Année politique Suisse 1973 : Politique sociale / Groupes sociaux
Jugend
Das vielschichtige Thema der Jugendpolitik wurde, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Konsequenzen, vor welche die Jugendproblematik den Staat weiterhin stellt, von verschiedenen
Expertengruppen untersucht
[44]. Im Sommer legte die vom EDI 1971 eingesetzte, von Nationalrat Gut (fdp, ZH) präsidierte Studiengruppe für Fragen einer schweizerischen Jugendpolitik ihren Bericht vor
[45]. Er bietet im ersten Teil eine ausführliche und allgemein positiv aufgenommene Darstellung des Ist-Zustandes, die vor allem auf die gesellschaftlichen Aspekte des Jugendproblems und auf die möglichen Formen und Aufgaben einer Jugendpolitik eingeht. Zwei sich prinzipiell unterscheidende Modelle einer Jugendpolitik wurden entwickelt. Das erste ging davon aus, dass Jugendpolitik als Massnahmen, die die Jugend betreffen, schon immer bestanden habe und nunmehr im Sinne einer bewussten, systematischen Politik unter Beteiligung der Jugend an der Gestaltung von Staat und Gesellschaft weiter auszubauen sei. Das zweite Modell sah das Ziel einer Jugendpolitik darin, den 13- bis 25jährigen zu gestatten, möglichst selbständig zu entscheiden. Jugendpolitik in diesem Sinne müsste als ein Element einer grundlegenden Änderung der Gesellschaft betrachtet werden. Im zweiten Teil schlägt die Studiengruppe konkrete Massnahmen vor (Einsetzung eines Delegierten für Jugendfragen, periodische Jugendberichte an die Bundesversammlung, Intensivierung der Jugendforschung und verschiedene Förderungsmassnahmen).
Gegen diesen zweiten Teil richteten sich kritische Stimmen
[46]. Man wandte ein, dass die im ersten Teil erarbeiteten Resultate nicht konsequent in die Praxis umgesetzt würden. Während die Autoren einen grossen Teil der Jugendprobleme als Ausfluss einer gesamtgesellschaftlichen Problematik erklärten, begnügten sie sich mit den von ihnen selber als ungenügend taxierten therapeutischen Massnahmen « für, mit oder durch die Jugend ». Vertreter progressiver Richtung erklärten, dass zuviel von der Krise der Jugend und zuwenig von der Krise der Gesellschaft gesprochen werde. Die Verfasser des Jugendberichts konnten dieser Kritik entgegenhalten, dass ihre Vorschläge Rücksicht auf die schmalen verfassungsrechtlichen Grundlagen des Bundes und auf das politisch Realisierbare nehmen mussten.
Auf
kantonaler und lokaler Ebene befassten sich verschiedene parlamentarische Vorstösse mit den Problemen der Jugendpolitik
[47]. Die Diskussionen und Auseinandersetzungen um den Bau, die Leitung und den Unterhalt von Jugendzentren und Notschlafstellen nahmen ihren Fortgang
[48]. Während in Luzern und Solothurn unter guten Vorzeichen Jugendhäuser eröffnet wurden, führte in Zürich das vom Stadtrat vorgelegte 35-Millionen-Projekt eines Jugendhauses zu Kontroversen und ablehnenden Stellungnahmen, die kaum Hoffnung auf eine baldige Verwirklichung dieser Institution zulassen
[49]. Im Zusammenhang mit der 1974 in Kraft tretenden Teilrevision des Jugendstrafrechts und dem weiterhin akuten Drogenproblem standen die erzieherischen und therapeutischen Massnahmen im Vordergrund des Interesses
[50]. Dabei wurde betont, dass es von seiten der Kantone wie des Bundes grosser Anstrengungen bedürfe, uni die für den sinnvollen und gesetzeskonformen Vollzug des Jugendstrafrechts nötigen differenzierten und spezialisierten Heime zu schaffen
[51]. Konflikte in verschiedenen Heimen fanden in der Presse eine breite Darstellung
[52]. Die Ausweisung von Schweizer Jugendlichen aus der von der Lehrlingsorganisation Hydra gegründeten und von politischen und kirchlichen Persönlichkeiten unterstützten Pioniersiedlung Longo Mai in Südfrankreich machte weite Kreise auf einen Versuch aufmerksam, das Stadium der blossen Kontestation durch Selbstverantwortung und konstruktiven Idealismus zu überwinden
[53].
