Année politique Suisse 1970 : Enseignement, culture et médias / Enseignement et recherche
 
Grund- und Mittelschulen
Im Bereich der Primar- und Mittelschulen traten die Reformbemühungen neben den Koordinationsbestrebungen stärker in den Vordergrund. In der Frage der Schulkoordination überliess der Bundesrat den Kantonen weiterhin die Initiative. In seinem Bericht zum 1969 eingereichten Volksbegehren ersuchte er die eidgenössischen Räte um eine Fristverlängerung um ein Jahr [9]. Einerseits sollte den Kantonen die notwendige Zeit zur Lösung der Koordinationsfrage auf dem Konkordatsweg eingeräumt werden; anderseits erforderte eine Revision des Schulartikels (Art. 27) der Bundesverfassung, wie sie in parlamentarischen Vorstössen verlangt worden war, längerdauernde Abklärungen [10]. Es sollte insbesondere das Verhältnis von Bund und Kantonen im Bildungswesen neu überdacht werden. Dass eine solche Neukonzeption weit über den Inhalt der in der Initiative formulierten Vorschläge hinausführen könnte, wurde im Bericht nicht verschwiegen. Am 29. Oktober erzielten die Anhänger einer föderalistischen Lösung einen ersten Erfolg: die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren einigte sich endgültig über ein Schulkoordinationskonkordat. Die welsche Schweiz, die für 1972 die Verwirklichung der Ecole romande vorgesehen hat, feierte die Unterzeichnung des Konkordats als wichtigstes Ereignis im Schulwesen seit der Bundesgründung [11]. In der deutschen Schweiz, wo die Koordinationsbestrebungen weniger erfolgreich verliefen, klangen die Kommentare gedämpfter; indessen begrüssten weite Kreise das Konkordat als letzte Chance des Schulföderalismus [12]. Das Konkordat enthält die schon bekannten Postulate des einheitlichen Schuleintrittsalters, der obligatorischen Schulpflicht von neun Jahren und des Schuljahrbeginns zwischen Mitte August und Mitte Oktober. Diese Forderungen sollten bis zum Beginn des Schuljahres 1973/74 verwirklicht sein. Weiter wären zuhanden der Kantone Empfehlungen auszuarbeiten über Rahmenlehrpläne, gemeinsame Lehrmittel, Anerkennung von Examenabschlüssen und Diplomen Lind gleichwertige Lehrerausbildung. Endlich sieht der Konkordatstext vor, dass die Kantone unter sich und mit dem Bund bei der Bildungsplanung und -forschung sowie in der Schulstatistik zusammenzuarbeiten hätten [13]. Bis Jahresende traten die Kantone Appenzell Innerrhoden und Neuenburg dem Konkordat bei [14].
Die Bemühungen um eine Anpassung der kantonalen Schulgesetzgebung an die Konkordatsbestimmungen, die 1969 von vier Kantonen erfolgreich abgeschlossen worden waren, wurden in mehreren deutschsprachigen Kantonen von Rückschlägen überschattet. Insbesondere wirkte ernüchternd, dass die aargauischen Stimmbürger eine Schulgesetzrevision verwarfen, die die Festlegung des Schuljahrbeginns dem Grossen Rat übertragen hätte [15]. Nicht viel ermutigender war die abwartende Haltung der Kantone Basel-Stadt und Zürich, während die Parlamente in Basel-Landschaft, Bern und Graubünden abstimmungsreife Vorlagen verabschiedeten [16]. Die Glarner Landsgemeinde übertrug dem Landrat die Kompetenz zur Festlegung des Herbstschulbeginns, führte jedoch das obligatorische neunte Schuljahr für die Volksschule nicht ein [17]. Als Erfolge der Koordinationsbemühungen können die Gründung eines schweizerischen Schulbauzentrums und eine engere Zusammenarbeit von zwei Verlagen zur Herausgabe zeitgemässer Lehrmittel .angeführt werden [18].
Die Reformtätigkeit betraf insbesondere die Oberstufen der Volksschulen und die Gymnasien. Die Diskussion um die Ausgestaltung der Volksschuloberstufe als Gesamtschule wurde durch ein wissenschaftlich kontrolliertes Experiment bereichert: ein vom Psychologischen Institut der Universität Bern überwachter Versuch mit einer verhältnismässig kleinen Schule in Dulliken (SO) begegnete grossem Interesse [19]. In den Kantonen Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Luzern, Tessin und Zürich waren Expertengruppen mit der Vorbereitung weiterer Gesamtschulversuche beschäftigt [20].
