Année politique Suisse 1972 : Infrastructure, aménagement, environnement / Energie
 
Energiepolitik
Mit dem zunehmenden Energieverbrauch stellen sich immer dringlicher zwei zentrale Probleme für die schweizerische Energiepolitik : einerseits geht es um die Möglichkeiten der künftigen Bedarfsdeckung und anderseits um das Verhältnis zwischen der Energieproduktion und der Erhaltung der natürlichen Lebensbedingungen. Diese Problematik gab Anlass zum Ruf nach einer Gesamtenergiekonzeption, der sich in mehreren parlamentarischen Vorstössen niederschlug. Auf der einen Seite warnte man vor der Versorgungslücke, die eine weitere Verzögerung des Baus neuer Atomkraftwerke werde entstehen lassen, und wünschte eine Zentralisierung des Bewilligungsverfahrens sowie ein Eingreifen der Bundesbehörden zur Überwindung der Widerstände [1]. Auf der anderen Seite verlangte man im Blick auf die Gefahren für den natürlichen Haushalt der Erde, wie sie an einem internationalen Symposion zum Thema « Energie, Mensch und Umwelt » hervorgehoben wurden, eine Berücksichtigung der ökologischen Aspekte in der Energiepolitik, eine Abkehr vom herkömmlichen Wachstumsdenken ; ja der St. Galler Unabhängige Jaeger forderte eine Stabilisierung der Energieproduktion und die Benützung der Energie als Hebel zur Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklung [2].
Der Bundesrat, der in den Richtlinien der Regierungspolitik nicht über seine früheren energiepolitischen Stellungnahmen hinausgegangen war, skizzierte bei der Beantwortung dieser Vorstösse einige Grundzüge einer Gesamtkonzeption und kündigte eine baldige Berichterstattung über die ganze Problematik an. Er wandte sich prinzipiell gegen eine Drosselung des Wirtschaftswachstums durch Verknappung des Energieangebots, da dieses Mittel zu grob sei und der Umweltschutz selber Energie benötige. Die vorzukehrenden Massnahmen ordnete er in drei Dringlichkeitsstufen ein : Kurzfristig sei vor allem der Luft- und Wasserverschmutzung durch Erdölprodukte Einhalt zu gebieten und die Umstellung auf sauberere Energiequellen zu fördern, mittelfristig solle namentlich der Energieverbrauch durch Rationalisierung der Raumheizung gebremst werden, und langfristig wären Fernheiznetze aufzubauen und durch stadtnahe Atomkraftwerke zu speisen, was allerdings bei den Elektrizitätsunternehmungen wie bei den Hauseigentümern eine Umstellung voraussetze. Der Bundesrat bestätigte, dass zur Vermeidung einer Versorgungslücke in der zweiten Hälfte der 70er Jahre unverzüglich mit dem Bau neuer Kernkraftwerke begonnen werden müsse. Er sprach sich auch für eine Verstärkung der Bundeskompetenzen im Bewilligungsverfahren aus, forderte aber die Elektrizitätswirtschaft auf, das Ihre zum Abbau der negativen Haltung in der Bevölkerung beizutragen [3]. Der Direktor des Eidg. Amtes für Energiewirtschaft, H. R. Siegrist, meinte sogar, dass die Bundesbehörden sich aus ihrem energiepolitischen Engagement, das sie in den Augen der Atomenergiegegner zu Vertretern der Kraftwerkinteressen habe werden lassen, in eine neutrale Schiedsrichterrolle zurückziehen sollten [4].
Unterlagen für die Diskussion über eine Gesamtenergiekonzeption boten neue Prognosen für die Energieversorgung bis zum Jahre 2000 [5]. Sowohl das Eidg. Amt für Energiewirtschaft wie die Arbeitsgruppe Kneschaurek nahm an, dass sich der gesamte Energiebedarf der Schweiz in den drei letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts ungefähr verdreifachen werde, wobei mit einer allmählichen Verminderung der jährlichen Zuwachsrate gerechnet wurde. Die Prognosen sahen eine Reduktion des Erdölanteils an der Energieversorgung von 80 auf weniger als 70 % vor, falls die Produktion von Atomenergie und die Einfuhr und Lagerung von Erdgas genügend entwickelt würden. Zur Deckung des Atomenergiebedarfs bis zur Jahrtausendwende hielt das Amt für Energiewirtschaft neben den drei bereits im Betrieb stehenden Werken noch weitere zehn im Ausmass der für Kaiseraugst projektierten Anlage für erforderlich [6] ; es wies auch darauf hin, dass die von solchen Werken erzeugte Energie in höherem Masse zur Verdrängung anderer Energieträger beitragen könne, wenn sie zur Fernheizung eingesetzt werde, was Standorte in der Nähe von Siedlungsagglomerationen bedinge.
