Année politique Suisse 1974 : Economie / Politique économique générale / Konjunkturpolitik
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Konjunkturartikel
Die parlamentarische Beratung eines neuen Konjunkturartikels der Bundesverfassung konnte 1974 nach äusserst zähen Verhandlungen abgeschlossen werden. Nachdem sich die Ständekammer 1973 bereits eingehend mit der Vorlage befasst hatte [44], setzte sich nunmehr der Nationalrat mit dem zu schaffenden Verfassungsartikel auseinander. Die beratende Kommission schlug einerseits weitere Abschwächungen des ursprünglichen Konzepts vor, namentlich mit dem Antrag, die nötigenfalls von der Handels- und Gewerbefreiheit abweichenden Interventionsbefugnisse des Bundes ausschliesslich auf die « klassischen » Bereiche des Geld- und Kreditwesens, der öffentlichen Finanzen und der Aussenwirtschaft zu beschränken. Anderseits forderte sie in Einklang mit der Auffassung des Bundesrates und entgegen den Beschlüssen des Ständerates, dass die zur Stabilisierung der Konjunktur vorgesehenen befristeten Fiskalzuschläge neben den indirekten auch die direkten Steuern zu betreffen hätten [45]. Der' Nationalrat stimmte im Frühjahr diesen Änderungen nach bewegten Debatten zu. Klar verworfen wurde ein Antrag des Waadtländers Debétaz (fdp), der sich namentlich aus föderalistischen Beweggründen gegen den neuen Konjunkturartikel wandte und an dessen Stelle eine Ergänzung des Notrechtartikels 89 bis BV postulierte : danach sollte auf konjunkturpolitischem Gebiet nicht nur die Bundesversammlung, sondern für eine dreimonatige Frist auch der Bundesrat zum Erlass dringlicher Bundesbeschlüsse befugt sein ; erst für eine längere Geltungsdauer war das Erfordernis einer parlamentarischen Genehmigung vorgesehen [46]. Unterstützt von politischen Kreisen seines Heimatkantons, kündigte der abgewiesene Votant hierauf die Lancierung einer Volksinitiative an [47]. Abgelehnt wurde vom Nationalrat aber auch ein Antrag des PdA-Vertreters Muret (VD), der in den neuen Konjunkturartikel Bestimmungen über eine wirksame Machtbeschränkung der Kartelle und Trusts sowie eine Verstaatlichung der grossen Bank-, Industrie- und Handelsunternehmungen aufnehmen wollte [48]. Die PdA griff ihrerseits in der Folge die vom Rat abgewiesene Forderung in etwas abgeschwächter Form wieder auf und lancierte im Oktober eine Volksinitiative gegen Teuerung und Inflation [49].
Die endgültige textliche Fassung des neuen Konjunkturartikels, über die Volk und Stände 1975 befinden sollten, konnte im Herbst nach einem längeren Differenzbereinigungsverfahren in einem Kompromiss der beiden Kammern gefunden werden. So einigten sich die Räte für die Umschreibung der nötigenfalls von der Handels- und Gewerbefreiheit abweichenden konjunkturpolitischen Interventionskompetenzen des Bundes auf die Formel, dass befristete Massnahmen neben den « klassischen » auch andere Gebiete betreffen dürften. Daneben sollten auf indirekten wie auf direkten Steuern Fiskalzuschläge mit der zwingenden Pflicht zur Rückerstattung erhoben werden können [50].
 
[44] Vgl. SPJ, 1973, S. 58 f.
[45] wf, Dokumentations- und Pressedienst, 1/2, 14.1.74 ; 7, 18.2.74.
[46] Amtl. Bull. NR, 1974, S. 225 ff. und 301 ff. Der Antrag Debétaz war von Marcel Regamey, dem Führer der Ligue vaudoise, und von Prof. F. Schaller ausgearbeitet worden. Vgl. oben, Teil I, 1d (Rapports entre la Confédération et les cantons).
[47] TLM, 302, 29.10.74 ; NZZ (sda), 508, 4.12.74 ; La Nation, 967, 17.1.75.
[48] Amtl. Bull. NR, 1974, S. 240 f. und 313.
[49] VO, 230, 5.10.74 ; NZ, 317, 11.10.74. Vgl. auch unten, Teil III.
[50] Amtl. Bull. NR, 1974, S. 1153 ff. und 1553 ; Amtl. Bull. StR, 1974, S. 254 ff., 479 ff. und 543 ; verabschiedeter Text : BBI, 1974, II, Nr. 41, S. 884 f. Der Verfassungsartikel scheiterte in der Volksabstimmung vom 2.3.1975 am Ständemehr (NZZ, 51, 3.3.75).