Année politique Suisse 1973 : Infrastructure, aménagement, environnement / Energie
Kernenergie
Das Tauziehen um den Bau von Kernkraftwerken nahm seinen Fortgang. Mangels besserer Alternativen setzten sich insbesondere Bundespräsident Bonvin und die Elektrizitätswirtschaft in verschiedenen Voten und Aktionen für die Errichtung weiterer Anlagen ein, deren Sicherheit nach menschlichem Ermessen gewährleistet sei
[9]. Gerade davon waren aber die Gegner nicht überzeugt, was zu Protesten gegen eine Verniedlichung der Gefahr von Strahlungsschäden führte. Ausserdem wurde gegen die neuen Kraftwerke eingewandt, dass die erforderlichen Kühltürme klimatische Veränderungen nach sich zögen und die Landschaft verunstalteten, dass die betroffene Bevölkerung kein Mitspracherecht besitze und dass der Ausbau der Energieproduktion überhaupt nicht wünschbar sei, da er das wirtschaftliche Wachstum fördere. Anonyme Kreise. liessen sich sogar zur Gewaltdrohung hinreissen
[10]. Angesichts der Tatsache, dass die Standortbewilligung für Kernkraftwerke bereits dem Bund zusteht, die lokalen und kantonalen Behörden aber in den harten Auseinandersetzungen um die Baubewilligungen oft überfordert sind, beantragte der Kanton Aargau in einer Standesinitiative die Zentralisierung des ganzen Bewilligungsverfahrens beim Bund, wobei den Kantonen ein gebührendes Mitspracherecht einzuräumen sei ; ausserdem wurde die Erstellung einer umfassenden Standortkonzeption verlangt. Die Regierungsräte beider Basel schlugen ihren Parlamenten einen ähnlich lautenden Vorstoss vor
[11]. Ein Postulat Keller (fdp, TG) forderte anderseits die Erstellung regionaler Anlagen, die mit ihren kleineren Dimensionen die Umwelt weniger beeinträchtigen würden. Einer solchen Konzeption opponierte allerdings Bundespräsident Bonvin, indem er einwandte, es fehle dazu sowohl an einer genügenden Zahl geeigneter Standorte als auch am nötigen Überwachungspersonal
[12].
Die erste der projektierten Anlagen, mit deren Bau trotz vielfachem Widerstand begonnen wurde, war diejenige von
Gösgen-Däniken (SO)
[13]. Die Gegner hatten sich in einer « Aktion Pro Niederamt » zusammengeschlossen, die eine Petition an den Bundesrat mit gegen 16 000 Unterschriften einreichte und sich nach dem Baubeginn im Herbst für die Einleitung eines Abberufungsverfahrens gegen den Solothumer Regierungsrat aussprach. Ausserdem verpflichtete eine Motion des Solothumer Groisen Rates die Regierung, sich beim EVED gegen die Auflage des Kühlturmsbaus einzusetzen
[14]. Der Kampf weitete sich auf die Grossstädte Zürich und Basel aus, deren Stimmbürger über eine finanzielle Beteiligung an der Kraftwerkgesellschaft zu entscheiden hatten. In Zürich, wo das städtische Elektrizitätswerk mit der Organisation eines Stromspartages für die Vorlage Stimmung gemacht hatte, gab die Sorge um die Bedarfsdeckung den Ausschlag für eine positive Stellungnahme. In Basel-Stadt hatte sich die Regierung, die den Bau eines nahegelegenen Kraftwerkes in Kaiseraugst bekämpfte, das Vorhaben im entfernteren Gösgen aber unterstützte, den Vorwurf der Inkonsequenz zugezogen ; im Abstimmungskampf, der erst Anfang 1974 stattfand, siegten die Atomkraftwerkgegner
[15]. Für das Projekt
Kaiseraugst (AG) wurde gegen Jahresende die Baubewilligung erteilt. Der Gemeinderat kam auf seinen ablehnenden Beschluss von 1972 zurück, da die aargauische Regierung ihn dazu angewiesen hatte und die Beschwerden gegen eine solche Anweisung vom Bundesgericht nicht gutgeheissen worden waren. Eine symbolische Besetzung des Baugeländes liess immerhin darauf schliessen, dass sich die Kraftwerkgegner noch nicht geschlagen gaben
[16]. Auch das Projekt Leibstadt (AG) erhielt die Baubewilligung. Die umliegenden Gemeinden reichten darauf Beschwerde ein, wurden aber vom Regierungsrat abgewiesen. Sie verzichteten auf einen Weiterzug, da sie sich nach den Erfahrungen von Kaiseraugst keinen Erfolg versprachen. Auch konnten sie vom Kraftwerkkonsortium erhebliche « Schmerzensgelder » herausschlagen
[17].
