Année politique Suisse 1972 : Politique sociale / Population et travail
 
Mitbestimmung
Die Forderung nach Mitbestimmung rückte 1972 noch stärker als in früheren Jahren in den Mittelpunkt politischer Diskussionen, wovon zahllose Publikationen zeugen [7]. Im Juli setzte das BIGA in Zusammenarbeit mit einem Marktforschungsinstitut eine Umfrage in Gang, die sich an 560 im Stichprobeverfahren ermittelte Unternehmen richtete [8]. Die Erhebung war eine Folge der 1971 zustandegekommenen Initiative der drei Gewerkschaftsorganisationen SGB, CNG und SVEA (Schweizerischer Verband evangelischer Arbeitnehmer) [9]. Aus deren Reihen wurde Kritik am behördlichen Vorgehen sowie an der Gestaltung des Fragebogens laut [10]. Mehrheitlich begrüsste man jedoch die Umfrage als notwendige Versachlichung einer bereits zu stark emotionalisierten Angelegenheit [11]. Da die Chefs der privatwirtschaftlichen Unternehmungen die Antwort nicht einfach ihren Personalstellen überlassen, sondern persönlich antworten wollten, verzögerte sich die Auswertung über Ende 1972 hinaus [12].
Anfangs September eröffnete das EVD das Vernehmlassungsverfahren zum gewerkschaftlichen Volksbegehren. Im Sinne einer Begriffsklärung wurde die Mitbestimmung als Oberbegriff hinsichtlich der Art der Beteiligung — direkte und indirekte, betriebliche und ausserbetriebliche —, der Funktionsebenen — Arbeitsplatz, Betrieb, Unternehmung — sowie des Geltungsbereichs — personelle, soziale, ökonomische Fragen — differenziert [13]. Die bis Ende 1972 eingegangenen Stellungnahmen wichen nicht erheblich von den bereits bekannten Positionen ab. Ausser den drei gewerkschaftlichen Initianten äusserten sich nur die Evangelische Volkspartei .und der Regierungsrat von Basel-Stadt positiv zur Vorlage [14]. Die übrigen Antworten lauteten grösstenteils ablehnend, wenn auch in gewissen Aspekten eine qualifizierte und punktuelle Mitbestimmung befürwortet wurde [15]. Die VSA vertrat ein eigenes Mitbestimmungskonzept, und die FDP strebte die Erarbeitung eines Gegenvorschlages an, was auch an ihrem Parteitag, welcher sich mit der Frage beschäftigte, wiederholt wurde [16]. Fast zwangsläufig griffen die Gewerkschaften das Thema an ihren Kongressen auf. Beim Schweizerischen Eisenbahnerverband (SEV), beim Verband der Arbeitnehmer in Handels-, Transport- und Lebensmittelbetrieben (VHTL) oder beim christlichen Verkehrspersonal (GCV) wurde eher eine herausfordernde Haltung eingenommen [17]. Der SGB fasste eine Resolution, in welcher er den Kampf um die Mitbestimmung als Grundrecht für den mündigen Arbeitnehmer in den Vordergrund stellte [18]. Er formulierte ferner einen Entwurf für ein Rahmengesetz, in welchem sowohl die betriebliche Mitbestimmung wie die Mitbestimmung in den Verwaltungsräten geregelt werden sollte. Das Echo von seiten der Arbeitgeber war durchwegs negativ [19]. Sie machten geltend, dass der Arbeiter an der Neuerung gar nicht interessiert sei, was den Ergebnissen einiger kleinerer Studien entsprechen würde [20].
 
[7] Charles Lattmann/Vera Ganz-Keppeler (Hg.), Mitbestimmung in der Unternehmung, Bern 1972 ; Die Schweiz, Nationales Jahrbuch der NHG, 44/1973 : Mitbestimmung im Beruf und im Betrieb ; NZ, 36, 23.1.72 ; TA, 77, 1.4.72 ; Schweizerische Handelszeitung, 4, 27.1.72 ; 26, 29.6.72 NZZ, 528, 11.11.72.
