Année politique Suisse 1974 : Politique sociale / Population et travail
 
Mitbestimmung
Im Vordergrund der anhaltenden Diskussion über die Mitbestimmung stand die parlamentarische Beratung der von drei Gewerkschaftsverbänden im Jahre 1971 eingereichten Initiative sowie des Gegenvorschlages des Bundesrates aus dem Vorjahr, der im wesentlichen nur die Funktionsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der Unternehmungen zur Bedingung machte [18]. Die vermittelnde Formulierung dieser Alternative, die bereits früher durch die Sozialpartner abgelehnt worden war, erregte nun auch Bedenken unter Staatsrechtslehrern [19]. Sie vermochte bereits in der vorberatenden Kommission des Nationalrates nicht durchzudringen, ebensowenig eine von CVP-Vertretern vorgeschlagene Variante mit explizitem Ausschluss der umstrittenen paritätischen Mitbestimmung. Vielmehr stellte sich eine Mehrheit hinter einen Antrag Auer (fdp, BL), welcher die Mitbestimmung auf den Arbeits- und Sozialbereich beschränken wollte und eine Mitsprache im Betrieb zur Förderung der persönlichen Entfaltung des Arbeitnehmers postulierté [20]. Dieser im Vergleich zu Initiative und Gegenvorschlag recht deutlichen Abgrenzung der Mitbestimmung stimmte man nur in Kreisen der Arbeitgeber, des Gewerbes sowie der FDP und der SVP zu [21]. Gewerkschaftskreise taxierten den Antrag als « Betriebsunfall » [22]. Nach einer langwierigen und materiell nicht sehr ergiebigen Debatte unterstützte nun aber überraschenderweise eine äusserst schwache Mehrheit des Rates den bundesrätlichen Vorschlag, obwohl sich in den Verhandlungen nur wenige Redner zu ihm bekannt hatten. Gleichzeitig wurde die Initiative mit 117 zu 46 Stimmen abgelehnt.
Dieses knappe Ergebnis veranlasste den Ständerat, den ganzen Fragenkomplex neu aufzurollen [23]. Seine vorberatende Kommission erarbeitete in der Folge zwei weitere Varianten für den Verfassungsartikel. Beide strebten eine Beschränkung der Mitbestimmungsrechte auf die Betriebsangehörigen an. Die von freisinniger Seite stammende und von einer knappen Mehrheit getragene Fassung postulierte zudem eine Einengung der Mitbestimmung auf den betrieblichen Bereich. Die von der Minderheit unterstützte Fassung aus den CVP-Reihen war offener formuliert, schloss aber die paritätische Mitbestimmung im unternehmerischen Bereiche aus [24]. Beide Varianten näherten sich den Vorstellungen von Arbeitgeber- und Gewerbekreisen an. Die Gewerkschaften jedoch lehnten sie ab [25]. Der Rat selbst verwarf die Initiative und gab für den Gegenvorschlag der Fassung der Kommissionsmehrheit den Vorzug, womit er zur Grossen Kammer eine Differenz schuf [26]. Im Bereinigungsverfahren setzte sich dann die restriktivere Formulierung durch. Im Nationalrat unterlag dabei der nun besonders von der SP und den Gewerkschaften unterstützte Bundesratsvorschlag knapp mit 90 zu 86 Stimmen. Auch ein neuer Kompromissantrag aus der CVP-Fraktion wurde abgelehnt [27]. Volk und Ständen werden somit zwei echte Alternativen vorgelegt : die weitgefasste und in die Mitbestimmung auch die Gewerkschaften einbeziehende Formulierung der Initiative und eine restriktive Fassung als Gegenvorschlag. Diese neue Ausgangslage wurde von freisinnigen und von Arbeitgeberkreisen begrüsst, während man sie auf seiten der CVP, der SP und der Gewerkschaften eher bedauerte [28]. Für die Initianten stand damit ein Rückzug ihres Begehrens nicht mehr zur Diskussion ; bis nach dem Entscheid im Ständerat hatten Anzeichen einer Kompromissbereitschaft bestanden [29]. Der Bundesrat beschloss, den Urnengang wegen verschiedener anstehender Referenden erst 1976, also nach den Nationalratswahlen vom Herbst 1975, durchzuführen [30]. Dies wurde von den Initianten begrüsst, obwohl gerade die Sozialdemokraten in der Sommersession noch zur Eile gedrängt hatten [31].