Gegen andere, noch weniger weit fortgeschrittene Projekte verdichtete sich die Gegnerschaft. Dasjenige von Verbois bei Genf wurde insbesondere von den Bürgern der betroffenen Gemeinde Russin bekämpft, die sich ihrerseits an den Chef des EVED wandten. In diesem Zusammenhang verlangte Nationalrat Ziegler (sp, GE) in einer Motion, dass Standortbewilligungen des Bundes für Kernkraftwerke von der Zustimmung der betroffenen Kantone und Gemeinden abhängig gemacht werden sollten. Dieser Vorstoss wurde jedoch vom Rat zurückgewiesen. Das Koordinationskomitee gegen das Projekt Verbois protestierte überdies gegen die Sendung von Werbespots für Atomemergie im Schweizer Fernsehen
[18]. Eine gegen das Projekt Graben (BE) gerichtete Petition des Naturschutzvereins Oberaargau wurde mit 12 000 Unterschriften der Bundeskanzlei übergeben
[19]. Gegen das Projekt Rüthi im St. Galler Rheintal wurden nun auch noch Stimmen aus Bayern laut, während man sich umgekehrt auf deutscher Seite erstaunt gab, über schweizerische Proteste gegen ein ins Gespräch gekommenes Riesenprojekt bei Schwörstadt (gegenüber Möhlin AG)
[20]. Die umstrittene Bewilligung einer Umzonung durch die Stimmbürger von Inwil (LU) erlaubte den Centralschweizerischen Kraftwerken mit der konkreten Planung für ihr Projekt zu beginnen
[21]. Sie gab aber auch den Anstoss zur Konstituierung einer allgemeinen überparteilichen, jedoch vorwiegend Politiker der Rechtsgruppen umfassenden Bewegung gegen Kernkraftwerke
[22].
Trotz diesem vielfältigen Widerstand sprach Bundespräsident Bonvin bei der Beantwortung verschiedener Kleiner Anfragen von einem ersten Durchbruch im Kernkraftwerkbau. Aufgrund der 1973 erteilten Bewilligungen können in Kaiseraugst, Leibstadt und Gösgen-Däniken drei Werke mit einer Gesamtleistung von 2700 Megawatt — fast das Dreifache der Leistung der schon im Betrieb stehenden Anlagen von Beznau (AG) und Mühleberg (BE) — gebaut werden ; bereits beginnt sich mit dem enormen Finanzbedarf dieser Bauvorhaben ein neuer Problemkreis abzuzeichnen
[23].
[9] Vgl. zur Sicherheit die Pressekonferenz des EVED vom 22.2.73 (Presse ab 23.2.73) und BR Bonvin (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1863 ff.) ; zur Notwendigkeit u. a. BR Bonvin (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1399 ; Bund, 192, 19.8.73 ; NZZ, sda, 427, 14.9.73), die Stellungnahme der Kommission für elektrische Anlagen (NZZ, sda,. 108, 63.73), den Zehnwerkebericht des VSE (Bulletin SEV, 64/1973, S. 319 ff.), und die Aufklärungsaktionen des VSE und der Schweizerischen Vereinigung für Atomenergie (SVA) (TA, 85, 11.4.73 ; 193, 22.8.73 ; 293, 17.12.73 ; JdG, 86, 11.4.73) ; ferner hierzu : Ldb, 5, 8.1.73 ; Bund, 191, 17.8.73 ; 219, 19.9.73 ; 220, 20.9.73 ; AZ, 208209, 7./8.9.73 ; NZZ, 476, 14.10.73.
[10] Gegnerschaft : World Wildlife Fund (WWF) (NZZ, 281, 21.6.73), dazu Replik der SVA (NZZ, 593, 21.12.73), ferner SGU und Institut suisse de la vie (NZ, 325, 18.10.73; TG, 244, 19.10.73), offener Brief von Wissenschaftern an BR Bonvin mit Replik des EVED (NZ, 87, 18.3.73), Prof. J. Rossel (NZ, 387, 11.12.73), NR Bächtold (Idu, BE) (NZZ, 103, 3.3.73). Gewaltdrohungen : BN, 249, 23.10.73 ; 251, 25.10.73 ; NZZ (sda), 525, 12.11.73. Vgl. ferner NZ, 25, 23.1.73 ; 229, 25.7.73 ; SHZ, 8, 22.2.73 ; NZZ, 436, 20.9.73 ; Ww, 45, 7.11.73.
[11] Vgl. zum Bewilligungsverfahren H. Huber, „Die Bewilligung von Kernkraftwerken“, in NZZ, 303, 4.7.73 ; U. Fischer, „Kompetenzordnung bei der Bewilligung von Kernkraftwerkens“, in Bulletin SEV, 64/1973, S. 785 ff. Standesinitiativen : NZZ, 147, 29.3.73 (AG) ; TA, 285, 7.12.73 (BS und BL).