[8] NZZ (sda), 342, 25.7.72 ; 345, 26.7.72 ; TA, 171, 25.7.72 ; JdG, 173, 26.7.72 ; Tat, 175, 27.7.72.
[9] Vgl. SPJ, 1971, S. 128 ; ferner BBI, 1972, I, Nr. 15, S. 1069 (Richtlinien).
[10] Tw, 172, 25.7.72 ; 175, 28.7.72 ; NZ, 297, 26.7.72.
[11] Bund, 177, 31.7.72 ; SJ, 32, 6.8.72.
[12] TA, 269, 17.11.72. Ergebnisse der Umfrage in der kantonalen und kommunalen Verwaltung : Die Volkswirtschaft, 46/1973. S. 72 ff.
[13] NZZ, 417, 7.9.72 ; NZ, 346, 7.9.72 ; BN, 291, 7.9.72 ; JdG, 210, 8.9.72.
[14] SGB, CNG u. SVEA : Tw, 301, 22.12.72. EVP : NZZ, 598, 22.12.72 ; Evangelische Woche, 51/52, 22.12.72. BS : NZZ (sda), 605, 28.12.72.
[15] Gewerbekammer des SGV : NZZ (sda), 605, 28.12.72. SBV : NZZ (sda), 606, 29.12.72. Regierungsräte der Kantone ZH (TA, 304, 30.12.72), LU (Vat., 296, 20.12.72 ; NZ, 467, 23.12.72), SH (NZZ, sda, 598, 22.12.72), AR (NZZ, sda, 590, 18.12.72 ; AZ, 302, 22./23.12.72), SG (NZZ, sda, 604, 28.12.72) und GR (NBüZ, 396, 8.12.72). Ferner : VSA (NZZ, 594, 20.12.72).
[16] VSA : NZZ, 63, 7.2.72 ; 419, 8.9.72 (E. Schmid) ; AZ, 190, 15.8.72. Forderung nach einem Gegenvorschlag auch beim Kongress der Jungliberalen Bewegung : Bund, 237, 9.10.72. FDP : NZZ, 72, 12.2.72 : 244, 29.5.72 ; Bund, 36, 13.2.72 ; 123, 29.5.72.
[17] SEV : NZZ, 228, 18.5.72 ; Bund, 115, 18.5.72 ; VO, 114, 19.5.72. über seine Forderung nach vermehrter Mitbestimmung im Verwaltungsrat der SBB vgl. oben, S. 94. VHTL : Protokoll des 19. ordentlichen Verbandstages vorn 9.-11. Juni 1922, S. 87 ff. GCV : NZZ, 248, 31.5.72 ; NZN, 124, 31.5.72.
[18] Gewerkschaftliche Rundschau, 64/1972, S. 330 ff. ; Bund, 255, 30.10.72 ; 257, 1.11.72 ; Ldb, 262, 10.11.72.
[19] Vgl. Andreas Thommen, „Mitbestimmung in der Schweiz“, Zürich 1972 ; die Aufsätze von M. Bruggmann, W. Hess oder F. Luterbacher in Die Schweiz, Nationales Jahrbuch der NHG, op. cit. ; Alexandre Jetzer, « Zum Thema Mitbestimmung», in Schweizer Monatshefte, 51/1971-72, S. 800 ff. ; NZZ, 385, 19.8.72 (H. Allenspach) ; 406, 31.8.72 (StR F. Honegger) ; 422, 10.9.72 (K. Müller). Vgl. auch NZZ, 474, 11.10.72 ; 501, 26.10.72 (Replik des SGB und des CNG).
[20] Vgl. Hans Siegwart, „Die Mitbestimmung im Meinungsbild der Mitarbeiter“, in Lattmann/ Ganz, op. cit., S. 169 ff.; Thommen, op. cit. ; Wolfgang Winter, „Wenig Lust am Mitbestimmung“, in : Ww, 50, 13.12.72 ; NZZ, 422, 10.9.72 ; BN, 341, 4.11.72.