Année politique Suisse 1973 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Kranken- und Unfallversicherung
Auch die Reform eines weiteren Pfeilers unseres Sozialversicherungssystems, der Kranken- und Unfallversicherung, die Bundesrat Tschudi besonders am Herzen lag [24], kam nur langsam voran [25]. Der Bundesrat entschied sich Ende März für eine Verwerfung der 1970 eingereichten SP-Initiative, da er für ein umfassendes Bundesobligatorium angesichts der wirtschaftlichen Hochkonjunktur kein dringendes sozialpolitisches Bedürfnis annahm [26]. In seinem Gegenvorschlag beantragte er eine Beschränkung des Obligatoriums auf die Grossrisiken (insbesondere Heilanstaltskosten) und überliess normale Risiken weiterhin der fakultativen Versicherung. Dieser Vorschlag stiess jedoch, vorwiegend wegen der Schwierigkeit einer Definition des Begriffes Grossrisiko — man befürchtete insbesondere einen « Trend ins Spital » — auf breiten Widerstand. Da fanden sich Ärzte und Krankenkassen überraschend zu einem gemeinsamen Vorstoss. Beide Partner lehnten sowohl die Initiative wie den Gegenvorschlag des Bundesrates ab. Dieser erschien den Krankenkassen namentlich wegen der materiellen Aufspaltung der Krankenversicherung unannehmbar [27]. Indessen gelang unter der Vermittlung zweier Regierungsräte, des Sozialdemokraten Wyss (BS) und des Freisinnigen Hunziker (AG), eine Verständigung. Man hielt an der bisherigen Einheit der Krankenversicherung fest und verzichtete auf ein allgemeines Obligatorium. Für die Finanzierung wurden Prämien, Subventionen, Sondersteuern und ein prozentualer Lohnbeitrag aller Arbeitnehmer vorgesehen, wobei abgestufte Franchisen als Kostenbremse wirken sollten [28]. Kritische Stimmen qualifizierten diesen Vorschlag meist als verspätet, und SP-Kreise sahen darin einen « Salto mortale der Krankenkassen » [29]. Weil er aber die Prinzipien der Selbstverantwortung und des sozialen Ausgleichs zu verbinden suchte, übernahm ihn die Mehrheit der Kommission des Ständerates weitgehend für die Krankenversicherungsrevision [30].
Der Rat selber folgte im wesentlichen der Kommissionsmehrheit und lehnte die SP-Initiative ab ; mit der « Kann »-Formel übertrug er die Kompetenz zur Einführung eines Obligatoriums an den Bundesrat. Für die Finanzierung sah er nebst. den Prämien einen allgemeinen Beitrag auf dem Erwerbseinkommen vor ; er begrenzte ihn auf zwei Lohnprozente, die zur Hälfte dem Arbeitgeber belastet würden, und bestimmte ihn für eine Verbilligung der Heilanstaltskosten jeder Grössenordnung, und zwar zugunsten der gesamten Bevölkerung. Entgegen dem Bundesrat erklärte er auch die Krankengeld- und Unfallversicherung für die Arbeitnehmer nicht obligatorisch [31]. Der Nationalrat nahm seinerseits an dieser Fassung auf Antrag seiner Kommission nicht unbedeutende Änderungen vor [32] : er erhöhte gegen den Widerstand der Freisinnigen das Beitragsmaximum auf drei Lohnprozente, schloss dabei weitere Leistungen (insbesondere für Hauspflege, Mutterschaft und präventiv-medizinische Massnahmen) ein und stellte das vom Bundesrat vorgeschlagene Arbeitnehmerobligatorium in der Krankengeld- und Unfallversicherung wieder her. Er lehnte neben anderen Vorschlägen Anträge auf Finanzierung analog der AHV (Wüthrich, sp, BE) oder auf Finanzierung mit Sondersteuern (Zwygart, evp, BE und Letsch. fdp, AG) ab [33]. Das Ergebnis der Beratung wurde in bürgerlichen Kreisen meist mit einiger Befriedigung zur Kenntnis genommen. In sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Kommentaren kam jedoch ein gewisser Unmut zum Ausdruck, befürchtete man doch von der sich abzeichnenden « bürgerlichen » Lösung einen rapiden Anstieg der individuellen Krankenkassenprämien [34].
