Année politique Suisse 1974 : Politique sociale / Assurances sociales
Kranken- und Unfallversicherung
Der durch eine
SP-Initiative von 1970 ausgelöste Versuch einer verfassungsmässigen Neuordnung der Kranken- und Unfallversicherung beherrschte die gesundheitspolitische Szene
[26]. Als Grundlage für einen
Gegenvorschlag hatten im Vorjahr beide Räte das Ergebnis einer Verständigung zwischen Ärzten und Krankenkassen übernommen, doch war es bei den Beratungen zu nicht unwesentlichen Differenzen gekommen
[27]. Obwohl die Verhandlungen infolge der gesetzlichen Befristung unter Zeitdruck standen, gelang die Bereinigung nur schrittweise
[28]. Hauptstreitpunkte waren das lohnprozentuale Beitragsmaximum (Ständerat : 2 %, Nationalrat : 3 %), die Bestimmung des Verwendungszweckes dieser Gelder (der Ständerat trat für eine abschliessende, der Nationalrat für eine offene Aufzählung ein) sowie das Arbeitnehmerobligatorium für die Krankengeld- und Unfallversicherung (der Ständerat wollte eine blosse Ermächtigung, der Nationalrat eine Verpflichtung des Gesetzgebers)
[29]. Der Nationalrat setzte die drei Lohnprozente sowie das Arbeitnehmerobligatorium für die Krankengeld- und Unfallversicherung durch, während sich der Ständerat mit der abschliessenden Aufzählung der Verwendungszwecke behauptete. Im Nationalrat unterlagen dabei Anträge, welche aus den Reihen der SP und der CVP kamen und eine kostenabhängige und damit nach oben unbegrenzte Fixierung der Beitragshöhe verlangten
[30]. Der Kompromiss löste wenig Begeisterung aus ; namentlich wurde auch das langwierige Feilschen um Prozente kritisiert
[31]. Die Initianten stiessen sich besonders an der starken und wenig sozialen finanziellen Belastung der Versicherten (Pro-Kopf-Prämien, lohnprozentualer Beitrag und Selbstkostenanteil), aber auch am fehlenden umfassenden Obligatorium
[32]. Sie beschlossen, an ihrer Initiative festzuhalten
[33]. Diese forderte einen umfassenden krankenpflegerischen Schutz (inklusive Zahnbehandlung) für die ganze Bevölkerung. Ebenso sah sie eine obligatorische Krankengeldversicherung vor, welche für Erwerbstätige eine Leistung von mindestens 80 % des Einkommens zu erbringen hätte. Zur Finanzierung schlug sie, abgesehen von Staatszuwendungen (20 %), statt den bisherigen Pro-Kopf-Beiträgen einen prozentualen Abzug vom Lohneinkommen (analog zur AHV/IV) vor. Auch der Gegenvorschlag befürwortete grundsätzlich einen Leistungsausbau in, der Krankenversicherung. Mit der restriktiveren Formulierung wollte er aber den zusätzlichen Leistungen und vor allem der prozentualen Belastung der Löhne bestimmte Grenzen setzen, eine allzu zentralistische Lösung vermeiden sowie der Selbstverantwortung mehr Raum belassen
[34].
