Année politique Suisse 1975 : Chronique générale / Politique étrangère suisse
 
Multilaterale Wirtschaftsbeziehungen
Wiederholt verliehen zuständige Behörden und Vertreter der Exportwirtschaft ihrer Überzeugung Ausdruck, dass aufgrund der ökonomischen Einbindung unseres Landes in die Weltwirtschaft ein echter Konjunkturaufschwung nur als Folge starker Auftriebstendenzen im Ausland möglich sei. Autonome und bilaterale Massnahmen genügten aber nicht, um der weltweiten Rezession zu steuern ; es liege im Interesse unserer nationalen Volkswirtschaft, auch zu einer Verbesserung der multilateralen Wirtschaftsbeziehungen im Rahmen regionaler und internationaler Organisationen beizutragen [95].
Entsprechend dem Freihandelsabkommen mit den EG wurden die Zolltarife für Industrieprodukte weiter gesenkt, so dass sie zu Anfang 1976 auf 20 % ihrer ursprünglichen Höhe fielen. Die Verbilligung der Importpreise vermochte zwar meist nicht unmittelbar die Konsumenten zu erreichen, doch sollte der Zollabbau durch eine Verschärfung der Konkurrenz das Preisniveau indirekt beeinflussen. Auf das Problem verminderter Zolleinnahmen verwies die vom Nationalrat abgelehnte Motion Schwarzenbach (rep., ZH), die mit finanzpolitischen Argumenten eine Kündigung des Freihandelsabkommens verlangte. Dass die lädierten Bundesfinanzen auf anderem Weg saniert werden sollen, begrüsst auch die Exportwirtschaft, zumal die in Aussicht genommene Umsatzsteuer nach dem Mehrwertsystem eine Steuerbefreiung für Ausfuhrgüter vorsieht [96].
EFTA, GATT und OECD sowie die zuständigen Spezialorganisationen der UNO zeigten sich bestrebt, eine weitere Liberalisierung des internationalen Handels einzuleiten oder wenigstens den protektionistischen Neigungen entgegenzuwirken, welche die Rezession verschiedentlich entstehen liess. Von einigem Erfolg waren dabei die Bemühungen der OECD, deren Mitglieder sich durch die Verlängerung des « Stillhalteabkommens » erneut verpflichteten, in ihrer Aussenwirtschaftspolitik auf Restriktionen zu verzichten und von übertriebener Exportbeihilfe abzusehen. Die Schweiz ratifizierte zudem das Übereinkommen über den finanziellen Beistandfonds der OECD, welcher Länder mit grossen Zahlungsbilanzschwierigkeiten unterstützen soll, um sie vom Versuch einer protektionistischen Lösung ihrer Probleme abzuhalten [97].
In der Frühjahrssession stimmten die Räte in beschleunigtem Verfahren dem Beitritt zum Internationalen Energieprogramm zu, das ebenfalls im Rahmen der OECD ausgearbeitet worden war und die Industriestaaten vor den problematischen Auswirkungen weiterer Erdölkrisen so gut als möglich schützen soll. Mit diesem Beschluss folgte das Parlament den versorgungspolitischen Überlegungen des Bundesrates ; nationale Isolationisten und linke Internationalisten wehrten sich vergeblich gegen einen Beitritt, der ihrer Ansicht nach die traditionelle Neutralitätspolitik verletzt und die Schweiz im Schlepptau amerikanischer Machtpolitik einen Konfrontationskurs im Nord-Süd-Dialog steuern lässt [98].
Da sich die Wirtschaftsbeziehungen mit der Dritten Welt als ausbaufähig erweisen, kommt ihnen gerade in Zeiten der Rezession besondere Bedeutung zu. Die Schweiz exportiert ein Fünftel ihrer gesamten Ausfuhr, vorwiegend industriell verarbeitete Produkte, in die Dritte Welt, während sie von dort nur ein Zehntel der Importe, im wesentlichen Rohstoffe und landwirtschaftliche Erzeugnisse, bezieht. Kein anderes Industrieland weist, pro Kopf der Bevölkerung berechnet, eine ähnlich hohe Exportquote in die Entwicklungsländer auf ; mit ihrem Handelsbilanzüberschuss, bezogen auf das Volumen des Warenverkehrs mit der Dritten Welt, hält sich die Schweiz im internationalen Vergleich ebenfalls seit Jahren an einsamer Spitze. Unser Land gehört auch zu den wichtigsten Investoren in Entwicklungsländern ; die schweizerischen Privatinvestitionen in diesem Bereich der Welt belaufen sich nach Schätzungen auf 4 bis 6 Mia Fr., wobei eine Konzentration auf Regionen und Länder festzustellen ist, die bereits einen fortgeschrittenen Stand der Industrialisierung erreicht haben und von denen man sich eine relative Sicherheit bei hoher Rendite verspricht [99].