[44] Basel : BN, 53, 3.3.73 ; 166, 19.7.73 ; Genf : JdG, 27, 2.2.73 ; Neuenburg : TLM, 24, 24.1.73 ; 25, 25.1.73 ; 30, 30.1.73 ; VO, 98, 30.4.73 ; Waadt : Ww, 20, 16.5.73 ; Zürich: NZZ, 4, 4.1.73 ; NZ, 13, 13.1.73.
[45] Überlegungen und Vorschläge zu einer schweizerischen Jugendpolitik, Bericht der Studiengruppe des EDI für Fragen einer schweizerischen Jugendpolitik vom 16. Juli 1973.
[46] GdL, 212, 11.9.73 ; Ldb, 209, 11.9.73 ; TG, 211, 11.9.73 ; TLM, 254, 11.9.73 ; Ostschw., 215, 14.9.73 ; TA, 223, 26.9.73 ; Ww, 42, 17.10.73 ; NZ, 333, 25.10.73 ; Konzept, 5, 25.10.73 ; Stellungnahmen von Parteien : SVP : NZZ (sda), 429, 16.9.73 ; CVP : TA, 213, 14.9.73.
[47] Basel : NZ, 57, 20.2.73 ; 107, 5.4.73 ; 224, 21.7.73 ; Bern : Tw, 33, 9.2.73 ; Genf : IdG, 51, 2.3.73.
[48] So in Basel (TA, 113, 17.5.73 ; BN, 174, 28.7.73), Dübendorf (Tat, 78, 3.4.73 ; NZZ, 191, 26.4.73 ; AZ, 106, 8.5.73), Genf (TG, 45, 23.2.73), Kreuzlingen (NZZ, sda, 282, 21.6.73 ; Focus, 49, Febr. 1974) und Lugano (TA, 92, 19.4.73 ; NZZ, 170, 11.4.73). Vgl. ferner BN, 198, 204, 210, 25.8.-8.9.73.
[49] Luzern : Vat., 207, 7.9.73 ; 291, 15.12.73 ; Solothurn : NZ, 45, 10.2.73 ; TA, 124, 30.6.73 ; Zürich : TA, 21, 26.1.73 ; Tat, 57, 9.3.73 ; 179, 4.8.73 ; NZZ, 128, 18.3.73 ; 280, 20.6.73.
[50] Bund, 19, 58, 82, 91, 98, 110, 122, 133, 24.1.-10.6.73 ; TG, 81, 6.4.73 ; Lib., 247, 28.7.73 ; TLM, 263, 20.9.73 ; NZZ, 534, 16.11.73 ; Ostschw., 296, 18.12.73. Zur Revision des Jugendstrafrechts vgl. SPJ, 1971, S. 18, und oben, S. 16.
[51] NZZ, 394, 27.8.73 ; NZZ (sda), 588, 18.12.73.
[52] TA, 13, 17.1.73 ; NZZ, 27, 18.1.73 ; 42, 26.1.73 ; Ostschw., 26, 31.1.73 ; 30, 6.2.73 ; 33, 9.2.73 ; BN, 57, 8.3.73 ; NZ, 84, 16.3.73 ; AZ, 136, 30.5.73 ; 108, 10.5.73.
[53] TG, 236, 10.10.73 ; Bund, 259, 5.11.73 ; BN, 261, 6.11.73.
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