Im bereits im Sommer einsetzenden
Abstimmungskampf standen sich drei Lager gegenüber
[35]. Für die Initiative focht ein Aktionskomitee « für eine soziale Krankenversicherung a, in welchem Nationalratspräsident Muheim (sp, LU) den Vorsitz innehatte
[36]. Hinter diesem Komitee standen sämtliche Linksparteien, die Gewerkschaften, die Junge CVP Schweiz, die CVP des Berner Juras sowie der Verband Schweizerischer Medizinstudenten und eine dissidente Arztegruppe
[37]. Den Gegenvorschlag verteidigte ein Aktionskomitee « für den Ausbau einer freiheitlichen Kranken- und Unfallversicherung »
[38]. Hier engagierten sich die Partner des Gesundheitswesens, die meisten bürgerlichen Parteien, der St. Galler Landesring sowie Arbeitgeber-, Industrie-, Gewerbe- und Landwirtschaftskreise
[39], Diesen beiden Gruppierungen erwuchs im « Schweizerischen Komitee für den Ausbau einer sozial gerechten Krankenversicherung ohne Lohnprozente » bald ein dritter Konkurrent, welcher für die Ablehnung sowohl der Initiative als auch des Gegenvorschlages eintrat
[40]. Die zweifache Nein-Parole gaben die Grütli-Krankenkasse, der Landesring, die « Neue Rechte a, die Jungliberale Bewegung sowie verschiedene Kantonalparteien bürgerlicher Observanz aus
[41]. Sie wollten damit jede Systemänderung in der Krankenversicherung verhindern. Vor allem wandten sie sich gegen die mehr oder weniger starke lohnprozentuale Finanzierung (Gesundheitssteuer), da ihr die Gefahr eines medizinischen Überkonsums und damit eine Tendenz zur weiteren Verteuerung medizinischer Leistungen innewohne. Auch sie befürworteten einen Ausbau der Pflegeversicherung, allerdings unter Beibehaltung des Prinzips der persönlichen Verantwortung ; für einen solchen erachteten sie die geltende Verfassungsnorm als genügend
[42]. Die EVP beschloss Stimmfreigabe, und die Liberalsozialisten schliesslich lehnten die Initiative ab und gaben für den Gegenvorschlag die Stimme frei
[43].
Die drei genannten Hauptexponenten führten eine
engagierte Abstimmungskampagne. Mittels Inseraten und zahlreichen kontradiktorischen Artikelserien versuchten sie, dem Stimmbürger nicht nur die komplexe Materie, sondern auch den Abstimmungsmodus darzulegen
[44]. Dabei war man sich nicht überall klar, dass das Leereinlegen bei Initiative oder Gegenvorschlag praktisch einer Neinstimme gleichkommt, weil zur Annahme einer der beiden Varianten nicht bloss ein relatives, sondern das absolute Mehr aller gültigen Stimmzettel erforderlich ist
[45]. Weder das Volksbegehren für eine soziale Krankenversicherung noch der Gegenentwurf des Parlamentes erreichten dieses absolute Mehr von 719 169 Stimmen.
Sowohl das Volk als auch alle Stände verwarfen am 8. Dezember die Initiative wie den Gegenvorschlag. Bei einer Stimmbeteiligung von 41 % erhielt jene 384 155 Ja und 1 010 103 Nein, dieser 457 923 Ja und 883 179 Nein
[46]. Einzig in der Westschweiz und im Tessin entfielen mehr Ja-Stimmen auf die Initiative als auf den Gegenvorschlag
[47]. Als schwierig erwies sich die Interpretation des Resultates ; sie fiel auch recht unterschiedlich aus
[48]. Für viele Kommentatoren lag eine klare Absage an die « Staatsmedizin » und deren Finanzierung über Lohnprozente vor. Zählt man aber die Ja-Stimmen beider Vorschläge zusammen (842 078) und stellt sie den geschätzten doppelten Nein-Voten (zwischen 500 000 und 600 000) gegenüber, so ergibt sich eine deutliche (theoretische) Mehrheit für eine Reform, und zwar auch für eine mindestens teilweise Finanzierung über Lohnprozente
[49]. Bereits in den ersten Kommentaren wurden denn auch in den verschiedenen Lagern neue Vorstösse zugunsten einer Revision der Krankenversicherung angekündigt und mit der Einreichung mehrerer Motionen eingeleitet
[50]. Das weithin enttäuschende Ergebnis warf auch die Frage des Abstimmungsmodus bei einer Gegenüberstellung von Initiative und Gegenvorschlag auf
[51].
Während somit die Auseinandersetzung um den Verfassungsartikel ergebnislos ausging, wurde die
Vernehmlassung zum Expertenvorschlag für die Totalrevision der Gesetzesbestimmungen zur Unfallversicherung abgeschlossen. Aus ersten veröffentlichten Stellungnahmen war zu schliessen, dass der Vorschlag positiv beurteilt wurde, dass aber auch auf diesem Gebiet einige Vorbehalte zu einem für alle Arbeitnehmer vorgesehenen Obligatorium angebracht werden
[52].