 
[18] Vgl. SPJ, 1970, S. 137 f. ; 1971, S. 128 f. ; 1972, S. 117 f. ; 1973, S. 114 f. Vgl. ferner G. Casetti et atü, Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Betrieb und Unternehmung, Bern 1972 (CNG) ; M. Fischer, Mitwirkung der Arbeitnehmer in Schweizer Banken, Grundlegung und Modell, Zürich 1974 ; E. Junod, über- und innerbetriebliche Mitbestimmung der Mitarbeiter — aus der Sicht der Unternehmung, Zürich 1974 (Vorort) ; Mitbestimmung, Wie steht es um die Mitbestimmung in der Schweiz ? Zürich 1974 (Wirtschaftsförderung) ; ausserdem : Gewerkschaftliche Rundschau, 66/1974, S. 161 ff. ; Neutralität, 12/1974, Nr. 3; Revue économique et sociale, 32/1974, S. 229 ff.
[19] Vgl. H. Huber (NZZ, 55, 3.2.74 ; 59, 5.2.74) sowie Repliken (NZZ, 173, 16.4.74 ; Tw, 59, 12.3.74 ; 61, 14.3.74) und zudem Th. Fleiner (Vat., 57, 9.3.74). Vgl. auch SPJ, 1973, S. 115.
[20] NZZ (sda), 41, 25.1.74 ; 73, 13.2.74 ; NZ, 49, 13.2.74. Vgl. hierzu auch NR Auer (fdp, BL) in Ldb, 42, 20.2.74 ; Bund, 49, 28.2.74.
[21] BN, 40, 16.2.74 (Arbeitgeber, Gewerbe) ; NZZ, 96, 27.2.74 (FDP) ; BZ, 60, 13.3.74 (SVP).
[22] AZ, 41, 19.2.74 ; Vat., 39, 16.2.74.
[23] Amtl. Bull. NR, 1974, S. 509 ff. Vgl. Presse vom 21.-23.4.74 ; ferner : NZZ, 188, 24.4.74 ; Ww, 13, 27.3.74 (Zusammenfassung).
[24] BN, 99, 29.4.74 ; NZZ, 195, 29.4.74 ; TA, 99, 29.4.74 ; wf, Dokumentationsdienst, 17, 29.4.74.
[25] Vat., .103, 4.5.74 ; 109, 11.5.74 ; NZZ, 206, 6.5.74 ; 214, 10.5.74 ; Amtl. Bull. NR, 1974, S. 927 (E. Canonica).
[26] Amtl. Bull. StR, 1974, S. 148 ff. ; vgl. auch Presse vom 12.6.74 ; ferner : NZZ, 272, 15.6.74. Hierzu auch : J.F. Fulda, « Gedanken zur Mitbestimmungs-Frage, Eine Zwischenbilanz », in Schweizer Monatshefte, 54/1974-75, S. 320 ff.
[27] Amtl. Bull. NR, 1974, S. 1356 ff. und 1554 ; Amtl. Bull. StR, 1974, S. 543. Vgl. auch Presse vom 27. und 28.9.74 sowie Schweizer Rundschau, 73/1974, S. 362 ff.
[28] Vat., 224, 27.9.74 ; 225, 28.9.74 ; VO, 223, 27.9.74 ; NZZ, 450, 28.9.74 ; 451, 29.9.74 ; JdG, 229, 1.10.74 ; gk, 32, 3.10.74 ; NZ, 313, 7.10.74 ; Tw, 253, 30.10.74 ; Ostschw., 258, 5.11.74.
[29] TA, 154, 6.7.74 ; NZZ, 312, 9.7.74 ; Ldb, 165, 20.7.74 ; AZ, 227, 28.9.74.
[30] NZZ, 474, 25.10.74 ; 497, 21.11.74 ; Ldb, 270, 21.11.74 ; NZ, 369, 25.11.74.
[31] Die Sozialdemokraten hatten sich im Juni gegen eine Verlängerung der im August 1974 ablaufenden dreijährigen Frist für die parlamentarische Behandlung gewandt (Amtl. Bull. NR, 1974, S. 925 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1974, S. 363 ; NZZ, 285, 23.6.74).