Année politique Suisse 1972 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Kranken- und Unfallversicherung
Zentrale Anliegen der Sozialpolitik betrafen auch 1972 das Gesundheitswesen. In den Richtlinien stellte der Bundesrat fest, dass sich auf diesem Gebiet grundlegende Wandlungen vollzögen, die auf eine längere Lebenserwartung und auf ein erhöhtes Gesundheitsbewusstsein zurückzuführen seien. Dadurch komme es zu einer starken Zunahme der finanziellen Aufwendungen, weshalb insbesondere die Kranken- und Unfallversicherung (KUVG) « dringend an die veränderten Verhältnisse angepasst werden » müsse [26]. Seit dem April befand sich das sogenannte Flimser Modell, das vor allem eine obligatorische Spital- und eine bundesrechtlich freiwillige Krankenpflegeversicherung stipulierte, im Vernehmlassungsverfahren [27]. Als dieses abgeschlossen wurde, präsentierte sich jedoch eine verworrene Situation. Der Vorschlag der Expertenkommission fand nirgends einhellig Anklang. Am ehesten näherten sich ihm in ihren Stellungnahmen die FDP, der LdU, die EVP, die VSA und der SGV an [28]. Auf Ablehnung stiess das Modell bei der CVP sowie bei den meisten Kantonsregierungen [29]. In erster Linie ging der Widerstand indes von der Ärzteschaft und den Krankenkassen aus. Sie schlugen Alternativmodelle vor. In vielem dem Flimser Modell verwandt war das vom Konkordat Schweizerischer Krankenkassen entwickelte Modell, das ein Vollobligatorium — mit Einschluss der Spitalversicherung — befürwortete [30]. Es wurde durch eine von verschiedenen Seiten kritisierte Petition unterstützt, welche die Rekordzahl von 599 000 Unterschriften aufwies [31]. Von der Grütli-Krankenkasse stammte ein weiterer Vorschlag, der ebenfalls dem Expertenmodell ähnelte, dessen Finanzierung indes nicht mit Lohnprozenten, sondern mit einer Konsumsteuer auf Alkohol und Tabak sowie einer Lohnsteuer erfolgen sollte [32]. Dagegen sahen das Projekt des Arztes Cadotsch sowie das « Modell 72 » einer « Aktionsgemeinschaft für eine wirklich soziale Krankenversicherung » vor allem einen sozialen Ausbau der bestehenden Institutionen ohne Obligatorien vor [33]. Wieder eine andere Variante wurde von Prof. P. Tschopp (GE) an einer vom Institut für Versicherungswirtschaft der Hochschule St. Gallen durchgeführten Tagung vorgestellt. Diese plant eine Deckung der Krankenheitsfolgen durch ein zweistufiges, mittels Lohnprozenten, Kantonssubventionen, Prämien und Franchisen finanziertes System für Klein- und Grossrisiken [34]. Der SGB hielt an seinem Kongress in einer Resolution an den Forderungen des 1970 zusammen mit der SP eingereichten Volksbegehrens fest [35]. Der Bundesrat erhielt vom Parlament für die Behandlung dieser Initiative eine Fristverlängerung [36]. Die beträchtlichen Divergenzen in der Frage der KUVG-Revision veranlassten ihn, mit den interessierten Verbänden und den Parteien eine Aussprache durchzuführen [37].
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P.E.
 
[26] BBI, 1972, II, Nr. 15, S. 1051. Vgl. auch die überwiesenen Postulate Jauslin (fdp, BL) betr. eines Delegierten für Gesundheitswesen (Amtl. Bull. StR, 1972, S. 186) und Brosi (svp, GR) betr. Gesundheitsfürsorge (Amtl. Bull. NR, 1972, S. 2035 ff.).
[27] SPJ, 1971, S. 135 f. ; NZZ, 181, 19.4.72 ; AZ, 91, 19.4.72.
[28] FDP : NZL, 302, 1.7.72 ; 409, 2.9.72. I.dU : Tat, 2011, 26.8.72. EVP : NZZ, 493, 22.10.72. VSA : NZZ, 274, 15.6.72 ; 539, 17.11.72. SGV : NZZ, 407, 1.9.72 ; Schweizerische Gewerbe-Zeitung, 41, 13.10.72.
[29] CVP : Vat., 209, 8.9.72 ; 71v, 218, 16.9.72. Ablehnende Kantone :ZH, LU, AR, Al, SG. GR, AG, TG. Eher befürwortende oder differenzierte Stellungnahmen : GL, ZG, SO, BS, BL, SH.
[30] NZ, 262, 25.6.72 ; 266, 29.6.72 ; NZZ, 292, 26.6.72 ; 359, 4.8.72 ; Vat., 146, 26.6.72 ; AZ, 185, 9.8.72.
[31] TLM, 175, 23.6.72 ; NZ, 308, 5.8.72 ; Bund, 184, 8.8.72 ; Schweizerische Gewerbe-Zeitung, 32, 11.8.72: TG, 217, 16./17.9.72: NZZ, 434, 17.9.72.
[32] Grütli, Zeitschrift der Schweiz. Grütli-Krankenversicherung, Nr. 4, Okt. 1972, S. 6 ff.; Vat., 175, 29.7.72.
[33] Modell Cadotsch : Vat., 163, 15.7.72. Modell 72 : Gesundheit, 46/1972, Nr. 3 ; Vat., 169, 22.7.72 ; NZZ, 380, 16.8.72.
[34] TA, 209, 8.9.72 ; NZZ, 422, 10.9.72 ; NZ, 352, 12.9.72.
[35] Tw, 255, 30.10.72 ; Gewerkschaftliche Rundschau, 64, 1972, S. 360 f. ; vgl. ferner : NZZ, 365, 8.8.72 ; SPJ, 1970, S. 142 f.
[36] NZZ, 80, 17.2.72 ; Amtl. Bull. NR, 1972, S. 323 ; Amtl. Bull. StR, 1972, S. 185.
[37] NZZ, 448, 26.9.72 ; vgl. ferner : TA, 302, 28.12.72.