Eng mit der Diskussion über die Krankenversicherung gekoppelt war jene über die anhaltende
Kostenexplosion im Spitalwesen
[53]. Kantonale und interkantonale Bestrebungen, die vom Schweizerischen Krankenhausinstitut unterstützt wurden, gingen dahin, vor allem durch vermehrte Planung und Koordination die Bau- und Betriebskosten der Spitäler zu senken
[54]. Im Personalsektor entspannte sich die Lage gegen Jahresende weitgehend, obwohl noch im Spätsommer, unter dem Eindruck des Fremdarbeiterbeschlusses und der dritten Überfremdungsinitiative, pessimistische Aussichten dominiert hatten
[55]. Offen blieb allerdings die Bedarfsfrage bei den Ärzten. Auf die meist bildungspolitisch motivierte Auseinandersetzung über dieses Thema wird in anderem Zusammenhang näher eingegangen
[56].
[26] Vgl. SPJ, 1970, S. 142 f. ; 1971, S. 135 f. ; 1972, S. 124 f.
[27] Vgl. SPJ, 1973, S. 123 f. Vgl. zum Verhältnis Arzt-Krankenkasse : F. Schären, Die Stellung des Arztes in der sozialen Krankenversicherung, Zürich 1973 ; ferner : TA, 2, 4.1.75.
[28] BN, 54, 5.3.74 ; Ldb, 52, 5.3.74.
[29] Vgl. SPJ, 1973, S. 124.
[30] NR : Bund, 29, 5.2.74 und BN, 34, 9.2.74 (Kommission) ; Amtl. Bull. NR, 1974, S. 201 ff., 668 f. StR : TA, 11, 15.1.74 und NZZ (spk), 108, 6.3.74 (Kommission) ; Amtl. Bull. StR, S. 4 ff., 58 ff., 134.
[31] Vgl. Presse vom 8.-10.3.74 ; ferner : NZ, 96, 26.3.74; 98, 28.3.74; NZZ, 229, 18.5.74. Zum Feilschen : Ww, 4, 23.1.74 ; TA, 39, 16.2.74 ; Bund, 52, 4.3.74.
[32] Vgl. NR Müller (sp, BE) in Amtl. Bull. NR, S. 668 f.; ferner : Bund, 56, 8.3.74.
[33] Tw, 72, 273.74 (SGB) ; 76, 1.4.74 (SPS).
[34] Vgl. gk, 36, 31.10.74 ; Bund, 262, 8.11.74 ; NZZ, 496, 20.11.74 ; 501, 26.11.74 ; 505, 30.11./1.12.74; TA, 271, 21.11.74; TG, 277, 27.11.74; Ww, 48, 27.11.74 ; Ldb, 277, 29.11.74; JdG, 281, 2.12.74.
[36] gk, 32, 3.10.74 ; 38, 14.11.74.
[37] Vgl. diverse Parolen in TA, 283, 5.12.74.
[38] NZZ (sda), 463, 12./13.10.74.
[39] Vgl. diverse Parolen in TA, 283, 5.12.74; ferner : Ostschw., 282, 3.12.74 (LdU, SG). Verschiedene Kantonalparteien der FDP, SVP, CVP und der Liberaldemokraten traten für ein doppeltes Nein ein, vgl. unten, Anm. 154.
[40] Bund, 252, 28.10.74 ; Vat., 272, 23.11.74 ; LNN, 279, 2.12.74.
[41] Vgl. diverse Parolen in TA, 283, 5.12.74. Folgende Kantonalparteien gaben in Abweichung von der schweizerischen Partei die doppelte Nein-Parole aus : FDP : BE, LU, UR, SO, BL, AR, SG, AG, TG, NE und GE ; CVP : FR ; SVP : BE und AG ; Liberaldemokraten : VD und NE (TA, 283, 5.12.74). Ferner traten die Junge CVP Luzern (Vat., 278, 30.11.74) sowie die Genfer Vigilance (JdG, 271, 20.11.74) für 2 X Nein ein.
[42] Ldb, 262, 12.11.74 ; 276, 28.11.74. Vgl. auch oben, Anm. 147.
[43] NZZ, 479, 31.10.74 (EVP) ; (sda), 500, 25.11.74 (Liberalsozialisten).
[44] Vgl. u.a.: NZ, 363, 373, 378, 20.11.-3.12.74; Tat, 274, 278, 279, 280, 23.-30.11.74; BN, 276-285, 25.11.-5.12.74 ; TLM, 331-334, 27.-30.11.74; TA, 277, 278, 279, 282, 28.11.-4.12.74 ; BZ, 281, 30.11.74 ; Bund, 285, 5.11.74.
