Année politique Suisse 1973 : Enseignement, culture et médias / Enseignement et recherche
Allgemeine Bildungspolitik
Mit der
Ablehnung der Bildungsartikel in der Volksabstimmung vom 4. März stand der Bezugsrahmen für die Bildungspolitik fest. Das Jahr 1973 war damit nicht zu dem von den Befürwortern erhofften Wendepunkt geworden, sondern zu einem Jahr der Besinnung und Ernüchterung, das eine aktive, auf einer Verfassungsgrundlage beruhende Bildungspolitik des Bundes wieder in die Ferne gerückt hat
[1].
Die Revision der seit 1902 unverändert gebliebenen Artikel 27 und 27 bis BV, die in ihrer Entwicklung und Bedeutung schon ausführlich dargestellt wurde
[2], hätte die Grundlagen zu einer Neuordnung des gesamten Bildungswesens von der Vorschulstufe bis zur Hochschule und zur Berufs- und Erwachsenenbildung gebracht. Mit dem « Recht auf Bildung », das erstmals vom Lausanner Parteitag der SP im Juni 1961 gefordert worden war, sollte das erste Sozialrecht in der Bundesverfassung verankert werden. In der von den Räten zur Abstimmung unterbreiteten Vorlage, die das Bildungswesen zur „gemeinsamen Aufgabe von Bund und Kantonen“ erklärte, wurden schulhoheitliche Kompetenzen auf den Bund übertragen und deren Grenzen genau umschrieben. Während die Ausbildung vor und während der obligatorischen Schulzeit weiterhin in der Zuständigkeit der Kantone blieb, erhielt der Bund die Kompetenz, Grundsätze aufzustellen für die Gestaltung und den Ausbau anderer Bildungsstufen (Mittelschule, höheres Bildungswesen, Erwachsenen- und Berufsbildung, ausserschulische Jugendbildung). Die neuen Bildungsartikel hätten auch die Koordination der 25 kantonalen Schulsysteme gesichert. Ihre Durchführung wurde, angesichts des von den Kantonen geschaffenen Schulkoordinationskonkordats
[3], zunächst zur Aufgabe der Kantone erklärt. Hätten diese Bemühungen fehlgeschlagen, so hätte der Bund Vorschriften über die Koordination erlassen können. Damit wäre, in Verbindung mit der Gewährung von Ausbildungsbeihilfen, besonders dem Postulat der Chancengleichheit Rechnung getragen worden, das beim nach wie vor bestehenden « Bildungsgefälle » zwischen den einzelnen Kantonen und der Benachteiligung einzelner Bevölkerungsgruppen noch nicht als verwirklicht betrachtet werden kann
[4].
Die Mehrzahl der Parteien und zahlreiche weitere Organisationen traten auf gesamtschweizerischer Ebene für die Annahme der Bildungsartikel ein. Die
Neinparole gaben die Republikaner, die Liberaldemokraten und mehrere, hauptsächlich freisinnige Kantonalparteien
[5] aus. Unter den wenigen ablehnenden Interessengruppen befanden sich die Waadtländer Arbeitgeber, ein Komitee aus. Lausanne
[6] und eine im Kanton Zürich beheimatete « Aktion demokratische Schulpolitik und für die Rechte des Kindes ». Die Nationale Aktion, die Progressiven Organisationen der Schweiz und einige weitere Kantonalparteien
[7] beschlossen Stimmfreigabe. Obwohl damit die befürwortenden Stellungnahmen deutlich überwogen, liess der lau und nur von wenigen Gruppen geführte Abstimmungskampf
[8] keine Prognosen zu. Während das befürwortende, von Nationalrat Müller-Marzohl (cvp, LU) präsidierte Komitee seine Möglichkeiten durch die fehlenden finanziellen Mittel eingeschränkt sah
[9], formierten sich die Gegner in regionalen Gruppierungen. Ihre Kritik richtete sich vor allem gegen die rechtlichen und finanziellen Konsequenzen des « Rechtes auf Bildung » und gegen die Koordinationsbefugnisse des Bundes, von denen man befürchtete, dass sie dem Bürger die Mitsprache an der Gestaltung des Schulwesens entziehen würden
[10]. In der Deutschschweiz führte besonders das vieldeutige Wort « Bildung », das im französischen und italienischen Gesetzestext mit « formation » und « istruzione » einfacher lautete, zu ablehnenden Stellungnahmen
[11]. Diese sahen im Gebrauch des Wortes eine Verwischung des klassischen Bildungsbegriffs, der auf die Entfaltung des ganzen Menschen abziele, eine Frucht der lebenslangen persönlichen Anstrengung sei und damit auch nicht vom Staat garantiert werden könne. Linksgerichtete Pressestimmen sahen in diesen Interpretationen einen Versuch rechtsbürgerlicher Kreise, ihre Bildungsprivilegien zu verteidigen, den weiteren Ausbau des Sozialstaates zu verhindern und den unteren Volksschichten lediglich die für das Funktionieren der Leistungsgesellschaft unerlässliche « Ausbildung » zu überlassen
[12]. Die Verfassungsvorlage ging dagegen nach Ansicht der Befürworter von einer doppelten Bedeutung des Wortes « Bildung » aus. Sie vertrat eine Bildungspolitik, die einerseits auf die möglichst harmonische Entwicklung der geistigen, charakterlichen und körperlichen Fähigkeiten des Menschen abzielt, anderseits aber auch dem Bedarf der Gesellschaft an Ausgebildeten Rechnung trägt, indem sie für den Erwerb bestimmter beruflicher Fähigkeiten sorgt
[13].
