Année politique Suisse 1973 : Politique sociale / Assurances sociales
Berufliche Vorsorge
Gleicher Meinung waren auch die Arbeitgeberkreise, welche daran Anstoss nahmen, dass die SP, nachdem sie mitgeholfen hatte, den genannten Verfassungsartikel durchzubringen, nun auf ihrer Initiative beharrte ; von gewerkschaftlicher Seite wurde jedoch betont, dass man das Volksbegehren als Druckmittel für die Gestaltung des
Ausführungsgesetzes über die berufliche Altersvorsorge (zweite Säule) in Reserve behalten wolle
[16]. Für ein solches Gesetz führte das EDI eine Vernehmlassung durch. Dabei schieden sich die Meinungen an der Frage, ob eine bestimmte Leistung im Gesetz verankert und die Beiträge danach ausgerichtet werden sollten (Leistungsprimat) oder ob im Gegenteil die Beiträge gesetzlich festzulegen und die Leistungen diesen anzupassen seien (Beitragsprimat)
[17]. Für den Leistungsprimat traten die SP, die Gewerkschaften und mit Vorbehalten der Landesring ein, während die FDP und die SVP ihn wegen der starken finanziellen Belastung der Kleinbetriebe ablehnten ; das Gewerbe wollte zwar minimale Beiträge vorschreiben, forderte jedoch für Todesfall und Invalidität den Leistungsprimat
[18]. Eng damit verbunden ist auch die strittige Frage der Finanzierung ; die Arbeitnehmerseite vertrat eine umlagemässige Finanzierung — analog zur AHV —, Versicherungskreise optierten für das Kapitaldeckungsverfahren — ähnlich wie bei privaten Rentenversicherungen
[19]. Weitere Divergenzen entstanden in der Frage der Behandlung der Eintritts- oder Übergangsgeneration ; für deren möglichst umfassende Einbeziehung standen ein vom Gewerbe postulierter Solidaritätsbeitrag der Arbeitgeber und Arbeitnehmer und eine mit Bundesmitteln gespiesene Auffangkasse nach dem Vorschlag des Kantons St. Gallen im Vordergrund
[20]. ln der Diskussion wurde auch vermehrt auf das Problem der wirtschaftlichen Tragbarkeit der aus der zweiten Säule entstehenden enormen finanziellen Belastungen hingewiesen und besonders davor gewarnt, das Gesetz unter allen Umständen wie vorgesehen auf den 1. Januar 1975 in Kraft setzen zu wollen
[21]. Eine entsprechende Unsicherheit veranlasste verschiedene parlamentarische Vorstösse, welche hauptsächlich ein Barauszahlungsverbot bei Personalfürsorgekassen, eine bessere Koordination betrieblicher Vorsorgeeinrichtungen und eine fiskalische Förderung der dritten Säule, der Selbstvorsorge, forderten
[22]. Unter dem Eindruck einer Perspektivstudie über die Kosten der sozialen Sicherheit in der Schweiz und im Blick auf das umstrittene schwedische Beispiel beschäftigte man sich im übrigen ganz allgemein mit der Frage der Grenzen des Wohlfahrtstaates
[23].
[16] gk, 2, 11.1.73 ; 38, 29.10.73 ; wf, Dokumentations- und Pressedienst, 14, 9.4.73 ; vgl. ferner Erklärungen NR Canonicas (sp, ZH) (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 538 ff.) und StR Webers (sp, SO) (Amtl. Bull. StR, 1973, S. 517 ff.) anlässlich der parlamentarischen Diskussion zur Botschaft des BR.
[17] NZZ, 104, 4.3.73 ; 176, 15.4.73 ; 185, 22.4.73 ; 195, 29.4.73 ; 339, 25.7.73 ; Tw, 82, 7.4.73 ; NZ, 240, 4.8.73. .
[18] Vgl. zu SP und SGB NZZ, 180, 1.3.73, zum LdU Tat, 57, 9.3.73, zu FDP und SVP BZ, 74, 29.3.73, und als Zusammenfassung NZZ, 169, 11.4.73.
[19] Vgl. das Postulat Brunner (fdp, ZG) zur neutralen Abklärung bezüglich Umlage- oder Kapitaldeckungsverfahren (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 208 ff.) ; ferner : Tw, 76, 31.3.73 ; NBZ, 126, 18.4.73 ; Bund, 238, 11.10.73.
[20] Vgl. Gewerbliche Rundschau, 18/1973, S. 85 ff.; NZZ, 169, 11.4.73 ; ferner eine als Postulat überwiesene Motion Müller (sp, BE) betreffend Schaffung einer Auffangeinrichtung (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1301) ; SAZ, 68/1973, S. 241 f.
[21] So von A. Brunner (SHZ, 2, 3, 4, 5, 7, 8 und 9, 11.1.-1.3.73). Vgl. ferner : NZ, 19, 20 und 21, 18.-20.1.73 ; 240, 248 und 256, 4.-18.8.73 ; NZZ, 61, 7.2.73 ; 75, 15.2.73 ; Bund, 38, 15.2.73 ; 62, 15.3.73 ; BN, 232, 4.10.73 ; Vorwärts, 17, 26.4.73 ; TA, 135, 15.6.73 ; 240, 16.10.73 ; Ww, 46, 14.11.73 ; AZ, 300, 24.12.73.
[22] Barzahlungsverbot : gleichlautende Postulate Dillier (cvp, 0W) (Amtl. Bull. StR, 1973, S. 70 f.) und Rippstein (cvp, SO) (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 264 f.), Kleine Anfrage Villard (sp, BE) (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1416), zurückgezogene Motion Barchi (fdp, TI) (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 372 f.). Koordination : abgelehnte Motion Brunner (fdp, ZG) (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 797 ff.), vom NR überwiesene Motion Josi Meier (cvp, LU) (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1828 ff.). 3. Säule : von beiden Räten überwiesene Motionen Blatti (fdp, BE), Theus (svp, GR) und Frau Spreng (fdp, FR) (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 360 ff., 446 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1973, S. 169 ff., 601 ff.), Interpellation Gommer (cvp, TG) (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 360 ff.), sowie ferner : JdG, 25, 31.1.73 ; GdL, 243, 18.10.73 ; NBZ, 355, 7.11.73.
[23] Vgl. P. Binswanger, „Die Kosten der sozialen Sicherheit in der Schweiz — heute und in Zukunft“, in Wirtschaftspolitische Mitteilungen, 30/1974, Heft 1 und NZZ, 409, 4.9.73 ; 569, 7.12.73 ; die Kritik dazu : NBZ, 276, 5.9.73 ; VO, 205, 5.9.73 ; Tw, 215, 14.9.73 ; ferner SAZ, 68/1973, S. 783 ff. ; H. Letsch, „Der Ausbau der sozialen Sicherheit in der Schweiz — wirtschaftliche Aspekte“, in Veröffentlichungen der Aargauischen Handelskammer, 1973, Heft 14. Zu Schweden : Bund, 93, 22.4.73 ; 166, 19.7.73 oder R. Huntford, Wohlfahrtsdiktatur, Frankfurt/ Berlin/Wien 1973.
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