Année politique Suisse 1972 : Enseignement, culture et médias / Enseignement et recherche
 
Allgemeine Bildungspolitik
In der allgemeinen Bildungspolitik durchlief 1972 die neue Verfassungsgrundlage für das Bildungswesen die parlamentarische Phase. Mit dem Rückzug der Schulkoordinationsinitiative wurde eine zentralistische Konkurrenzposition in der Volksabstimmung vermieden, was allerdings die Vorlage nicht zu retten vermochte.
Der Bundesrat bekannte sich in seinen Richtlinien zu einem gleichwertigen Ausbau des Bildungswesens nach allen Richtungen, wobei er nicht nur dem Bedarf an Ausgebildeten, sondern auch den Ausbildungswünschen der Jugend Rechnung zu tragen versprach. Er anerkannte die Bedeutung des von den Kantonen geschaffenen Schulkoordinationskonkordats, betonte aber seinen Willen, den Bund an der Ausarbeitung einer zeitgemässen Bildungskonzeption zu beteiligen [1]. In diesem Sinne hatte er schon zu Beginn des Jahres eine neue Fassung für die Revision der Bildungsartikel vorgelegt. Diese entsprach im wesentlichen dem Vorschlag der Expertenkommission, die 1971 daran gegangen war, das widersprüchliche Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens zum Vorentwurf zu verarbeiten [2].
Die Vorlage des Bundesrates für eine Neugestaltung der Art. 27 und 27 bis BV respektierte die Einwände der Kantone gegen vermehrte Bundeskompetenzen insofern, als sie der Forderung weiter Kreise nach einer Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes auch für die Volksschulstufe nicht nachgab. Die bedeutsamste Änderung gegenüber dem Vorentwurf bestand darin, dass die von den meisten Vernehmlassungen abgelehnte Zweckbestimmung fallen gelassen und statt dessen ein Recht auf eine der Eignung entsprechende Ausbildung aufgenommen wurde. Dieses Sozialrecht interpretierte die Botschaft des Bundesrates als ein umfassendes Diskriminierungsverbot, eine Verpflichtung des Staates zu hinreichender finanzieller Hilfe für alle unbemittelten Begabten, einen Anspruch der Behinderten auf adäquate Sonderausbildung und eine Verpflichtung des Staates zum Ausbau des Bildungswesens im Rahmen des Möglichen. Seine Schranken sollte es in der vorausgesetzten Eignung und in der Struktur des bestehenden Bildungssystems finden. Die Ausscheidung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen wurde im wesentlichen aus dem Vorentwurf übernommen : Bildungswesen als gemeinsame Aufgabe von Bund und Kantonen, Zuständigkeit der Kantone vor und während der obligatorischen Schulzeit unter Verpflichtung zur Koordination, Ermächtigung des Bundes zur Förderung der Koordinationsbestrebungen der Kantone, zur Festsetzung der obligatorischen Schuldauer sowie zur Grundsatzgesetzgebung für Mittelschulen, höhere Schulen, Erwachsenenbildung und Stipendien. Die bisher in Art 34 ter festgelegte Befugnis des Bundes zur Regelung der Berufsbildung wurde in den Kompetenzenartike] 27 bis übernommen. In der Öffentlichkeit rief die weitgehende Beibehaltung der kantonalen Schulhoheit Kritik an den Bildungsartikeln hervor ; die Aufnahme eines ersten Sozialrechts, des Rechts auf Ausbildung, in die Verfassung wurde vorerst nur vereinzelt abgelehnt [3].
Die Debatten im Parlament drehten sich insbesondere um die beiden Fragenkomplexe Sozialrecht und Kompetenzenausscheidung zwischen Bund und Kantonen [4]. Im Ständerat, der die Vorlage zuerst behandelte, vermochte ein Antrag Munz (fdp, TG) auf Weglassung des Sozialrechts nicht durchzudringen ; er unterlag mit 26:10 Stimmen. Im Nationalrat wurde die Aufnahme eines Sozialrechts einzig von den Republikanern abgelehnt, dagegen war die Formulierung kontrovers, da die Kommissionsmehrheit sich für ein Recht auf « Bildung » ausgesprochen hatte und damit bei den Fraktionen der SP, der CVP und des Landesrings Unterstützung fand [5]. Obwohl eine präzise Abgrenzung der Begriffe Bildung und Ausbildung nicht gelang, sprach sich der Rat mit 82:81 Stimmen für das Recht auf « Bildung » aus. Der Ständerat schloss sich bei der Bereinigung der Differenzen dieser Fassung mit einer Mehrheit von 24:15 an ; sein Nachgeben wurde durch drei juristische Gutachten [6] erleichtert, die in den Fragen der Klagbarkeit und der konkreten Auswirkungen des Sozialrechts zum Schluss kamen, dass die politisch umstrittenen Begriffe « Bildung » und « Ausbildung » im wesentlichen gleichwertig seien.