In der Abstimmung vom 4. März
[14]
scheiterten die Bildungsartikel bei annehmendem Volksmehr so knapp am Ständemehr, dass man füglich von einem Zufallsentscheid sprechen konnte. Hätten z. B. im Kanton Neuenburg 231 Stimmbürger anstelle eines Nein ein Ja in die Urne gelegt, wäre die Vorlage angenommen worden. Dieser negative Entscheid, der bei der zweitniedrigsten je gemessenen Stimmbeteiligung von 27,5 % zustande kam, gab Anlass zu grundsätzlichen Überlegungen
[15], die mehrheitlich Ernüchterung und Enttäuschung zum Ausdruck brachten. Die geringe Stimmbeteiligung, die wohl noch tiefer gewesen wäre, wenn nicht in mehreren Kantonen gleichzeitig kantonale Urnengänge stattgefunden hätten, wurde als Wandel des bildungspolitischen Klimas empfunden und als Zeichen dafür gewertet, dass die Revision der Schulartikel und damit wohl Bildungsfragen überhaupt für breite Kreise keine Frage erster Priorität darstellten. Demgegenüber wurde die Zurückhaltung der Befürworter kritisiert, die es unterlassen hätten, besonders in der für den Stinunbürger ungewohnten und deshalb Reflexwirkungen verursachenden Materie des neuen Sozialrechts aufklärend und begründend einzugreifen
[16]. Da im Abstimmungskampf die in anderen Fällen reichlich fliessenden Gelder von Wirtschaftskreisen und Gewerkschaften fehlten, wurde erneut der Ruf nach staatlicher Parteienfinanzierung laut
[17].
Die Ergebnisse der einzelnen Kantone liessen keine eindeutige Interpretation des negativen Entscheids zu. Die „Koalition“ der ablehnenden Stände sah die Westschweizerkantone Wallis, Waadt und Neuenburg in der eher ungewohnten Nachbarschaft von inner- und nordostschweizerischen Ständen (UR, SZ, OW, GL, AG, SH, TG, SG, AI und AR). Während man die Ablehnung in der Westschweiz in erster Linie aus der Sorge um die kulturelle Integrität und um die erreichten Erfolge in der Schulkoordination (Herbstschulbeginn) ableitete, erklärte man die negativen Entscheide in der Deutschschweiz vor allem aus zwei Hauptursachen : einerseits aus dem rein föderalistisch-kantonalen Denken, aus der Angst vor dem schon vor hundert Jahren bekämpften eidgenössischen « Schulvogt », anderseits aus den Bedenken gegen ein « Recht auf Bildung ». Das knappe Ergebnis wurde als Indiz dafür gewertet, dass eine neue, modifizierte Fassung gute Chancen hätte, in einigen Jahren von Volk und Ständen angenommen zu werden. Bundesrat Tschudi stellte das Abstimmungsresultat in die Reihe der anfänglich ebenfalls negativen Volksentscheide über das Frauenstimmrecht und die Altersversicherung und betonte, dass eine Revision bald wieder in Angriff genommen werden müsse
[18].