Im Schatten dieser Auseinandersetzungen auf Verfassungsebene nahm der Bundesrat verschiedene Vorstösse entgegen, die einesteils eine Erhöhung der Leistungen bei Mutterschaft und Trunksucht und andernteils im Sinne einer Überganglösung einen erleichterten Kassenbeitritt für ältere Leute postulierten [35]. Während ein Expertenvorschlag für die Totalrevision der Gesetzesbestimmungen über die Unfallversicherung, der besonders das Obligatorium für alle Arbeitnehmer vorsah, in die Vernehmlassung ging [36], wurden die geltenden Regelungen einer vorwiegend teuerungsbedingten Revision unterzogen. Der neue versicherte Höchstverdienst beträgt danach 150 Fr. im Tag (vorher 100 Fr.). Das Krankengeld bleibt unverändert bei 80 % des Lohnes ; ein Minderheitsantrag Grolimund (fdp, SO) im Nationalrat hatte 90 % verlangt. Ferner wurde das Überversicherungsverbot für Sozialversicherungsrenten auf die Nichtbetriebsunfallversicherung ausgedehnt [37].
top
O.Z.
 
[24] Bund, 101, 2.5.73 ; Tw, 101, 2.5.73.
[25] Vgl. BR Tschudi, „Warum Verfassungsartikel über das KUVG“, in Schweizerische Beamten-Zeitung, 8/9, 10.5.73 ; E. Kaiser, „Gesundheitssektor im Rahmen von Sozialversicherung und Volkswirtschaf“, in SAZ, 60/1973, S. 1 f., 24 f. ; E. Steinmann, Die Stellung der Kantone in der Krankenversicherung unter besonderer Berücksichtigung des Obligatoriums, Zürich 1973 POCH, Kapitalistisches Gesundheitswesen, Zürich 1973 (POCH-Schriften zum Klassenkampf, 2). Zur Diskussion vgl. : NZZ, 6, 5.1.73 ; 68, 11.2.73 ; 127, 17.3.73 ; 169, 11.4.73 ; 185, 22.4.73 343, 27.7.73 ; GdL, 28, 3./4.2.73 ; (sda), 113, 16.5.73 ; Tw, 34, 10.2.73 ; Bund, 34, 11.2.73 ; 98, 29.4.73 ; 288, 9.12.73 ; Ww, 29, 18.7.73 ; BN, 110, 12.5.73 ; 224, 25.9.73 ; Tat, 226, 228, 234, 240, 246, 252, 29.9.-30.10.73 ; 276, 27.11.73 ; Domaine public, 250, 22.11.73 ; 251, 29.11.73. Vgl. ferner SPl, 1972, S. 124 f.
[26] BBI, 1973, I, Nr. 14, S. 940 ff. ; NZZ, 145, 28.3.73 ; vgl. auch die Presse vom 28.-31.3.73.
[27] NZ, 112, 9.4.73 ; GdL, 130, 6.6.73.
[28] NZ, 131, 28.4.73 ; GdL (sda), 99, 30.4.73 ; NZZ, 201, 3.5.73 ; 209, 8.5.73 ; 227, 18.5.73.
[29] AZ, 115, 18./19.5.73 ; TA, 114, 18.5.73 ; BN, 116, 19.5.73 ; NZZ (sda), 241, 26.5.73 Vat., 127, 2.6.73 ; Tw, 7, 10.1.74.
[30] BN,.201, 29.8.73 ; NZZ (sda), 398 und 399, 29.8.73 ; (sda), 489, 4.9.73.
[31] Amtl. Bull. StR, 1973, S. 528 ff. ; NZZ, 451, 29.9.73.
[32] NZZ, 519, 8.11.73 ; 546, 23.11.73 ; TA, 270, 20.11.73.
[33] Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1427 ff.
[34] CMV-Zeitung, 21, 17.10.73 ; gk, 38, 29.10.73 ; AZ, 279, 29.11.73 ; NZ, 373, 29.11.73 ; TA, 278, 29.11.73 ; Tw, 280, 29.11.73 ; Vat., 277, 29.11.73 ; BN, 283, 1.12.73 ; BZ, 282, 1.12.73 ; Bund, 282, 2.12.73 ; La Gruyère, 142, 13.12.73.
[35] Vgl. einesteils die Postulate Trottmann (cvp, AG) und Sauser (evp, ZH) (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1510 ff.), andernteils die Postulate Gehler (svp, BE) und Leutenegger (svp, ZH) (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 203 ff., 1488 f.) sowie das Postulat der StR-Kommission (Amtl. Bull. StR, 1973, S. 556).
[36] GdL (sda), 263, 10./11.11.73 ; Vat., 261, 10.11.73.
[37] BBI, 1973, I, Nr. 24, S. 1573 ff. und II, Nr. 41, S. 570 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1973, S. 524 f., 576 ; Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1085 ff., 1277.