Année politique Suisse 1975 : Chronique générale / Politique étrangère suisse
 
Europa
Die zunehmende Interdependenz zwischen Einzelstaaten und Staatengruppen schafft immer mehr Probleme, die sich nur mittels multilateraler Kontakte lösen lassen. Während die wirtschaftliche Integration Europas, über die wir an anderer Stelle ausführlicher berichten werden [42], aufgrund der Rezession etwas ihren Schwung verlor, zeichnete sich in letzter Zeit vor allem im Rahmen des Europarates eine stärkere Tendenz zur politischen Zusammenarbeit und zur Harmonisierung verschiedener Rechtsgebiete ab. Die Schweiz nahm regen Anteil an den Bestrebungen des Europarates ; von insgesamt 85 europäischen übereinkommen ist sie bisher jedoch erst deren 39 beigetreten [43]. Nachdem unser Land 1974 die Europäische Menschenrechtskonvention' ratifiziert hat, verlangen verschiedene Stimmen eine baldige Ratifizierung auch des sozialrechtlichen Pendants, der Europäischen Sozialcharta ; die Beitrittsfrage wird vom Bundesrat geprüft [44].
Insbesondere die Europa-Union setzt sich mit ihrem neuen Konzept für eine aktive Gestaltung unserer Europapolitik ein. Da das « erste Europa », jenes des Europarates, der EG. und der EFTA, unfertig sei und stagniere, das Hauptziel einer demokratischen, rechtsstaatlichen und verteidigungsfähigen Föderation, das « dritte Europa », sich jedoch nicht in einem Sprung, sondern nur schrittweise realisieren lasse, müsse als Zwischenetappe ein « zweites Europa » geschaffen werden, dessen Wegmarken im sog. Hertensteiner Programm abgesteckt sind. Dieses mittelfristige Konzept will sich sowohl gegenüber illusionärer Hoffnung als auch reaktivem Pragmatismus abgrenzen und zeigt namentlich für die Innenpolitik konkrete Möglichkeiten auf, die Schweiz europafähiger zu machen. Die Europa-Union setzt ihren Akzent nicht nur auf die westeuropäische Wirtschaftsintegration ; sie strebt eine Zusammenarbeit auf allen Gebieten an, die auch Osteuropa mit einbezieht und als Teil einer umfassenden Weltpolitik konzipiert ist [45].
top
 
print
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
Nach zähen Verhandlungen in Genf ist die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) nach nunmehr zweijähriger Dauer mit einem spektakulären Schlussakt beendet worden. Die 35 Teilnehmerstaaten schlossen keine rechtsverbindlichen Verträge ab, einigten sich aber auf ein umfangreiches Dokument wichtiger Absichtserklärungen und Empfehlungen, die zur Verständigung und Zusammenarbeit im politisch-militärischen, wirtschaftlich-technischen sowie humanitär-kulturellen Bereich beitragen und die Ost-West-Beziehungen verbessern sollen [46]. Wie Bundespräsident Graber in seiner Rede vor versammelten Staatschefs in Helsinki ausführte, sind die Ergebnisse des Diplomaten-Marathons soviel wert wie ihre künftige Anwendung. Dem diesbezüglichen Pessimismus mancher Kritiker, die vor der Verwischung objektiver Gegensätze und Gefahren warnten und in der KSZE eine Untergrabung westlicher Positionen witterten, wurde von anderer Seite entgegengehalten, die Konferenz trage zur notwendigen Entspannung bei, die zwar die Probleme noch nicht lösen könne, aber immerhin erlaube, sie in einem besseren Klima anzugehen [47].
Die aktive Mitarbeit unseres Landes an der KSZE hatte in mancher Hinsicht diplomatischen Erfolg. Insbesondere garantierten die Teilnehmerstaaten das Recht auf Neutralität und verpflichteten sich zur weiteren Prüfung einer schweizerischen Initiative, die ein obligatorisches System friedlicher Streitregelung vorschlägt [48]. Dennoch tadelten vor allem republikanische Stimmen die bundesrätliche KSZE-Politik unsanft, die jedoch — namentlich im Parlament und mit nur feinen Nuancen zwischen den Fraktionen — breite Zustimmung fand [49].