An der Kompetenzenausscheidung brachte der Ständerat im März einzelne Korrekturen an, um dem Bund einen gewissen Einfluss auf die Koordinationstätigkeit der Kantone im Bereich der obligatorischen Schulzeit zu sichern. Sie vermochten indessen das verantwortliche Komitee nicht zu einem Rückzug der Schulkoordinationsinitiative zu bewegen [7]. Als der Nationalrat im Juni die Beratung aufnahm, hatten sich die Stimmbürger Berns und Zürichs gegen den Herbstschulbeginn ausgesprochen, so dass das Koordinationskonkordat, das bis dahin als notwendige Ergänzung der Bildungsartikel vorausgesetzt worden war, gefährdet erschien [8]. Die Volkskammer verstärkte deshalb die zentralistische Komponente noch etwas mehr. Zwar scheiterte ein Antrag, dem Bund die Grundsatzgesetzgebung auch für die Stufe der obligatorischen Schulzeit zu übertragen, insbesondere am Widerstand aus der Westschweiz. Doch wurde dem Bund das Recht zuerkannt, selber Vorschriften über die Koordination zu erlassen. Mit dieser Verschärfung konnte sich das Initiativkomitee zufrieden geben, und so wurde mit seinem Einverständnis die Initiative, welche die Form einer allgemeinen Anregung aufwies, angenommen und zugleich als erfüllt erklärt. Der Ständerat schloss sich dieser Lösung an [9].
Von zahlreichen Gremien, die sich mit Fragen des Bildungswesens zu befassen hatten, wurde immer wieder auf das Fehlen exakter Daten hingewiesen. Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren liess deshalb von einer Subkommission ein Projekt für eine schweizerische Schüler- und Lehrerstatistik ausarbeiten und ersuchte den Bundesrat, die Durchführung der erforderlichen statistischen Erhebungen dem Eidg. Statistischen Amt zu übertragen. Im Herbst lag dem Parlament ein Entwurf für ein entsprechendes Bundesgesetz vor [10].
 
[1] BBl, 1972, I, Nr. 15, S. 1045 f. Vgl. oben, S. 19.
[2] BBI, 1972, I, Nr. 6, S. 375 ff. ; vgl. SPJ, 1971, S. 138 f.
[3] Gegen kantonale Schulhoheit : Berner Student, 3, 25.1.72 ; TA, 24, 29.1.72 ; NZ, 48, 30.1.72 AZ, 25, 31.1.72 ; 68, 20.3.72 ; NBZ, 26, 1.2.72; BN, 55, 5./6.2.72. Gegen Recht auf Ausbildung : BN, 44, 29./30.1.72.
[4] Zum Folgenden vgl. Amtl. Bull. StR, 1972, S. 111 ff., 573 ff., 721 ; Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1014 ff., 1517, 1853.
[5] Die Formulierung lautete : « Das Recht auf Bildung ist gewährleistet ».
[6] Gutachten von K. Eichenberger in Form eines Briefs an BR Tschudi vom 23.8.72; Th. Fleiner, Die konkreten Auswirkungen eines Rechts auf Bildung in der schweizerischen Bundesverfassung ; P. Saladin, Zur Formulierung des «Rechts auf Bildung» (alle vervielf.) ; vgl. NZZ, 487, 18.10.72.
[7] Zur Initiative vgl. SPJ, 1969, S. 138 ; 1970, S. 148 ; 1971, S. 141.
[8] Vgl. unten, S. 130.
[9] Eine Motion Hürlimann (cvp, ZG), welche die Institutionalisierung der Zusammenarbeit in einem Bildungsrat verlangte, wurde vom StR überwiesen : Amtl. Bull. StR, 1972, S. 614 ff. Die Bildungsartikel fanden in der Volksabstimmung vom 4. März 1973 zwar ein Volksmehr (507021 : 453 873), wurden jedoch von den Ständen knapp verworfen (10 ½ : 11 1/1) : NZ, 72, 5.3.73.
[10] BBl, 1972, II, Nr. 50, S. 1461 ff.