Seit zwei Jahren wird auch hierzulande vermehrt debattiert, ob sich die gegenwärtigen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern vom Standpunkt internationaler Solidarität und im langfristigen Interesse eines weltweiten Gleichgewichts noch verantworten lassen. Während vorwiegend bürgerliche Kreise betonen, auch profitorientierte Investitionen und gewinnbringende Handelsverhältnisse hätten entwicklungsfördernde Effekte, kritisieren linke und religiös engagierte Gruppen das Rentabilitätskalkül privatwirtschaftlichen Engagements, welches eine Beseitigung der Unterentwicklung zu verhindern und die Strukturen der Abhängigkeit nur noch zu verstärken geeignet sei [100].
Die intensivierten Aussenwirtschaftsbeziehungen bereiteten jedenfalls vielen Ländern der Dritten Welt wachsende Zahlungsbilanzprobleme. Als die OPEC-Staaten 1973 die Erdölpreise massiv erhöhten, brachten sie nicht nur die industrialisierte Welt in Schwierigkeiten, sondern verschärften auch die Devisenknappheit der nicht erdölproduzierenden Entwicklungsländer, die dadurch zum Teil in arge finanzielle Notlage gerieten. Die Erdölpreissteigerung hatte einerseits rezessionsfördernde Wirkung, indem sie die Inflation anheizte und die Absatzchancen für Exportprodukte in einem grossen Teil der Welt verminderte ; sie diente anderseits den Entwicklungsländern gleichsam als Fanal für ihre Forderung nach einer Neuordnung der Weltwirtschaft, die ihnen höhere Rohstoffpreise und bessere Industrialisierungschancen garantieren sollte. Während sich die Auseinandersetzung zwischen der Ersten und der Dritten Welt zunächst in Formen harter Konfrontation vollzog, schien sich 1975 eine Verbesserung des Klimas anzubahnen dergestalt, dass das Bewusstsein gegenseitiger Abhängigkeit einen Interessenausgleich fördern könnte. Die Bereitschaft der Industrienationen, sich um verstärkte Hilfe zu bemühen und auf einen Dialog mit den Entwicklungsländern einzutreten, hat dazu sicher beigetragen [101].
Die Schweiz beteiligt sich an diesem Nord-Süd-Dialog im Rahmen internationaler Organisationen, insbesondere der UNCTAD sowie der Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (UNIDO). Sie vertritt mit sieben anderen Staaten die Industrienationen auf der « Konferenz über internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit », die eine Neudefinition der Struktur weltwirtschaftlicher Beziehungen erarbeiten will und im Dezember in Paris auf Ministerebene erstmals tagte [102]. Das staatliche Engagement gegenüber der Dritten Welt erstreckt sich zudem auf Projekte technischer Zusammenarbeit und bilaterale sowie multilaterale Finanzierungs- und Zinsverbilligungsaktionen, iiber die wir bereits an anderer Stelle berichtet haben [103]. Allerdings lässt sich unsere Entwicklungspolitik nicht nur vom Gesichtspunkt internationaler Solidarität leiten, wie man vorschnell meinen könnte, sondern dient immer auch dem erklärten Zweck, « die Aufnahmefähigkeit der Entwicklungsländer für schweizerische Exportgüter und Investitionen zu erhalten und zu stärken » [104].
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P.H.
 
[95] Vgl. P. R. Jolles, « Die Schweiz im Umbruch der Weltwirtschaft », in Documenta, 1975, Nr. 4, S. 2 ff. ; ders., « Die Auswirkungen der Erdölsituation auf die Aussenhandelspolitik der Schweiz », in Schweizer Rundschau, 74/1975, S. 94 ff. ; wf, Dok., 17, 26.4.75 ; 19-20, 12.5.75 42, 20.10.75 ; BüZ, 175, 28.6.75. Vgl. auch Anm. 13.
[96] Vgl. BBI, 1975, II, Nr. 32, S. 638 ff.; 1976, I, Nr. 9, S. 746 ff. ; vgl. auch A. Riklin / W. Zeller, « Verhältnis der Schweiz zu den Europäischen Gemeinschaften », in Handbuch..., S. 447 ff. ; R. Senti, « Die Schweiz und die Europäischen Gemeinschaften », in ders. (Hrsg.), Die Schweiz und die internationalen Wirtschaftsorganisationen, Zürich 1975, S. 103 ff. Importpreise : TA, 80, 8.4.75. Motion Schwarzenbach : Amtl. Bull. NR, 1975, S. 960 ff.; Europa, 42/1975, Nr. 3, S. 6 f. ; Nr. 7-8, S. 12 ; JdG, 123, 30.5.75 ; 125, 2.6.75 ; NZ, 165, 30.5.75. Mehrwertsteuer : wf, Dok., 3, 20.1.75 ; 40, 6.10.75 ; vgl. auch unten, Teil I, 5 (Mehrwertsteuer). Zu kartellrechtlichen Schwierigkeiten vgl. JdG, 65, 19.3.75 ; NZ, 108, 7.4.75 ; Ww, 14, 9.4.75 ; TA, 266, 30.9.75 (Hoffmann-La Roche, « Fall Adams »).
