Année politique Suisse 1971 : Politique sociale / Groupes sociaux
 
Frauen
Die globale Bewegung zur Emanzipation der Frau, die sich in der Schweiz vorab im Durchbruch zum Frauenstimmrecht manifestierte [34], beeinflusste auch sozialpolitische Entscheidungen. Nachdem Nationalrat H. Leuenberger (sp, ZH) schon 1957 die Ratifikation des Übereinkommens Nr. 100 der Internationalen Arbeitsorganisation — Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit — empfohlen hatte, das Postulat aber am Ständerat gescheitert war, nahm er in der Märzsession einen neuen Anlauf [35]. Die Grosse Kammer überwies das Postulat stillschweigend [36]. Bereits im Vorjahr war der Genfer Staatsrat mit einer Standesinitiative an die Bundesversammlung gelangt, die sich inhaltlich mit dem eben erwähnten Postulat deckte [37]. Der Bundesrat berücksichtigte beide Vorstösse in seiner im Oktober vorgelegten Botschaft, in der er den Räten die Ratifikation des Übereinkommens empfahl [38]. Der Zentralverband schweizerischer Arbeitgeber-Organisationen befürwortete nun diesen Schritt, nachdem er in der Vernehmlassung noch für eine Ablehnung optiert hatte [39].
Die Frau stand auch im Mittelpunkt eines weiteren sozialpolitischen Problemkomplexes, der die Gemüter heftig bewegte, weil er auch ethische und religiöse Dimensionen aufwies: die Liberalisierung der Schwangerschaftsunterbrechung [40]. Der Anstoss zur Auseinandersetzung kam aus Deutschland und Frankreich, wo die gleiche Frage einige Monate zuvor aufgerollt worden war. Ein Komitee, in welchem die beiden Neuenburger Politiker A. Sandoz (sp) und M. Favre (fdp) mitarbeiteten, lancierte Mitte Juni eine Initiative, welche die Bundesverfassung mit einem Artikel 65b18 folgenden Inhalts ergänzen sollte: « Wegen Schwangerschaftsunterbrechung darf keine Strafe ausgefällt werden » [41],
Die Befürworter wiesen auf das Ungenügen der bestehenden Normen hin, die zu sozialen Ungerechtigkeiten führten und an die man sich ohnehin nicht streng halte [42]. Die Gegner, die sich vor allem aus kirchlichen Kreisen rekrutierten, verurteilten das Vorgehen der Initianten, weil es das menschliche Leben missachte [43]. In der Westschweiz wurden Unterschriften für eine «Antiabtreibungs-Petition» gesammelt [44]. In Genf und in Freiburg stellten die Behörden der Unterschriftensammlung Schwierigkeiten in den Weg [45]. Trotzdem brachte das Komitee ohne ausdrückliche Unterstützung politischer oder wirtschaftlicher Verbände an die 60 000 Unterschriften ein [46]. Mittlerweile hatte der Grosse Rat des Kantons Neuenburg nach einer mehrstündigen Debatte eine Standesinitiative zum gleichen Problem beschlossen [47].
 
[34] Vgl. oben, S. 13 ff.
[35] Verhandl. B.vers., 1970, I/lI, S. 35; BBl, 1971, II, S. 1541 ff.; vgl. zu dieser Frage auch JEAN-FRANÇOIS BERNARD, Le Problème de l'égalité des salaires masculins et féminins en Suisse, Diss. nat. oec. Fribourg 1971.
[36] Sten. Bull. NR, 1971, S. 489 ff.; AZ, 127, 4.6.71; TA, 127, 4.6.71; TdG, 127, 4.6.71.
[37] PS, 62, 17.3.70; BBl, 1971, II, S. 1541 u. 1544.
[38] BBl, 1971, II, S. 1530 ff. ; NZZ (sda) 491, 21.10.71; NZZ, 546, 23.11.71; TA, 246, 21.10.71; 274, 23.11.71; TdG, 245, 21.10.71; 247, 23./24.10.71; AZ, 274, 23.11.71; VO, 297, 23.12.71.
[39] BBl, 1971, II, S. 1543; NZZ (sda), 297, 22.12.71.
[40] Vgl. hierzu u. a.: GdL, 129, 8.6.71; 133-135, 11.-14.6.71; TA, 145, 25.6.71; AZ, 153, 5.7.71; 226, 28.9.71; Bund, 205, 5.9.71; 223, 24.9.71; 276, 25.11.71; NZZ, 471, 10.10.71; 508, 1.11.71; JdG, 260-265, 8.-14.11.71; ROSALIE ROGGEN, « Ist Abtreiben ein Verbrechen? », in Team-Rotbuch, hrg. vom Team 67, Oberflachs 1971, S. 91 ff.
[41] TdG, 141, 21.6.71; TA, 141, 21.6.71; Lb. 158, 12.7.71.
[42] Vgl. u. a. Ww, 24, 18.6.71; SJ, 142, 23.6.71; BN, 290, 15.7.71; TdG, 215, 16.9.71; Lb, 162, 16.7.71; NZ, 370, 15.8.71; 407, 6.9.71; Tw, 208, 7.9.71; Bund, 246, 21.10.71; 252, 28.10.71.
[43] BN, 253, 22.6.71; Vat., 142, 23.6.71; NBZ, 148, 29.6.71; NZ, 407, 6.9.71; Bund, 238, 12.10.71 (Prof. E. Gruner). Ablehnung durch EVP des Kantons BE: Bund, 196, 24.8.71; durch Christlichsoziale Partei des Kantons GE (PICS): JdG, 228, 1.10.71; TdG, 231, 5.10.71; durch die CVP: NZN, 240, 14.10.71; Vat., 239, 14.10.71.
[44] TdG, 226, 29.9.71; NZZ (sda) 453, 29.9.71; Lib., 44, 20./21.11.71.
[45] Vgl. oben, S. 23.
[46] NZZ (sda), 563, 2.12.71; 606, 29.12.71; TdG, 281, 2.12.71; Lb, 283, 4.12.71; LS, 288, 16.12.71.
[47] BN, 145, 7.4.71; TdG, 292, 15.12.71; Bund, 295, 17.12.71; 298, 21.12.71; VO, 293, 18.12.71.