Année politique Suisse 1973 : Politique sociale / Population et travail
 
Mitbestimmung
Die Auseinandersetzung um die Mitbestimmung stand weiterhin im Vordergrund der sozialpolitischen Diskussion. Das 1972 eingeleitete Vernehmlassungsverfahren zur Initiative der drei Gewerkschaftsverbände lief nur schleppend ab und bedurfte einer Fristverlängerung [17]. Weiterhin überwog eine ablehnende, wenn auch teilweise differenzierende Haltung zur Initiative [18]. Ausser der SP, der Evangelischen Volkspartei und dem Kanton Basel-Stadt kamen nur noch der Landesring, die Junge CVP und die Institute für Sozialethik der Universität Zürich und des Evangelischen Kirchenbundes zu positiven Stellungnahmen [19]. Die CVP postulierte in einem eigenen Vorschlag eine « angemessene » Mitbestimmung unter Wahrung der Einheitlichkeit in der Unternehmungsleitung, ohne direkte Beteiligung der Gewerkschaften und unter Ausschluss einer oft in die Initiative hineininterpretierten paritätischen Mitbestimmung. Sie wollte damit das Mitbestimmungsprinzip verwirklichen, ohne dabei die Wirksamkeit der bestehenden Wirtschaftsordnung aufs Spiel zu setzen [20]. Der Bundesrat entschloss sich anfangs Juni zur Ablehnung der Initiative, zugleich aber zur Ausarbeitung eines Gegenvorschlages [21]. Dazu bewogen ihn einerseits ein verbreitetes Verständnis für das Verlangen nach vermehrter Mitbestimmung und der vielfach geäusserte Wunsch nach einer Alternative, anderseits das Resultat der 1972 vom BIGA durchgeführten Untersuchung. Nach dieser hatten Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer in den Betrieben — wenn auch in unterschiedlichem Ausmass je nach Wirtschaftszweig und Region — schon weitherum Eingang gefunden [22]. Die Gewerkschaften begrüssten den Entschluss des Bundesrates [23]. Ende August wurde ein Entwurf veröffentlicht. Dieser begnügt sich wie der CVP-Vorschlag mit einer generellen Bundeskompetenz für die Mitbestimmung und behält die Funktionsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der Unternehmung vor ; er verzichtet jedoch auf die Nennung der Verwaltung und sieht auch die direkte Beteiligung der Gewerkschaften nicht vor [24]. Die Reaktionen waren überraschenderweise meist ablehnend. Die Arbeitgeber befürchteten immer noch zu grosse Eingriffe in die herrschende Ordnung, den Gewerkschaften dagegen versprach der Vorschlag zu wenig neue Rechte [25]. Einzig die CVP sah in ihm eine mögliche Diskussionsgrundlage [26].
Parallel zu diesem amtlichen Verfahren verlief ein sehr intensiver, von Arbeitgebern und Gewerkschaften getragener Sensibilisierungsprozess im Volke. In Vorträgen und Zeitungsartikeln, an Kongressen und Versammlungen wurden die beidseitigen Standpunkte dargelegt und mit entgegengesetzten Resultaten von Untersuchungen über die Meinung des Arbeitnehmers zur Mitbestimmung zu untermauern versucht [27]. Dazu gesellten sich weiterhin zahlreiche Publikationen [28]. Angesichts der Auseinandersetzung um einen Verfassungsartikel vereinbarten der Schweizerische Kaufmännische Verein (SKV) und der Schweizerische Werkmeisterverband mit dem Zentralverband schweizerischer Arbeitgeber-Organisationen und dem Schweizerischen Gewerbeverband eine nach Sachbereichen abgestufte Mitbestimmung durch Angestelltenvertretungen und Spezialkommissionen [29]. Ahnliche Abkommen kamen in verschiedenen Unternehmungen für die ganze Belegschaft zustande, während andere Firmen die finanzielle Mitbeteiligung ausbauten [30].
Weil die Mitbestimmung eine entsprechende Sachkenntnis voraussetzt, setzten sich Gewerkschaftskreise auch für einen bezahlten Bildungsurlaub ein. Während sie für dessen Einführung eine gesetzliche Regelung verlangten [31], empfahl der Bundesrat, der das Anliegen seinerseits begrüsste, den Weg über die Gesamtarbeitsverträge [32]. Von Arbeitgeberseite lehnte man jedoch eine solche Neuerung ab [33]. Aus Gewerkschaftskreisen wurde ausserdem auf die Gefahr von Repressalien gegen Vertreter der Arbeitnehmer hingewiesen, was den Ständerat bewog, ein Postulat zugunsten einer gesetzlichen Absicherung zu überweisen [34].
 
[17] Vgl. SPJ, 1971, S. 128 f. ; 1972, S. 117 f.
[18] EVD, Stellungnahmen der Kantone, Gemeinden, politischen Parteien und Wirtschaftsorganisationen zum Volksbegehren über die Mitbestimmung, Bern 1973 ; vgl. SPJ, 1972, S. 118.
[19] LdU : NZZ, 24, 16.1.73 ; Junge CVP : Ostschw., 50, 1.3.73 ; Institut für Sozialethik : Les Cahiers protestants, 1974, Nr. 1, S. 51 f.
[20] NZZ, 21, 15.1.73 ; 53, 2.2.73 ; Ostschw., 27, 2.2.73 ; Vat., 28, 3.2.73.