Als Voraussetzung für eine Reform der Gymnasialstufe verlangte insbesondere der Verein Schweizerischer Gymnasiallehrer eine Revision der Maturitätsanerkennungsverordnung von 1968 [21]. Der Verordnung wurde von verschiedener Seite angelastet, dass sie die Anerkennung weiterer Gymnasialtypen musischer oder wirtschaftlicher Richtung ausschliesse [22]. Versuche mit neuen Lehrmethoden, mit einer Auflockerung des Schulklassengefüges und mit Wahlfächern wurden in Aarau, Bern, Genf und Zürich eingeleitet [23]. Zur Eröffnung einer musischen Abteilung schritt nach Münchenstein (BL) nun auch Genf [24].
Die schwelende Unruhe der Jugend machte sich in einzelnen Fällen an Mittelschulen bemerkbar. Hervorzuheben sind eine Relegation von Schülern der Kantonsschule St. Gallen wegen ihres sittlichen Verhaltens und eine militärfeindliche Aktion von Kantonsschülern vor der Kaserne in Aarau. Grundsätzliche Fragen warfen Diskussionen um das aus Dänemark importierte kleine rote Schülerbuch und eine Krise am Cycle d'Orientation in Genf auf. Dem kleinen roten Schülerbuch wurden in der Presse weniger die Kapitel über Sek und Rauschgift angelastet als vielmehr die Grundtendenz, den Schülern ein klassenkämpferisches Bewusstsein einzuimpfen und sie gegen die Schule als Zwangsanstalt eines autoritären Systems aufzuhetzen. Jedoch wurde an den Verfügungen von Bundesanwalt Walder, den Import des Büchleins zu unterbinden und den Verkauf an Minderjährige zu verbieten, aber auch an seinem Vorgehen gegen vier Bieler Lehrer, die das Verbot als Bevormundung ablehnten, nicht nur von Linkskreisen Anstoss genommen. In Genf ersuchten die radikale, die liberale und die christlichsoziale Fraktion den Grossen Rat, eine neutrale Stelle mit einer Untersuchung der Lehrmethoden am Cycle d'Orientation zu betrauen. Diese wurden als progressiv verurteilt und der Schule eine politische Indoktrination der Schüler vorgeworfen [25].
Eine der Ursachen der Krise in Genf war der Lehrermangel, der auch in anderen Regionen alarmierende Ausmasse angenommen hat. Die Erkenntnis, dass eine umfassende Schulreform eine intensivierte Lehreraus- und -weiterbildung und die Notwendigkeit einer Aufwertung des Lehrerberufs voraussetze, fand Ausdruck in der Einsetzung einer von der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren getragenen Studienkommission « Volksschullehrerbildung von morgen » [26]. Einen praktischen Schritt tat auf diesem Gebiet der Kanton Luzern, dessen neue Verordnung über die Lehrerfortbildung in verschiedenen Kantonen Interesse erregte. Der Bundesrat anerkannte die Schweizerische Zentralstelle für die Weiterbildung der Mittelschullehrer in Luzern als beitragsberechtigte Institution im Sinne. des Hochschulförderungsgesetzes [27].
 
[9] BBl, 1970, II, S. 755 ff. Die Fristverlängerung wurde von beiden Räten gutgeheissen. Vgl. NZ, 461, 7.10.70; Lib., 7, 8.10.70.
[10] Vgl. SPJ, 1969, S. 138, Anm. 62.
[11] Vgl. TdG, 254, 30.10.70; 255, 31.10./1.11.70; JdG, 254, 31.10./1.11.70; 259, 6.11.70.
[12] Vgl. NZZ, 517, 6.11.70; 520, 8.11.70; BN, 468, 6.11.70; Bund, 260, 6.11.70; 261, 8.11.70; NBZ, 255, 2.11.70; NZ, 529, 16.11.70.
[13] Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, Konkordat über die Schulkoordination (vervielf.). Die bundesrätliche Genehmigung des Konkordats erfolgte am 14. Dezember 1970. Vgl. NZZ, 583, 15.12.70.
[14] Vgl. NZZ, 571, 8.12.70; TLM, 351, 17.12.70.