Die KSZE hat zwar die Sicherheitsprobleme der Schweiz nicht zu lösen vermocht trotz vertrauensbildender Massnahmen, die ihr Schlussdokument empfiehlt und die vom Bundesrat bereits befolgt werden [50]. Wie eng aber sicherheitspolitische Fragen unseres Landes mit politischen und wirtschaftlichen Strukturen des internationalen Systems verzahnt sind, erwies sich auch in der Erörterung eines schweizerischen Beitritts zum Atomsperrvertrag. Die ständerätliche Kommission hatte im Herbst 1974 eine diesbezügliche Vorlage zur Überprüfung und Ergänzung an den Bundesrat zurückgewiesen [51]. Obwohl die Genfer Konferenz der Vertragspartner, auf welcher die Schweiz und andere kernwaffenlose Staaten verbindlichere Garantien für ihre militärische Sicherheit und eine gerechtere Beteiligung an der friedlichen Nutzung der Atomenergie forderten, keine substantiellen Verbesserungen des Vertragswerkes brachte, erachtet der Bundesrat weiterhin die baldige Ratifikation als zweckdienlichste Lösung. Angesichts verschärfter Kontrollmassnahmen durch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) gefährde ein weiteres Abseitsstehen die Belieferung der Schweiz mit spaltbarem Material, und die einzig mögliche Alternative einer einseitigen Unterstellung unter die Kontrolle der IAEO böte weniger Vorteile als ein Beitritt zum Atomsperrvertrag [52].
 
[42] Vgl. unten (Multilaterale Wirtschaftsbeziehungen).
[43] BBl, 1974, II, S. 1146 ; Gesch.ber., 1975, S. 11 und 26 ff. ; NZZ, 21, 27.1.75 ; 23, 29.1.75 ; 129, 7.6.75. Zu den übereinkommen vgl. Gesch.ber., 1975, S. 26 und SPJ, 1974, S. 40. Vgl. ferner P. R. Jolles, « Schweizerische Europapolitik », sowie H.-P. Furrer, « La Suisse et le Conseil de l'Europe », in Handbuch..., S. 397 ff. und 423 ff.
[44] Menschenrechtskonvention : Vgl. oben, Teil I, 1b (Droits de l'homme) und SPJ, 1974, S. 13. Europaïsche Sozialcharta : Europa, 42/1975, Nr. 3, S. 10 f. ; NZ, 79, 11.3.75 ; Verhandl. B.vers., 1975, V, S. 44 (Einfache Anfrage NR Muheim, sp, LU) ; Gesch.ber., 1975, S. 26. Vgl. ferner S. Trechsel, « Die Schweiz und die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten » sowie J. P. Müller, « Die Schweiz und die Europäische Sozialcharta », in Handbuch..., S. 361 ff. und 389 ff.
[45] Konzept einer schweizerischen Europapolitik. Das Hertensteiner Programm und das Manifest von Locarno der Europa-Union Schweiz (Bern 1975). Vgl. auch Europa, 42/1975, Nr. 12, S. 3 f. und die Presse vorn 12.11.75. Zur Entstehung des Programms vgl. NZZ, 52, 4.3.75 und A. Riklin in Vat., 266, 15.11.75. Vgl. ferner SPJ, 1974, S. 39 f.
