Année politique Suisse 1973 : Enseignement, culture et médias / Enseignement et recherche
 
Grund- und Mittelschulen
Die Vorschulerziehung steht weiterhin im Schatten der höheren Bildungsstufen. Fachleute wiesen auf die grossen Lücken und die gravierenden Unterschiede in den Bildungsanstrengungen in diesem Bereich hin, der nach der Ablehnung der Bildungsartikel wieder ganz den kommunalen oder kantonalen Behörden oder der immer mehr in den Vordergrund rückenden Elterninitiative überlassen bleibt [21]. Der Kanton St. Gallen ging als erster der Schweiz an die Schaffung eines eigentlichen Kindergartengesetzes, das die Schulgemeinden verpflichtet, jedem Kind den Besuch eines Kindergartenjahres zu ermöglichen ; Glarus folgte seinem Beispiel [22].
Im Bereich der Primar- und Mittelschulen warf der negative Entscheid der Stände vom 4. März die Bemühungen um die Koordination des Schulbeginns endgültig zurück. Diese waren schon im Vorjahr mit der Ablehnung des Herbstschulbeginns durch die Kantone Zürich und Bern empfindlich getroffen worden. Mit der Annahme der Initiative für den Frühjahrsschulbeginn am 4. März kehrte sich Schwyz als einziger Kanton der Zentralschweiz — mitten im Langschuljahr 1972/73 — wieder vom Herbstschulbeginn ab [23]. Die Anstrengungen des für die Koordination massgeblichen Organs, der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), richteten sich daher vor allem auf die innere Koordination (Lehrpläne, gleichzeitiger Fächerbeginn, Lehrerausbildung, Lehrmittel, Hilfsmassnahmen für den Kanton wechselnde Schüler) [24]. Sichtbare Erfolge wurden in der Westschweiz erzielt. Man vereinbarte, auf den Beginn des Schuljahres 1974/75 in allen ersten Klassen der Primarschule einen gemeinsamen, auf der Mengenlehre basierenden Lehrplan für Mathematik einzuführen. Bis 1979 sollen alle weiteren Fächer der ersten Primarklasse koordiniert sein [25]. Mit dem von beiden Kammern verabschiedeten Bundesgesetz über schulstatistische Erhebungen, das eine jährliche Grosszählung mit über 1,3 Millionen Fragebogen vorsieht, wird sich der Bund wichtige Grundlagen für eine zukünftige Bildungspolitik schaffen können [26].
Die immer umfangreichere Diskussion über laufende oder geplante Schulversuche kreiste 1973 um einige markante Ereignisse. Die EDK unterbreitete im März den Expertenbericht « Mittelschule von morgen » den Kantonen und Verbänden zur Vernehmlassung [27]. Die Kommission, die sich aus namhaften Fachleuten aus der ganzen Schweiz zusammensetzte, forderte nach dreijähriger Arbeit eine Neugestaltung des schweizerischen Mittelschulwesens, unter dem alle Schulen vom fünften bis zum dreizehnten Schuljahr verstanden wurden. Nach der Vorschulund . Elementarstufe (1. bis 4. Schuljahr) sieht der Bericht eine Beobachtungsund Orientierungsstufe vor (5. bis 9. Schuljahr). Nach der obligatorischen Schulzeit soll der Unterricht in den drei vertikalen Strängen der Maturitäts-, Diplom- und Berufsbildungsstufe weitergeführt werden. Die Maturitätsstufe würde auf ein akademisches Studium vorbereiten, während die Diplomstufe eine gründliche Allgemeinbildung und berufskundliche Kenntnisse zu vermitteln hätte. Im Vemehmlassungsverfahren meldeten sich einstweilen mehrheitlich kritische Stimmen, welche meist an der Konzeption der Mittelstufe, die gesamtschulähnlichen Charakter besitzen würde, Anstoss nahmen und nicht zuletzt auch politisch motiviert waren [28].
Die Diskussionen um die Gesamtschulfrage zeigen Gegner und Befürworter meist in gegensätzlichen ideologischen Lagern. Die eher linksstehenden Befürworter werfen den traditionellen Schulen die Reproduktion und Verschärfung der bestehenden sozialen Ungleichheiten vor und sehen vor allem in der integrierten Gesamtschule ein Mittel zu einer vertieften persönlichen Entfaltung des Einzelnen, zur sozialen Integration und zur Gewährleistung einer echten Chancengleichheit. Die Gegner, die meist der politischen Rechten angehören, wenden sich gegen den Begabungsbegriff, der dem Schulmodell zugrunde liegt und den Menschen als wesentlich durch sein Milieu geprägt versteht. Sie befürchten von der Gesamtschule lediglich Nivellierung und wenden ein, dass die Auflösung der Klassengemeinschaft in Niveaukurse die angestrebte soziale Integration eben gerade verhindere [29]. Im Spannungsfeld der theoretischen Auseinandersetzungen planten oder realisierten mittlerweile fast alle grösseren Kantone Versuche mit verschiedenen Formen von Gesamtschulen [30]. Im Kanton Basel-Stadt wurde jedoch die „Neue Schule“, ein Grossversuch mit einem Gesamtschulmodell vom 5.-7. Schuljahr, in einer Volksabstimmung am 4. November deutlich verworfen [31]. Im Zusammenhang mit Schulversuchen fanden auch private, von Elternvereinen getragene Alternativschulen Beachtung [32].
