Année politique Suisse 1972 : Economie / Politique économique générale / Konjunkturpolitik
Der völlig ausgetrocknete Arbeitsmarkt und die im Schatten der überkonjunktur verstärkt auftretende Welle von Betriebsschliessungen und Unternehmungszusammenschlüssen machten fast allen Wirtschaftszweigen schwer zu schaffen
[56]. Im Bereich der
Uhrenindustrie konnte allerdings trotz verminderter Personalbestände ein weiterer Produktions- und Exportanstieg verzeichnet werden, was deutlich den Erfolg der in den Vorjahren eingeleiteten Rationalisierungsmassnahmen dokumentierte
[57]. Mit der Aufhebung des Uhrenstatuts erfolgte zudem ab 1. Januar 1972 die Rückkehr zu einer freien Wettbewerbsordnung
[58]. In Brüssel wurde ferner ein neues Uhrenabkommen zwischen der Schweiz und den Europäischen Gemeinschaften unterzeichnet, welches zusammen mit der Regelung über den Gebrauch der « Swiss Made »-Bezeichnung den Einbezug der Erzeugnisse der Uhrenindustrie in das Freihandelsabkommen ermöglichte. Aufgrund dieses neuen Abkommens werden, in Ergänzung des im Jahre 1967 abgeschlossenen Grundvertrages, die EWG-Zölle auf Uhren bis 1977 in fünf Etappen um je 20 % gesenkt werden
[59]. In der Maschinenindustrie kam es gesamthaft zu ausgesprochenen Stagnationstendenzen in der Produktion und im Eingang neuer Bestellungen. Der Arbeitsvorrat bildete sich sukzessive zurück und reichte Ende September nur noch aus, der Branche für ungefähr 7 Monate Beschäftigung zu sichern. Das Jahresende brachte allerdings wieder eine Zunahme der Bestellungen, was von den Betroffenen mit Erleichterung aufgenommen wurde
[60].
Die an der Zahl der Logiernächte in den Hotelbetrieben gemessene Wachstumsrate des
Fremdenverkehrs,die bereits 1971 wesentlich unter dem europäischen Durchschnitt geblieben war, verringerte sich weiter auf 1,3%
[61]. Der Personalmangel verursachte in Hotellerie und Gastgewerbe ausserordentliche Schwierigkeiten, die auch durch Rationalisierungsmassnahmen nicht gemildert werden konnten. Die massgebenden gastgewerblichen Organisationen beschlossen, ihre Zusammenarbeit zu intensivieren, und kamen überein, das System « Bedienungsgeld inbegriffen » obligatorisch zu erklären. Dieses Vorhaben soll durch einen allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsvertrag realisiert werden
[62]. Beim Detailhandel wirkte sich 1972 vor allem die steigende Massenkaufkraft aus. Der Konsum verlagerte sich dabei weiter vom Warensektor auf den Bereich der Dienstleistungen
[63]. Der strukturelle Konzentrationsprozess machte erneut Fortschritte. So hatten wiederum zahlreiche kleine Verkaufsstellen des Lebensmittel-Detailhandels dem Vormarsch der Supermärkte, Verbrauchermärkte und Discountläden zu weichen
[64]. In einer Motion forderte deshalb Nationalrat Fischer (fdp, BE) den Bundesrat auf, den Strukturwandel im Detailhandel genau zu untersuchen und konkrete Anträge zur Aufrechterhaltung einer dezentralisierten Warenversorgung zu formulieren
[65]. Die Schärfe des Wettbewerbs kam auch darin zum Ausdruck, dass die Firma Denner im Januar dazu überging, Vitamin-C-Brausetabletten gratis an ihre Kunden abzugeben. Dieser Schritt wurde unternommen, da die Grossfirma beim Verkauf von Vitamintabletten 1971 in zahlreichen Kantonen auf Schwierigkeiten gestossen war
[66]. Den wettbewerbsverfälschenden Folgen der Konzentrationsbewegungen widmete die Schweizerische Kartellkommission ihre Tätigkeit. Sie veröffentlichte 1972 Berichte über Untersuchungen des Annoncenmarktes, der Motorfahrzeughaftpflichtversicherung und der Gratisanzeiger. Eine Motion ihres Präsidenten Schürmann (cvp, SO), welche die Einbeziehung von Unternehmungszusammenschlüssen in das Kartellrecht verlangte, wurde zudem in beiden Räten oppositionslos überwiesen
[67].