[46] Verhandlungen in Genf : NZZ, 100, 2.5.75 ; 130, 9.6.75 ; 131, 10.6.75 ; 166, 21.7.75 ; JdG, 132, 10.6.75 ; 154, 5.7.75 ; NZ, 185, 16.6.75 ; 188, 19.6.75 ; 218, 15.7.75 ; TA, 152, 4.7.75 ; 153, 5.7.75 ; TG, 167, 21.7.75 ; vgl. auch SPJ, 1974, S. 40. Schlussphase in Helsinki : Presse vom 30.7.-2.8.75. Schlussakte der KSZE : BBI, 1975, II, Nr. 35, S. 924 ff.
[47] Rede BR Grabers : BBI, 1975, II, Nr. 35, S. 918 ff. und Documenta, 1975, Nr. 4, S. 16 ff. Pessimistische Beurteilung : Vat., 79, 7.4.75 (Zweite Europäische Konferenz für Menschenrechte in Luzern) ; Ostschw., 155, 7.7.75 ; NZZ, 169, 24.7.75 ; 171, 26.7.75 ; Ww, 30, 30.7.75. Gedämpfter Optimismus : TA, 215, 17.9.75 ; JdG, 217, 18.9.75 ; NZ, 291, 18.11.75. Vgl. auch C. Gasteyger, « Ein europäischer Rütlischwur ? Gedanken zur Europäischen Sicherheitskonferenz », in Schweizer Monatshefte, 55/1975-76, S. 425 ff. ; W. Hübscher, « Mit der KSZE leben... », in Vat., 300, 27.12.75 ; vgl. ferner NR Dürrenmatt, « Helsinki und die Neutralen », in BN, 220, 22.9.75.
[48] BBI, 1975, II, Nr. 35, S. 927 und 935 (KSZE-Schlussakte). Vgl. JdG, 132, 10.6.75 ; 154, 4.7.75 ; TA, 152, 4.7.75 ; 153, 5.7.75 ; 176, 2.8.75. Vgl. auch R. L. Bindschedler, « Verfahren zur friedlichen Streiterledigung », in Handbuch..., S. 875 ff.
[49] Tadel : Schwarzenbach-Republikaner (NZZ, sda, 172, 28.7.75) ; Ostschw., 175, 30.7.75. Lob : Friedensrat (TA, ddp, 158, 11.7.75) ; SPS (NZZ, 175, 31.7.75) ; TG, 175, 30.7.75 ; SZ, 175, 31.7.75. Parlament : Amtl. Bull. NR, 1975, S. 1109 ff. (Interpellation Renschler, sp, ZH) und 1130 f. (Postulat König, rep., BE) ; Amtl. Bull. StR, 1975, S. 579 ff. (Interpellation Hefti, fdp, GL).
[50] Militärische Aspekte : NZZ, 175, 31.7.75 ; Vat., 175, 31.7.75 ; NZ, 237, 1.8.75 ; vgl. unten, Teil I, 3 (Sécurité). Ankündigung von Manövern : JdG (ats), 238, 11.10.75 ; NZZ (sda), 236, 11.10.75. Vgl. ferner C. Gasteyger, « Sicherheitspolitik », in Handbuch..., S. 197 ff.
[51] Vgl. SPJ, 1974, S. 37 f. Vgl. auch M. Dormann / R. Vetterli, « Zum Problem aussenpolitischer Kompetenz : Die Schweiz und der Atomsperrvertrag », in SJPW, 14/1974, S. 85 ff.
[52] Genfer Konferenz : NZ, 139, 5.5.75 ; 146, 12.5.75 ; 166, 31.5.75 ; NZZ, 103, 6.5.75 ; 105, 9.5.75 ; 120, 28.5.75 ; 123, 31.5.75 ; TG, 120, 27.5.75 ; 124, 31.5.75. Schweizerische Forderungen R.L. Bindschedler, « Non-prolifération des armes nucléaires », in Documenta, 1975, Nr. 6, S. 2 ff. vgl. auch die Presse vom 9. und 10.5.75. Bericht des BR : BBI, 1976, I, Nr. 9, S. 712 ff. Vgl. ferner NZ, 221, 18.7.75 ; SZ, 169, 24.7.75.