[97] Vgl. Gesch.ber., 1975, S. 233 f. Vgl. auch K. Jacobi, « Die Schweiz als Mitglied internationaler Wirtschaftsorganisationen (GATT und OECD) » und H. Mayrzedt, « Mitgliedschaft in der Europäischen Freihandelsassoziation », in Handbuch..., S. 761 ff. bzw. 499 ff. ; A. Dunkel / B. Eberhard, « Die Schweiz und das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen », P. Lévy, « Die Schweiz und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung » und H. Mayrzedt, « Die Schweiz und die Europäische Freihandelsassoziation », in Senti, op. cit., S. 47 ff., 79 ff., 133 ff. Vgl. ferner J.-P. Blancpain u.a. Wegweiser im Wirrwarr der Weltwirtschaft, Zürich 1975 (NZZ-Schriften zur Zeit, 34).
[98] Vgl. BBI, 1975, I, Nr. 9, S. 749 ff. ; Amtl. Bull. NR, 1975, S. 319 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1975, S. 175 ff. ; BN, 45, 22.2.75 ; 59, 11.3.75 ; 63, 15.3.75 ; JdG, 44, 22.2.75 ; 50, 1.3.75 ; TA, 44, 22.2.75 ; 59, 12.3.75 ; 60, 13.3.75 ; VO, 46, 25.2.75 ; 60, 13.3.75 ; Vat., 50, 1.3.75 ; Lib., 133, 11.3.75. Vgl. auch oben (Neutralität). Vgl. ferner SPJ, 1974, S. 69 f.
[99] Vgl. R. Büchi, « Aussenwirtschaftsbeziehungen und Aussenwirtschaftspolitik gegenüber den Entwicklungsländern », in Schweizer Rundschau, 74/1975, S. 169 ff. (auch in Handbuch..., S. 719 ff.) ; B. Kappeler / R. H. Strahm, Schweizer Kapital und Dritte Welt, Zürich o.J. ; G. Berweger, Schweizerische Investitionspolitik gegenüber Entwicklungsländern. Adliswil 1975 (Entwicklungspolitische Diskussionsbeiträge, 5) ; H.-B. Peter / H. Hollenstein, Handelsströme Schweiz - Dritte Welt, Bern 1976.
[100] Vgl. W. Leibacher, Beispiel Brasilien, Zürich 1974 ; wf, Dok., 9, 1.3.75 ; Bund, 9, 13.1.75 ; Vat., 67, 21.3.75 (Trumpf Buur) ; TA, 21, 27.1.75 ; R. Steppacher, Investitionsstruktur und wirtschaftliche Entwicklung in der Dritten Welt, Adliswil 1975 (Entwicklungspolitische Diskussionsbeiträge, 4) ; vgl. auch den Literaturbericht R. Preiswerk / D. Perrot, « Tiers Monde et coopération internationale pour le développement ». in SJPW, 1975, S. 17 ff. und die oben, Anm. 62 erwähnte Literatur. Zum Prozess gegen die Herausgeber der Studie « Nestlé tötet Babies » vgl. Focus, 68. November 1975, S. 4 ff. ; AZ, 264, 11.11.75 ; TG, 267. 15.11.75 und die Presse vom 27. und 28.11.75.
[101] Vgl. R. Senti, « Handelspolitische Mittel gegen monopolistische Angebotskonzentration », in NZZ, 8, 11.1.75 ; SHZ, 8, 20.2.75 ; LNN, 64, 18.3.75 ; SBG, Wirtschafts-Notizen, März 1976, S. 3 ff. Vgl. auch P. R. Jolles (Anm. 81 und 98).
[102] Vgl. BBl, 1975, II, Nr. 32, S. 657 ff. ; 1976, 1, Nr. 9, S. 761 ff. Vgl. ferner K. Jacobi, « Die Schweiz und die multilaterale wirtschaftliche Entwicklungszusammenarbeit », in Tuchtfeldt, op. cit., S. 305 ff. ; A.Melzer, « Die Schweiz und die internationalen Wirtschaftsorganisationen der Dritten Welt », in Senti, op. cit., S. 151 ff.
[103] Vgl. oben, (Entwicklungshilfe) und unten, Teil I, 4b (Währungspolitik).
[104] BBl, 1975, I, Nr. 6, S. 513. Vgl. auch P. Hammer, Funktion und Verfassungsmässigkeit der schweizerischen Entwicklungspolitik, Diss. Freiburg/Schweiz, Grenchen 1974 ; A. Borrmann, Zum Verhältnis von Aussenwirtschafts- und Entwicklungspolitik, Hamburg 1975.