EWG bejahe, auch deren politische Finalitäten in Kauf zu nehmen habe
[151]. Die Aufgabe unserer Unterhändler wurde aber auch als sehr verantwortungsvoll bezeichnet, weil schon die kleinsten Schritte in der Integrationspolitik politischen Massnahmen gleichkämen, die sich in ihrer Bedeutung mit nichts in der schweizerischen Innenpolitik vergleichen liessen. Von verschiedener Seite wurde deshalb die ungenügende Orientierung der Öffentlichkeit beklagt
[152].
Ungeachtet der neuen Integrationsrunde führte die Schweiz die Gespräche über die Zusammenarbeit mit der EWG auf einzelnen Gebieten fort. So gediehen die Vorbereitungen für die Schaffung eines europäischen Patenterteilungssystems bereits sehr weit
[153]. Die Durchführung des im Rahmen der Kennedy-Runde ausgehandelten Uhrenabkommens geriet allerdings wegen der von der schweizerischen Uhrenindustrie neu aufgestellten Ursprungsbezeichnung « Swiss made » etwas ins Stocken. Die « Gemischte Kommission Schweiz—EWG » versuchte die Probleme zu lösen
[154]. Die Projekte über die Zusammenarbeit auf wissenschaftlich-technischem Gebiet wurden auf Expertenebene weiter verfolgt
[155].
[140] Bund, 123, 31.5.70; NZZ, 269, 14.6.70; GdL, 146, 26.6.70.
[141] Vgl. SPJ, 1969, S. 41 f. und 74.
[142] NZ, 215, 15.5.70; 228, 24.5.70; NZZ, 232, 23.5.70.
[143] NZ, 228, 24.5.70; Tat, 187, 11.8.70.
[144] Der Handels- und Industrieverein versanstaltete eine Umfrage bei 4000 Unternehmungen, der Verein des Schweizerischen Import- und Grosshandels eine solche bei 1500 Firmen; dabei wurden drei Varianten zur Diskussion gestellt: NZZ. 34, 22.1.70; 46, 29.1.70; 562, 2.12.70; NZ, 63, 8.2.70.
[145] Der Standpunkt der Behörden wurde in verschiedenen Vorträgen der Bundesräte Graber und Brugger sowie von Chefbeamten der Bundesverwaltung dargelegt; vgl. Documenta Helvetica, 1970, Nr. 3, S. 1 ff., 59 ff., 67 ff.; 1970, Nr. 4, S. 57 ff.; 1970, Nr. 5, S. 33 ff.; 1970, Nr. 6, S. 87 ff.; 1970, Nr. 7, S. 49 ff.; 1970, Nr. 9, S. 59 ff.
[146] Die Verhandlungsdelegation wurde zusammengesetzt aus den Bundesräten Brugger (Chef), Graber und Celio sowie aus den Chefbeamten Jolles (Chef), Languetin, Bindschedler, Wurth und Feller; vgl. Bund, 163, 16.7.70; NZZ, 335, 22.7.70.
[147] Bund, 264, 11.11.70; vgl. auch BBI, 1971, I, S. 47 f.; zum Problem der Landwirtschaft vgl. unten, S. 90; NBZ, 131, 9.6.70; Emmenthaler Blatt, 157, 9.7.70; NZZ, 211, 10.5.70; zum Problem der Freizügigkeit siehe NZZ, 425, 13.9.70; JdG, 120, 27.5.70; NZZ, 123, 15.3.70; 279, 19.6.70; die wirtschaftspolitischen Vorbehalte wurden auch erörtert in NZN, 301, 24.12.70; NZZ, 241, 28.5.70 und an der Herbsttagung der Europa-Union, vgl. NZ, 481, 19.10.70; Europa, 37/1970, Heft 10/11, S. 2 ff.
[148] JdG, 263, 11.11.70; Lb, 263, 11.11.70; NZ, 523, 12.11.70; NZZ, 528, 12.11.70; 529, 13.11.70; NZN, 265, 12.11.70.
[149] NZ, 513, 6.11.70; 517, 9.11.70; Tw, 263, 10.11.70; NZZ, 583, 15.12.70; 588, 17.12.70.
[150] NZZ, 527, 12.11.70; AZ, 262, 11.11.70; BN, 481, 14./15.11.70; NZ, 527, 15.11.70; JdG, 267, 16.11.70; Ostschw., 275, 24.11.70.
[151] Vgl. eine Stellungnahme der Dachvereinigung der Industrieverbände der EWG in BN, 428, 12.10.70; Ralf Dahrendorf in NZ, 480, 19.10.70 und in Europa, 37/1970, Heft 12, S. 3 ff.; Streit um die Erklärungen von Minister Scheel, vgl. BN, 470, 7./8.11.70.
[152] NZ, 63, 8.2.70; Tat, 149, 27.6.70; Lib., 22, 26.10.70; VO, 246, 27.10.70; 259, 11.11.70; NZN, 263, 10.11.70; BN, 470, 7./8.11.70.
[153] NZZ, 195, 29.4.70; BBI, 1971, I, S. 51.
[154] BBI, 1971, I, S. 51.
[155] BBl, 1971, I, S. 50 f.; NZ, 18, 13.1.70; NZZ, 21, 14.1.70; 117, 11.3.70; 181, 21.4.70; EFTA-Bulletin, 11/1970, Heft 6, S. 8 f.
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