Auf dem Gebiete des
Konsumentenschutzes kam es zu verschiedenen Verstössen, die für eine Verbesserung der Markttransparenz für den Verbraucher eintraten. So richteten die Stiftung für Konsumentenschutz und die Aktionsgemeinschaft der Arbeitnehmer und Konsumenten einerseits sowie der Schweizerische Konsumentenbund andererseits zwei inhaltlich verschiedene Vorschläge für einen Konsumentenschutzartikel der Bundesverfassung an die Eidg. Kommission für Konsumentenfragen
[68]. Im Nationalrat forderte der Freisinnige Schmitt (GE) in einem Postulat eine bessere Konsumenteninformation, was durch eine Erweiterung der Lebensmittelgesetzgebung und durch die Schaffung eines Instituts für Warenbeschriftung und -prüfung zu erreichen sei
[69]. Seitens der Stiftung für Konsumentenschutz ertönte der Ruf nach einem Ombudsmann für Konsumentenfragen
[70]. Der Westschweizer Konsumentinnenbund trat schliesslich für eine bessere wirtschaftliche Ausbildung in der Volksschule ein
[71]. Der Bundesrat beschloss seinerseits, den Staatsbeitrag an die Konsumentenorganisationen zu erhöhen, um dem Verbraucher eine Verbesserung der Markttransparenz durch vermehrte objektive Information zu ermöglichen
[72].
[56] Für überblicke vgl. Schweizerisches Wirtschaftsjahr 1972, hrsg. von der Schweizerischen Bankgesellschaft, Zürich 1972 ; Schweizerische Kreditanstalt, Bulletin, 78/1972, Dezember. Zu den Betriebsschliessungen vgl. NZ, 292, 22.7.72 ; 297, 26.7.72 ; zu den Unternehmungszusammenschlüssen vgl. Schweizerische Handelszeitung, 1, 4.1.73. Vgl. ferner unten, S. 116 f.
[57] Schweizerisches Wirtschaftsjahr 1972, hrsg. von der Schweizerischen Bankgesellschaft, Zürich 1972, S. 85 f.
[58] Vgl. SPJ, 1971, S. 71.
[59] Vgl. unten, S. 70 f.
[60] Schweizerische Kreditanstalt, Bulletin, 78/1972, Dezember, S. 16 ff.
[61] Die Volkswirtschaft, 46/1973, S. 109.
[62] Bund, 131, 7.6.72 ; NZ, 241, 7.6.72 ; NZZ, 261, 7.6.72.
[63] Mitteilung Nr. 218 der Kommission für Konjunkturfragen, Beilage zu Die Volkswirtschaft, 46/1973, Heft 1.
[64] Schweizerische Detaillisten-Zeitung, 6, 26.6.72 ; 11, 30.12.72.
[65] Verhandl. B.vers., IV/1972, S. 26 f. Eine gleichlautende Motion wurde im StR durch den Thurgauer Munz (fdp) eingereicht und überwiesen, vgl. dazu Amtl. Bull. StR, 1972, S. 813 ff.
[66] NZ, 6, 5.1.72 ; VO, 19, 24.1.72. Im Kanton Zug lehnte der Regierungsrat eine Beschwerde der Firma Denner ab, worauf die Firma in einer staatsrechtlichen Beschwerde an das Bundesgericht gelangte (NZZ, 56, 3.2.72). Im Kanton Zürich sprach hingegen das Obergericht der Denner AG das Recht zum freien Verkauf von Vitamin-C-Brausetabletten zu (Tat, 255, 31.10.72). Vgl. auch SPJ, 1971, S. 72 f. und S. 137.
[67] Veröffentlichungen der Schweizerischen Kartellkommission, 7/1972, Heft 1 (Annoncenmarkt), Heft 2 (Motorfahrzeughaftpflicht, vgl. unten, S. 97), Heft 3/4 (Gratisanzeiger). Zur Motion Schürmann vgl. Amtl. Bull. NR, 1972, S. 818 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1972, S. 603 f. Zur Wettbewerbspolitik vgl. ferner Wettbewerbspolitik in der Schweiz, Festgabe zum 80. Geburtstag von Fritz Marbach, hrsg. von Hugo Sieber und Egon Tuchtfeldt, Bern 1972.
[68] NZZ (sda), 29, 18.1.72 ; 478, 13.10.72 ; 562, 1.12.72.
[69] Amtl. Bull. NR. 1972, S. 473 ff.
[71] NZZ (sda), 231, 19.5.72.
[72] NZZ (sda), 382, 17.8.72.
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