[21] NZZ, 255, 5.6.73 ; 258, 6.6.73 ; Tw, 129, 5.6.73 ; Vat., 129, 5.6.73.
[22] Die Volkswirtschaft, 46/1973, S. 3 ff. ; NZZ, 18, 12.1.73 ; NZ, 12, 12.1.73 ; 13, 13.1.73 ; Tw, 10, 13.1.73 ; 11, 15.1.73 ; Gewerkschaftliche Rundschau, 65/1973, S. 65 ff. ; Zeitdienst, 26/1973, S. 47.
[23] BN, 129, 5.6.73 ; NZ, 173, 5.6.73 ; Tw, 129, 5.6.73.
[24] BBl, 1973, II, Nr. 36, S. 237 ff. ; NZZ, 396 und 397, 28.8.73.
[25] Vorort: Bund, 201, 29.8.73 ; NZZ, 435, 20.9.73 ; Bankiervereinigung : GdL (sda), 202, 30.8.73 ; Bund, 202, 30.8.73 ; Arbeitgeberverband : wf, Dokumentations- und Pressedienst, 38, 17.9.73 ; Gewerbeverband : NZZ (sda), 402, 31.8.73 ; CNG : Vat., 210, 11.9.73 ; SVEA : NZ, 314, 8.10.73 ; VPOD : VO, 215, 18.9.73 ; vgl. ferner zusammenfassend : NZZ, 405, 2.9.73.
[26] Bund, 204, 2.9.73.
[27] Vgl. auf der Arbeitnehmerseite : E. Canonica (GdL, sda, 39, 16.2.73; Buchbinder Kartonager, 18, 30.8.73 ; Tw, 246, 20.10.73 ; AZ, 262, 9.11.73), W. Jucker („Les sociétés multinationales — un point de vue syndical“, in Revue économique et sociale, 31/1973, S. 69 ff.), G. Casetti (CMV-Zeitung, 18, 5.9.73), V. Schiwoff (gk, 32, 20.9.73) ; auf der Arbeitgeberseite H. Rüegg (NZZ, 40, 25.1.73), A. Brunner (TA, 59, 12.3.73), E. Junod, (NZ, 152, 12.5.73), J. E. Haefely (JdG, sda, 149, 29.6.73 ; SAZ, 63/1973, S. 481 ff.), G. Kaiser (SAZ, 68/1973, S. 401 f.) ; ferner verschiedene Tagungen (NZZ, 243, 28.5.73 ; AZ, 125, 30.5.73 ; JdG, 128, 4.6.73), Umfragen der Gesellschaft für Marktforschung (Ostschw., 124, 29.5.73 ; NZ, 167, 30.5.73) und der Uniprognosis (Arbeitnehmer und Gewerkschaft, Bern 1972).
[28] Vgl. neben dem schon im Vorjahr erwähnten NHG-Jahrbuch (Die Schweiz, Nationales Jahrbuch der NHG, 44/1973) insbesondere L. Schürmann, „Mitbestimmung ein Politikum oder ein echtes Bedürfnis?“, in Schweizer Rundschau, 72/1973, S. 253 ff. ; K. H. Friedmann, „Die paritätische Unternehmung“, in Schweizer Rundschau, 72/1973, S. 226 ff.; W. R. Schluep, «Privateigentum itnd Mitbestimmung», in Schweizer Rundschau, 72/1973, S. 386 ff.; A. Rich, Mitbestimmung in der Industrie, Zürich 1973 ; J. J. Sonderegger, Mitsprache und Mitbestimmung in Industrieunternehmen, Erlenbach-Zürich 1973 ; J. Magri, „Demokratie und Mitbestimmungsrecht“, in Gewerkschaftliche Rundschau, 65/1973, S. 185 ff., 363 ff. ; E. Rühli (NZZ, 571, 8.12.73 ; 575, 11.12.73).
[29] Bund, 21, 26.1.73 ; GdL, 21, 26.1.73 ; SAZ, 68/1973, S. 51 ff.
[30] So bei Ciba-Geigy (NZZ, sda, 293, 28.6.73), Omega (TG, 91, 18.4.73), Kunststoff AG Samen (NZ, 148. 13.5.73), Geilinger (Ldb, 158, 12.7.73 ; NZZ, 428, 15.9.73), Alusuisse (JdG, 172, 26.7.73), von Moos (Vat., 227, 1.10.73 ; 3, 5.1.74), Nestlé (TA, 130, 7.6.73) ; vgl. hierzu auch die SHZ-Umfrage (SHZ, 51/52, 20.12.73).
[31] AZ, 13, 17.1.73 ; CMV-Zeitung, 13, 27.6.73. Der Nationalrat lehnte ein entsprechendes Postulat Schmid (sp, SG) mit 34 Mitunterzeichnern aus der SP ab (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1342 ff.).
[32] NZZ (sda), 93, 26.2.73 ; Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1343 ff. Vgl. hierzu auch die 58. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz (VO, 83, 9.4.73 ; NZZ, 259, 7.6.73).
[33] Schweizerische Gewerbe-Zeitung, 10, 9.3.73 und Replik in Tw, 58, 10.3.73.
[34] Vgl. das Postulat Wenk (sp, BS) (Amtl. Bull. StR, 1973, S. 433 f.), ferner eine Diskussion im Nationalrat (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 63 f.) und gk, 8, 22.2.73.