[45] Ungültig sind nur Wahlzettel, welche 2 X Ja oder 2 X leer aufweisen (TA, 283, 5.12.74). Vgl. ferner : NZ, 379, 4.12.74 ; JdG, 284, 5.12.74; NZZ, 509, 5.12.74 ; TA, 284, 6.12.74.
[46] BBI, 1975, I, Nr, 6, S. 480 ff. Gleichzeitig wurde auch ein Bundesbeschluss zur Verbesserung des Bundeshaushaltes abgelehnt (vgl. oben, Teil I, 4d).
[47] TLM, 286, 9.12.74 ; TA, 287, 10.12.74.
[48] Vgl. Presse vom 9.-10.12.74 ; ferner : NZ, 386, 10.12.74 ; 390, 14.12.74. Vgl. auch Stellungnahmen : Bund, 289, 10.12.74 (Zusammenfassung) ; NZZ, 528, 30.12.74 (Krankenkassen).
[49] NZZ, 512, 9.12.74 ; LNN, 286, 10.12.74 ; gk, 42, 12.12.74 ; Tw, 290, 12.12.74 ; Vat, 302, 31.12.74 ; 4, 7.1.75.
[50] Der Zentralvorstand der EVP beschloss, eine neue Initiative zu lancieren (NZZ, sda, 513, 10.12.74; vgl. auch unten, Teil IIIa). Vgl. auch eingereichte Motionen der SP-Fraktion sowie der NR Bächtold (]du, BE), Barchi (fdp, TI), Jelmini (cvp, TI), Naegeli (rep, TG) und Frau Ribi (fdp, ZH) in Verhandl. B. vers., 1974, V. S. 20 f., 28, 31 f., 35. Hinter der Motion Bächtold stehen die Befürworter des doppelten Nein (Bund, 299, 22.12.74 sowie persönliche Auskunft des Motionärs).
[51] Vgl. oben, Teil I, 1c (droits populaires).
[52] Vgl. SPJ, 1973, S. 124. Für das Obligatorium sprachen sich u.a. aus : VSA (NZZ, 238, 25.5.74), SP und SGB (JdG, 126, 1.-3.6.74), CVP (Vat., 171, 26.7.74), FDP (Schreiben der FDP an Chef EDI vom 11.6.74), Kanton St. Gallen (Ostschw., 158, 10.7.74) und Behindertenvereinigungen (NBZ, 222, 19.7.74). Dagegen waren u.a. die SVP (BZ, 171, 25.7.74) und der Kanton Bern (Bund, 165, 18.7.74).
[53] NZ, 7, 7.1.74 ; 91, 22.3.74 ; 99, 29.3.74 ; BN, 157, 9.7.74 ; Ww, 47, 20.11.74 ; Ostschw., 280, 30.11.74. Vgl. ferner : Bund, 184, 9.8.74 ; POCH, « Kostenexplosion» im Gesundheitswesen, eine Analyse, Zürich 1974 (POCH-Schriften zum Klassenkampf, 4) ; H. Engler, «Kostenexplosion ; woran krankt das Gesundheitswesen? », in Wirtschaft und Recht, 26/1974, S. 196 ff.
[54] TA, 292, 16.12.74 ; Bund, 158, 10.7.74 ; AZ, 167, 20.7.74 ; BN, 96, 25.4.74 ; vgl. ferner einen Sparappell der Ärztegesellschaft (Bund, 58, 11.3.74). Vgl. auch H. Brüngger, Die Nutzen-Kosten-Analyse als Instrument der Planung im Gesundheitswesen, Zürich 1974 ; G. Kocher (Hrsg.), Zukunftsaspekte unseres Gesundheitswesens, Zürich 1973.
[55] LNN, 291, 16.12.74. Vgl. auch TA, 114, 18.5.74 und oben, Ausländerpolitik.
[56] Vgl. unten, Teil I, 8 ; ferner : M. Kehrer, « Statistik der Oberarzt- und Assistentenstellen», in Schweiz. Ärztezeitung, 55/1974, S. 1321 ff., 1358 ff. ; NZZ, 67, 10.2.74 ; 492, 15.11.74 ; 511, 7./8.12.74 ; BN, 92, 20.4.74 ; Ldb, 232, 8.10.74.
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