Die Knappheit der Versorgung kam in der Bilanz des Elektrizitätssektors für das hydrographische Jahr 1971/72 zum Ausdruck. Infolge weiterer Verbrauchszunahme und ungünstiger Verhältnisse in der Wasserführung der Flüsse musste die Schweiz erstmals mehr elektrische Energie einführen, als sie ausführte [7]. Zur Sicherung künftiger Einfuhren vereinbarten drei schweizerische Elektrizitätsgesellschaften mit der Electricité de France eine Beteiligung an den Kosten von Bau und Betrieb eines Atomkraftwerks in Fessenheim im oberen Elsass [8].
 
[1] Vgl. Interpellationen Generali (fdp, TI) (Amtl. Bull. NR, 1972, S. 871 ff.) und Eisenring (cvp, ZH) (Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1838 ff.), ferner Postulate Reimann (cvp, AG) (Amtl. Bull. StR, 1972, S. 149 ff.) und Rothen (sp, SO) (Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1838 ff.). Postulat einer Gesamtenergiekonzeption auch in Arbeitsgruppe Perspektivstudien (F. Kneschaurek), Entwicklungsperspektiven der schweizerischen Volkswirtschaft bis zum Jahre 2000, Teil VI: Entwicklungsperspektiven der schweizerischen Energiewirtschaft, St. Gallen 1972, S. 112.
[2] Vgl. Postulate Letsch (fdp, AG) (Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1800 ff.) und Eggenberger (sp, SG) (Amtl. Bull. StR, 1972, S. 676 ff.), Motionen Rasser (Idu, AG) (Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1839 ff.; Überweisung als Postulat : ebenda, S. 2127) und Jaeger (Idu, SG) (Amtl. Bull. NR, 1972, S. 2119 ff.) sowie Interpellation Stadler (cvp, SG) (Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1838 ff.). Zum Symposion vgl. Energie, Mensch und Umwelt, Bern 1973 (Probleme im Gespräch, 7). Zu den Fragen der Umwelterhaltung vgl. unten, S. 107 f.
[3] Antworten zu den in Anm. 1 und 2 erwähnten Vorstössen, insbes. Amtl. Bull. NR, 1972, S. 2123 ff. Zu den Richtlinien vgl. BBI, 1972, I, Nr. 15, S. 1057 f., und oben, S. 19. Anstalten zum Aufbau grösserer Fernheiznetze trafen insbesondere Zürich (TA, 97, 26.4.72 ; 286, 7.12.72) und Lausanne (TG, 148, 27.6.72).
[4] Documenta, 1972, Nr. 5, S. 15 ff. Vgl. dazu Stellungnahmen aus der Energiewirtschaft : Fritz Wanner, „Schweizerische Energiedebatte“, in Schweizer Monatshefte, 52/1972-73, S. 632 ff., und Vortrag von Michael Kohn in wf, Dokumentations- und Pressedienst, 51/52, 18.12.72.
[5] „Der Energiebedarf der Schweiz, sein Anwachsen und seine Deckung“, mitgeteilt vom Eidg. Amt für Energiewirtschaft, in Bulletin des Schweizerischen elektrotechnischen Vereins, 63/1972, S. 357 ff. ; Arbeitsgruppe Perspektivstudien, Entwicklungsperspektiven der schweizerischen Energiewirtschaft (vgl. oben, Anm. 1). Vgl. auch SPJ, 1971, S. 96.
[6] Die im Betrieb stehenden Atomkraftwerke Beznau I, Beznau II und Mühleberg weisen zusammen eine Leistung von 1006 MW auf, für Kaiseraugst allein sind 850 MW vorgesehen.
[7] NZZ (sda), 565, 3.12.72. Das hydrographische Jahr dauert vom 1.10. bis zum 30.9.
[8] NZZ, 74, 14.2.72 ; TA, 55, 6.3.72. Es handelt sich um die Energie de l'Ouest-Suisse, die Bernischen Kraftwerke und die Nordostschweizerischen Kraftwerke.