[12] Amtl. Bull. NR, 1973, S. 569 ff.
[14] Zusammenschluss : NZZ, 45, 29.1.73. Petition : NZZ (sda), 189, 25.4.73 ; Solothurner Zeitung, 167, 20.7.73. Abberufungsverfahren : TA, 254, 1.11.73 ; 264, 13.11.73. Motion : Solothurner Zeitung, 276, 27.11.73. Vgl. ferner die Debatten im Solothumer Kantonsrat (Bund, 50, 1.3.73 ; Solothurner Zeitung, 271, 21.11.73 ; 276, 27.11.73) und Stellungnahmen aus Naturschutzkreisen (TA, 23, 29.1.73 ; 80, 5.4.73).
[15] Zürich : NZZ, 153, 2.4.73 ; (sda), 253, 4.6.73 ; ferner AZ, 212, 12.9.73 ; 221, 21122.9.73 ; NZZ, 498, 26.10.73 (Stromspartag) ; AZ, 213, 13.9.73 (Aufruf der c Aktion Pro Niederamt ») ; NZZ, 442, 24.9.73 (Abstimmung). Basel : NZZ (sda), 98, 28.2.73 ; 151, 31.3.73 ; NZ, 391, 15.12.73 ; 398, 21.12.73 ; ferner BN, 47, 25.2.74 ; 48, 26.2.74 ; NZ, 63, 25.2.74 (Abstimmung). Eine weitere Abstimmung in Bern warf keine Wellen und ergab eine deutliche Befürwortung der Beteiligung (Tw, 113, 18.5.73 ; Bund, 117, 21.5.73).
[16] Baubewilligung : NZ, 261, 22.8.73 ; 271, 31.8.73 ; 383, 8.12.73. Beschwerdeverfahren : NZZ, 275, 18.6.73 ; 451, 29.9.73 ; 572, 9.12.73 ; BN, 176, 31.7.73 ; 191, 17.8.73. Basel-Stadt : NZ, 189, 20.6.73 ; 198, 28.6.73 ; 205, 4.7.73. Besetzung : NZ, 403, 27.12.73. Diese Widerstände wurden oft als Verzögerungsmanöver kritisiert (Tat, 138, 16.6.73 ; NZZ, 310, 8.7.73).
[17] Beschwerden : NZZ (sda), 219, 14.5.73 ; (sda), 255, 5.6.73 ; (sda), 510, 2.11.73 ; (sda), 564, 4.12.73. Geldleistungen : NZ, 362, 19.11.73; TA, 299, 24.12.73.
[18] Russin : TG, 13, 17.1.73 ; 95, 25.4.73. Werbespots : JdG, 14, 18.1.73 ; Tw, 45, 23.2.73. Motion : Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1195 ff. Weitere gegnerische Stimmen : TG, 14, 18.1.73. (Naturschutz) ; JdG, 47, 26.2.73 (Vigilance) ; VO, 70, 24.3.73 ; 131, 9.6.73 (SP) ; TG, 163, 16.7.73 (Zoologischer Verein) ; ferner VO, 8, 12.1.73 ; TLM, 170, 19.6.73.
[19] NZZ (sda), 105, 5.3.73.
[20] Vgl. zu Rüthi eine Intervention im Bonner Parlament (TA, 18, 23.1.73) und Stellungnahmen des bayrischen Umweltministers (NZZ, 479, 16.10.73), ferner Ostschw., 111, 14.5.73 ; 212, 11.9.73 ; 213, 12.9.73. Vgl. zum Projekt Schwörstadt : Bund, 126, 1.6.73 ; NZ, 174, 6.6.73 ; ferner die Diskussion in den Kantonsparlamenten von BS (NZ, 197, 27.6.73) und AG (NZ, 189, 20.6.73) sowie die Reaktion in Deutschland (TA, 150, 2.7.73).
[21] Abstimmungskampf : Vat., 149, 30.6.73 ; 152, 4.7.73 ; 154, 155, 156, 157, 6.-10.7.73. Vgl. auch einen gegen die Abstimmung gerichteten Rekurs und die vom Bundesgericht abgewiesene Beschwerde (Vat., 161, 14.7.73 ; 248, 25.10.73 ; 61, 14.3.74).
[22] Vat., 249, 26.10.73 ; NZZ, 501, 29.10.73.
[23] BR Bonvin : Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1869 f. ; NZZ, 22, 15.1.74. Finanzierung : Ph. de Weck, „Kapitalmarkt und Finanzierung der Elektrizitätswirtschaft“, in Bulletin SEV, 64/1973, S. 1529 ff. ; Bund, 242, 16.10.73. Leistung : SPJ, 1972, S. 86, Anm. 6.
Copyright 2014 by Année politique suisse
Ce texte a été scanné à partir de la version papier et peut par conséquent contenir des erreurs.