In Freiburg forderte eine Petition von Schülern des Knabengymnasiums Saint-Michel die Aufhebung des Religionsobligatoriums und des konfessionellen Charakters der Schule. Der im Anschluss daran erfolgte Ausschluss von zwei Schülern — ein Fall, der am Jahresende noch nicht abgeschlossen war — erregte grosses Aufsehen [33]. Unterschiedliche Auffassungen über Lehrmethoden und Stoffauswahl führten verschiedenenorts zu Konflikten zwischen Lehrkräften und Aufsichtsorganen. Besonders der Sexualunterricht gab Anlass zu Auseinandersetzungen [34]. Die Emigrantenorganisation der « Federazione delle Colonie libere italiane » untersuchte die Situation der rund 280 000 ausländischen Kinder in der Schweiz und stellte beträchtliche Benachteiligungen dieser Minderheit fest [35].
 
[21] Tat, 100, 1.5.73 ; Schweiz. Lehrerzeitung, 19, 3.5.73 ; TA, 129, 6.6.73 ; Ostschw., 168, 21.7.73 ; NZZ, 475, 13.10.73 ; Infrarot, 12, Dez. 1973.
[22] NZZ (sda) 14, 10.1.73 ; Ostschw., 10, 12.1.73 ; 20, 25.1.73. Vgl. unten, S. 157.
[23] Vgl. SPJ, 1972, S. 130 ; NZZ, 135, 22.3.73 ; Vat., 70, 24.3.73 ; 142, 22.6.73 ; 195, 24.8.73.
[24] Eine Übersicht über die Tätigkeit der EDK geben die Mitteilungen der Schweizerischen Dokumentationsstelle für Schul- und Bildungsfragen, Hefte 45-47, Jan.-Dez. 73.
[25] TLM, 32, 1.2.73 ; GdL, 37, 14.2.73 ; Bund, 196, 23.8.73.
[26] Amtl. Bull. StR, 1973, S. 179 ; Amtl. Bull. NR, 1973, S. 531 und 979.
[27] Bildungspolitik, Jahrbuch der Schweizerischen Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren, 58/1972. Vgl. SPJ, 1971, S. 141.
[28] Bund, 50, 1.3.73 ; NZZ, 103, 3.3.73 ; 329, 19.7.73 ; 333, 21.7.73 ; 337, 24.7.73 ; 484, 18.10.73 ; Ldb, 200, 31.8.73. Positive Stimmen : NZZ, 311, 9.7.73 ; 7, 6.1.74 ; NBZ, 338, 25.10.73 ; Tw, 259, 5.11.73.
[29] Vgl. SPJ, 1971, S. 141 ; 1972, S. 131 ; BN, 184, 9.8.73 ; BN, 250, 252, 253, 256-258, 24.10.-2.11.73 ; NZZ, 500, 28.10.73 ; Elisabeth Michel-Alder, „ Wollen wir Gesamtschulen ? Und welche ?“, in Profil, 52/1973, S. 307 ff. ; AZ, 274/275, 23./24.11.73.
[30] So Bern (Bund, 130, 6.6.73), Aargau (BN, 184, 9.8.73 ; NZ, 342, 2.11.73 ; NZZ, 521, 9.11.73), Zürich (NZZ, 461, 5.10.73 ; TA, 231, 5.10.73), St. Gallen (NZZ, 505, 31.10.73), Waadt (GdL, 124, 29.5.73) und Genf (JdG, 43, 21.1.73). Vgl. ferner NZZ, 64, 8.2.73 ; NZ, 334, 26.10.73 ; SPJ, 1970, S. 149 ; 1971, S. 141 ; 1972, S. 131.
[31] NZ, 144, 10.5.73 ; 347, 6.11.73 ; BN, 260, 5.11.73 ; 269, 15.11.73.
[32] Ww, 13, 28.3.73 ; TA, 2, 4.1.73 ; 29, 5.2.73 ; 81, 6.4.73 ; 241, 17.10.73.
[33] TLM, 12, 12.1.73 ; Bund, 9, 12.1.73 ; 38, 15.2.73 ; Lib., 117, 21.2.73 ; 211, 15.6.73 ; 28, 2.11.73 ; VO, 83, 9.4.73 ; Tat, 287, 10.12.73.
[34] NZ, 49, 13.2.73 ; AZ, 171, 25.7.73 ; 184/185, 10./11.8.73 ; 207, 6.9.73 ; Ostschw., 152, 3.7.73 ; 168, 21.7.73 ; VO, 216, 19.9.73 ; TG, 238, 12.10.73.
[35] AZ, 26, 1.2.73 ; Bund, 26, 1.2.73 ; Tat, 28, 3.2.73.