[15] Vgl. SPJ, 1969, S. 139. Einzelne kantonale Schulgesetzrevisionen vgl. unten, S. 180 f. Im Aargau wurde die Schulgesetzrevision mit 29 705 Ja : 30 041 Nein abgelehnt. Alle Parteien ausser der BGB (Stimmfreigabe) hatten zustimmende Parolen ausgegeben. Vgl. Lb, 104, 8.5.70; NZZ, 209, 8.5.70; NZ, 208, 11.5.70; BN, 200, 12.5.70; Tw, 107, 11.5.70.
[16] Zu BS vgl. BN, 197, 15.5.70; NZ, 274, 19.6.70. Zu ZH vgl. NZZ, 169, 14.4.70; 258, 8.6.70; 574, 9.12.70; 16, 12.1.71; AZ, 290, 14.12.70; NZN, 296, 18.12.70. Zu BL vgl. BN, 382, 11.9.70; NZ, 432, 20.9.70; 435, 22.9.70. Zu BE vgl. Bund, 35, 12.2.70; 215, 15.9.70; 216, 16.9.70; 219, 20.9.70; 38, 16.2.71; NBZ, 41, 19.2.71. Zu GR vgl. Ostschw., 59, 12.3.70; NBüZ, 284, 30.9.70. Die Schulgesetzrevision wurde vom Volk am 7. März 1971 abgelehnt. Vgl. NZZ, 111, 8.3.71.
[17] Vgl. NZZ, 369, 7.8.70.
[18] Vgl. NZZ, 104, 4.3.70; NZ, 32, 21.1.70; Vat., 19, 21.1.70.
[19] Im Februar wurde eine interkantonale Studiengruppe « Gesamtschule» konstituiert. Vgl. NZZ, 71, 12.2.70. Zu Dulliken vgl. NZZ, 429, 15.9.70; 557, 30.11.70; NZ, 128, 19.3.70; JdG, 75, 1.4.70.
[20] Zu BL vgl. NZ, 451, 1.10.70; NZZ, 557, 30.11.70. Zu BS vgl. BN, 163, 21.4.70. Zum TI vgl. Bund, 161, 14.7.70; Gazzetta Ticinese, 292, 21.12.70. Zu ZH vgl. NZZ, 402, 31.8.70; Lb, 247, 23.10.70; NZN, 278, 27.11.70. Zu LU vgl. Vat., 200, 31.8.70; 266, 16.11.70; NZZ, 64, 9.2.70.
[21] Vgl. NZZ, 535, 17.11.70.
[22] Vgl. NZZ, 162, 9.4.70; 183, 22.4.70; 297, 30.6.70; 547, 24.11.70.
[23] Vgl. TdG, 199, 26.8.70; Bund, 120, 27.5.70; 126, 3.6.70; NZZ, 277, 18.6.70.
[24] Vgl JdG, 89, 18./19.4.70.
[25] Zu SG vgl. Ostschw., 4, 7.1.70; 6, 9.1.70; 7, 10.1.70; 19, 24.1.70; 29, 5.2.70; NZZ, 63, 8.2.70; 75, 15.2.70; 113, 9.3.70. Zu Aarau vgl. NZZ, 599, 24.12.70. Zum kleinen roten Schülerbuch (B. D. ANDERSEN, S. HANSEN, J. JENSEN, Das kleine rote Schülerbuch, 5. Aufl., Frankfurt 1970) vgl. NZ, 280, 23.6.70; 282, 24.6.70; 288, 28.6.70; JdG, 145, 25.6.70; Lib., 234, 14.7.70; Lb, 144, 25.6.70; AZ, 158, 13.7.70; 159, 14.7.70; 160, 15.7.70; 162, 17.7.70. Zu GE vgl. JdG, 110, 14.5.70; 117, 23./24.5.70; 134, 12.6.70; 142, 22.6.70; 297, 21.12.70; PS, 107, 15.5.70; TdG, 112, 15.5.70; 114, 16./17./18.5.70.
[26] Vgl. NZZ, 461, 5.10.70.
[27] Vgl. Vat., 37, 14:2.70; Mitteilungen der Zentralen Informationsstelle für Fragen des Schul- und Erziehungswesens in der Schweiz, 1970, Nr. 36, S. 22; Nr. 38, S. 20; Gesch.ber., 1970, S. 74.