Année politique Suisse 1972 : Chronique générale / Finances publiques
 
Einnahmen
Da die Einnahmen der öffentlichen Haushalte immer weniger ausreichen, um die rapid steigenden Ausgaben zu decken, wurde vom Bundesrat im Laufe der Sommersession offiziell bekanntgegeben, dass er die für die nächsten Jahre zu erwartenden Defizite durch neue Steuermassnahmen auszugleichen beabsichtige, und zwar vorerst durch die Ausschöpfung der 1971 revidierten Bundesfinanzordnung und später durch den Übergang zu einer ausbaufähigeren Umsatzteuer nach dem Mehrwertverfahren (kurz : Mehrwertsteuer) [9]. Im gleichen Sinne ersuchte die Finanzkommission des Nationalrates den Bundesrat mit einem Postulat, unverzüglich eine Vorlage für die Erhöhung der Warenumsatzsteuer und der direkten Bundessteuer um je 10 % vorzubereiten. Gleichzeitig sei die Ermässigung von 5 % bei der direkten Bundessteuer aufzuheben. Damit sollten die Kompetenzen, die das Volk den Behörden mit der Annahme der revidierten Bundesfinanzordnung eingeräumt hatte, bereits in vollem Ausmass genutzt werden [10]. Schon im Dezember hatte hierauf der Nationalrat über die angekün digten steuerlichen Massnahmen, die in der Botschaft des Bundesrates mit Vorschlägen zum Ausgleich der Folgen der kalten Progression bei der Steuer vom Einkommen natürlicher Personen ergänzt worden waren, zu befinden. Zwei Anträge auf Nichteintreten, die aus dem republikanischen Lager und den Reihen der PdA stammten, wurden deutlich abgelehnt. Eine Kommissionsminderheit, welche sich gegen eine Erhöhung der Wehrsteuersätze aussprach, vermochte sich ebenfalls nicht durchzusetzen. Die Vorlagen wurden schliesslich mit klarem Mehr angenommen [11]. Bundespräsident Celio betonte indessen, es handle sich bei der vorgesehenen Erhöhung der Steuersätze lediglich um eine Übergangslösung. Erst mit einer neu einzuführenden Mehrwertsteuer sei der Bund in der Lage, die so dringend benötigten Mehreinnahmen zu beschaffen, zumal durch das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und den Europäischen Gemeinschaften nach vollem Zollabbau 1977/78 mit Einnahmeausfällen von rund 1 Mia Fr. gerechnet werden müsse [12]. Der Chef des EFZD konnte versichern, dass die Vorbereitungsarbeiten für die Einführung einer schweizerischen Mehrwertsteuer schon weit gediehen seien. Er plädierte für eine mittlere Lösung dieser mehrphasigen Umsatzsteuer, welche eine neue Verfassungsgrundlage nötig mache [13]. Diese Bestrebungen fanden im Parlament Unterstützung, indem zwei Vorstösse überwiesen wurden, von denen der eine zugleich die Umwandlung der direkten Bundessteuer in eine Bundesausgleichssteuer forderte [14].
Der durch die Ausgabenexplosion stark erhöhte Finanzbedarf der öffentlichen Hand löste im Bereiche der Steuern aber auch ausserhalb des Parlamentes grosse Bewegungen aus. Zu erwähnen ist vor allem der am Parteitag der SPS gefasste Beschluss, eine Volksinitiative zur Umgestaltung des geltenden Steuersystems vorzubereiten. Die sog. „Reichtumssteuerinitiative“, die bereits am Parteitag 1968 beschlossen worden war, jedoch bis anhin nie zur Ausführung gelangte, sieht eine stärkere steuerliche Belastung von Einkommen und Vermögen ab 100 000 Fr. vor [15]. Auf kantonaler Ebene hatte zuvor die SP von Baselland, nachdem dort die befristete Einführung einer Ergänzungssteuer deutlich abgelehnt worden war, eine fast analoge Initiative für eine befristete Besteuerung von Einkommen über 80 000 Fr. lanciert. Es wurde ihr in der Abstimmung ein überraschender Erfolg zuteil [16]. Dieser Anfangserfolg ermunterte die Sozialdemokraten, auch in andern Kantonen das gleiche Ziel zu erreichen. So wurde im Zürcher Kantonsrat durch eine Motion ein entsprechendes Begehren anhängig gemacht [17]. Ähnliche Absichten konnten in den Kantonen Baselstadt, Aargau, Solothurn, St. Gallen, Bern und Genf festgestellt werden [18]. Eine weitere eidgenössische Steuerinitiative, die das Hauptgewicht auf die Entlastung der untern und eine stärkere Belastung der oberen Einkommensklassen legt, wurde in Bern lanciert. Dem Initiativkomitee unter Fritz Dutler gehören die bernischen Nationalräte Oehen (na), Breny (na) und Bächtold (ldu) an [19].
 
[9] Bundespräsident Celio im NR : Amtl. Bull. NR, 1972, S. 709 ; Bundespräsident Celio im StR : Amtl. Bull. StR, 1972, S. 422 f. Vgl. dazu auch als generelle Lagebeurteilung Hans Letsch, Öffentliche Finanzen und Finanzpolitik in der Schweiz, Bern 1972.
[10] Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1579 ; ferner NZZ (sda), 312, 7.7.72 ; NZ, 276, 8.7.72. Vgl. SPI, 1971, S. 85.
[11] Amtl. Bull. NR, 1972, S. 2150 ff. ; ferner GdL, 292, 13.12.72 ; NZZ, 582, 13.12.72 ; TA, 290, 13.12.72 ; Vat., 290, 13.12.72.
[12] Amtl. Bull. NR, 1972, S. 2174 ff.
[13] Amtl. Bull. NR, 1972, S. 720, S. 729 ff.
[14] Motion Eisenring (cvp, ZH) : Amtl. Bull. NR, 1972, S. 720, S. 729 ; Postulat Weber (fdp, UR) : Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1741 f. ; vgl. dazu auch Fritz Ebner, „Die Schweiz vor der Einführung einer Mehrwertsteuer ?“, in Schweizer Monatshefte, 52/1972-73, S. 180 ff.
[15] AZ, 231, 2.10.72. Vgl. SPJ, 1968, S. 68 u. 156 f.
[16] NZ, 181, 20.4.72 ; 186, 24.4.72 ; 220, 19.5.72 ; 259, 23.6.72 ; 274, 6.7.72 ; 322, 17.8.72 ; 367, 26.9.72 ; 451, 9.12.72. Vgl. auch unten, S. 149.
[17] Motion Schumacher (sp) ; vgl. dazu AZ, 292, 13.12.72.
[18] Basel-Stadt : NZZ, 589, 17.12.72 ; Aargau : NZZ (sda), 603, 27.12.72 ; Solothurn : NZZ, 589, 17.12.72 ; St. Gallen : Bund, 295, 15.12.72 ; Bern : TLM, 51, 20.2.72 ; Genf : TG, 268, 15.11.72.
[19] NZZ (sda), 327, 16.7.72 ; Tat, 166, 17.7.72.