Diese Auffassung teilte in der Folge auch der Nationalrat, der im Oktober dem Bundesrat drei Motionen als Postulate überwies
[19]. Der Tessiner Barchi (fdp) hatte schon am Tag nach der Abstimmung vom Bundesrat « ohne Verzug » eine neue Vorlage gefordert. Der Luzerner Müller-Marzohl (cvp) legte in der Sommersession einen
Vorschlag für eine Neufassung der Bildungsartikel vor, die den gegen die Vorlage vom 4. März geäusserten Einwänden Rechnung zu tragen versucht und insbesondere die Schaffung eines aus Vertretern von Bund und Kantonen zusammengesetzten Bildungsrates vorsieht. Nationalrätin Uchtenhagen (sp, ZH) forderte in der Herbstsession ebenfalls einen neuen Entwurf. Mit der Forderung eines Bildungsrates wurde das Anliegen der im September 1972 vom Ständerat an den Bundesrat überwiesenen Motion Hürlimann (cvp, ZG) wieder aufgegriffen, die aufgrund des negativen Entscheides der Stände vom 4. März vom Nationalrat abgelehnt worden war. Dieser hatte seinerseits auf Antrag seiner Kommission für Wissenschaft und Forschung die Schaffung einer bildungspolitischen Expertenkommission mit beratender Funktion postuliert
[20].
[1] Ostschw., 116, 19.5.73 ; TA, 149, 30.6.73 ; 279, 30.11.73 ; BN, 168, 21.7.73 ; NZZ, 334, 22.7.73 ; AZ, 298/299, 21./22.12.73. Zur Sekundärliteratur über die Bildungspolitik vgl. Wissenschaftspolitik, 2/1973.
[2] Vgl. SPJ, 1971, S. 138 f. ; 1972, S. 127 f. ; NZZ, 32, 21.1.73 ; gk, 7, 15.2.73 ; 8, 22.2.73 ; TLM, 51, 20.2.73 ; 59, 28.2.73 ; GdL, 42, 20.2.73 ; 43, 21.2.73 ; Bund, 44. 22.2.73 ; TA, 49, 28.2.73 ; NBZ, 68, 28.2.73 ; Ostschw., 50, 13.73 ; NZZ, 101, 2.3.73 ; BBI, 1972, II, Nr. 41, S. 1027.
[3] NZZ, 74, 14.2.73 ; TA, 38, 15.2.73 ; Ostschw., 45, 23.2.73.
[4] BBI, 1972, I, Nr. 6, S. 379 f. ; Bund, 40, 18.2.73 ; AZ, 44, 22.2.73 ; NBZ, 71, 2.3.73.
[5] So die FDP in AG, GE, GL, GR, OW, SH, TG und VD ; die CVP in TG und VS ; die SVP in VD und die EVP in BS ; ferner die Vigilance in GE. Vgl. Bund, 40, 18.2.73 ; 52, 4.3.73.
[7] So die FDP von AR, NE und SG und die SVP von AG. Vgl. NZZ (sda), 85, 21.2.73 ; Bund, 52, 4.3.73.
[8] BN, 11, 13.1.73 ; TA, 28, 3.2.73 ; AZ, 39/40, 16./17.2.73 ; Ldb, 43, 21.2.73.
[9] TA, 42, 20.2.73 ; Vat., 49, 28.2.73.
[10] NZZ (sda), 23, 16.1.73 ; 36, 23.1.73 ; GdL, 21, 26.1.73 ; 49, 28.2.73 ; TA, 43, 21.2.13 ; Tat, 43, 21.2.73 ; TLM, 57, 27.2.73.
[11] Der Republikaner, 2, 8.2.73 ; Ldb, 33, 9.2.73 ; 52, 16.2.73 ; TG, 36, 14.2.73 ; NZZ, 85, 21.2.73 ; 96, 27.2.73 ; BN, 46, 23.2.73.
[12] VO, 36, 13.2.73 ; Tw, 38, 15.2.73 ; 47, 26.2.73 ; NZ, 77, 10.3.73 ; AZ, 53, 5.3.73.
[13] BBI, 1972, I, Nr. 15, S. 1045 f. ; NZZ, 58, 5.2.73 ; Bund, 35, 12.2.73 ; NZ, 62, 24.2.73.
[14] BBI, 1973, I, Nr. 19, S. 1195 f.
[15] Pressekommentare vom 5. und 6.3.73 ; Lib., 131, 9.3.73 ; BN, 59, 10.3.73 ; Tw, 58, 10.3.73 ; NZZ, 125, 16.3.73 ; Hans Hürlimann, „Föderative Bildungspolitik“ und Peter Saladin, „Holzwege des kooperativen Föderalismus“, in Festschrift Bundesrat H. P. Tschudi, Bern 1973 ; Richard Reich, „Ungereimtes rund um die Abstimmungsdemokratie“, in Schweizer Monatshefte, 53/1973-74, S. 3. Zur Stimmbeteiligung vgl. Erich Gruner in Bund, 55, 7.3.73, und SPJ, 1972, S. 61, Anm. 35.
[19] Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1363 ff.
[20] Vgl. SPJ, 1972, S. 129, Anm. 9 ; Amtl. Bull. NR, 1973, S. 549 ff.
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