Année politique Suisse 1973 : Politique sociale / Population et travail
 
Löhne
Eine Steigerung der Löhne war nach wie vor zu beobachten [42]. Die im Vorjahr beschlossene Gewährung eines 13. Monatslohnes für das Bundespersonal gab in der Privatwirtschaft weithin Anlass zur Umfunktionierung der bis dahin leistungsabhängigen Gratifikation in einen obligatorischen Lohnbestandteil [43]. Von Arbeitgeberseite wurde deshalb der Vorwurf erhoben, der öffentliche Arbeitgeber habe die « wage leadership n übernommen [44]. Die Personalverbände beanspruchten dagegen den vollen Teuerungsausgleich und weitere Reallohnverbesserungen im Ausmass der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätssteigerung und fanden bei Bundesrat Celio die Bereitschaft, zu entsprechenden Verhandlungen „die Türen offen zu halten“ [45].
Im Soge der im Oktober durch den Bundesrat beschlossenen Teuerungszulage von 8,5 % für das Bundespersonal vollzogen die meisten Kantone und Städte und weitgehend auch die Privatwirtschaft den üblichen Teuerungsausgleich [46]. Dieser wurde jedoch je länger je mehr in Frage gestellt : die Arbeitnehmer kritisierten die Linearität der Zuschläge (gleicher Prozentsatz für alle Lohnklassen), die Arbeitgeber die Berechnung des Index der Lebenskosten [47]. Die Solothurner Jungfreisinnigen verlangten in einer Petition an den Nationalrat, dass der Teuerungsausgleich auf einer neuen, weniger asozialen Basis berechnet werde [48]. In einzelnen Verwaltungen kam es wegen der Lohngestaltung zu Spannungen. Im Kanton Genf forderte das Spitalpersonal eine einheitliche Lohnerhöhung von monatlich 300 Fr. und beantwortete den ablehnenden Bescheid des Staatsrates mit einem kurzen Warnstreik [49]. Der Kanton Freiburg griff dagegen wegen der prekären Finanzlage zum Mittel der einheitlichen Erhöhung (monatlich 100 Fr.), konnte damit aber die Staatslöhne bei weitem nicht auf das schweizerische Mittel heben [50].
Die Verwirklichung des 1972 ratifizierten Übereinkommens Nr. 100 der Internationalen Arbeitsorganisation über die Lohngleichheit für Mann und Frau bei gleichwertiger Arbeit, für deren gesetzliche Verankerung Nationalrat Wüthrich (sp, BE) mit einem Postulat eintrat, wurde zu einem Streitpunkt zwischen den Sozialpartnern [51]. Es erwies sich als besonders schwierig, den Inhalt der Gleichheit genau zu definieren. Weil meist ein ungleiches Alter sowie unterschiedliche Ausbildung, Fähigkeiten und Familiengrössen vorliegen, eignen sich die groben statistischen Durchschnittswerte zur Lösung des Problems kaum [52]. Lohngleichheit für Lehrer und Lehrerinnen wurde hingegen durch neue Lehrerbesoldungsgesetze in den Kantonen Bern und Solothurn geschaffen [53].
 
[42] Vgl. Die Volkswirtschaft, 46/1973, S. 735 ff. ; 47/1974, S. 32 ; sowie oben, S. 56.
[43] NZZ (sda), 60, 6.2.73 ; Bund, 61, 14.3.73 ; vgl. SPJ, 1972, S. 118 f.
[44] BN, 154, 5.7.73 ; vgl. ferner zur Einführung des 13. Monatslohnes in GAV : gk, 2, 11.1.73 und in den Kantonen : unten, S. 153.
[45] So der Föderativverband (Bund, 249, 24.10.73 ; Ww, 40, 3.10.73 ; unten, S. 170), die VSA (NZZ, 158, 4.4.73), der VPOD (NZZ, 292, 27.6.73) sowie Bundesrat Celio (NZZ, sda, 433, 19.9.73).
[46] NZZ, 483, 18.10.73.
[47] Bund, 287, 7.12.73 ; Ldb, 287, 11.12.73 ; 301, 29.12.73 ; Ww, 50, 12.12.73 ; NZ, 391, 15.12.73.
[48] NZZ (sda), 586, 17.12.73.
[49] VO, 146, 28.6.73 ; TG, 235, 9.10.73 ; 238, 12.10.73 ; 273, 274, 275, 276 und 278, 22.-28.11.73.
[50] TLM, 5, 5.1.73 ; Bund, 54, 6.3.73 ; 87, 13.4.73 ; La Gruyère, 44, 14.4.73 ; Lib., 125, 2.6.73.
[51] Tw, 82, 7.4.73 ; 115, 16.5.73 ; vgl. zum Postulat : Amtl. Bull. NR, 19'73, S. 778 ff. ; ferner SPJ, 1972, S. 121.
[52] Vgl. SAZ, 69/1974, S. 1 f. ; NZZ (sda), 8, 7.1.73 ; 20, 14.1.73 ; Tat, 23, 29.1.73 ; TA, 91, 18.4.73 ; AZ, 186, 13.8.73.
[53] Vgl. unten, S. 153.