Année politique Suisse 1975 : Chronique générale / Politique étrangère suisse
 
Aussenwirtschaftspolitik
Die weltwirtschaftlichen Beziehungen sind seit einigen Jahren in tiefgreifender Veränderung begriffen. Eine lange Periode wirtschaftlichen Aufschwungs im Zeichen atlantischer Prädominanz hatte die fortschreitende Liberalisierung des Welthandels ermöglicht und die internationale Verflechtung der Volkswirtschaften rasch vorangetrieben. Seit Anfang der siebziger Jahre brachten jedoch galoppierende Inflation und Zahlungsbilanzschwierigkeiten die internationale Wirtschafts- und Währungsordnung der Nachkriegszeit ins Wanken, bis sie im Gefolge drastischer Preissteigerung des Erdöls und unter dem Druck weltweiter Konjunktureinbrüche vollends zum Einsturz kam. Diese Krise der weltwirtschaftlichen Beziehungen, die sich unter anderem in einer Schrumpfung des Welthandels und in immensen Devisenproblemen niederschlägt, stellt die Aussenwirtschaftspolitik der Einzelstaaten und Staatengruppen vor heikle Aufgaben, welche sich angesichts globaler Interdependenz nicht im Alleingang werden lösen lassen [78].
Erschütterungen im Gefüge der Weltwirtschaft berühren die Schweiz um so direkter, als ihre ökonomische Situation in ausnehmend hohem Masse durch internationale Verflechtungen geprägt ist. 1974 stammte ein Drittel des schweizerischen Sozialprodukts direkt aus dem Export von Gütern und Dienstleistungen, der einem Fünftel aller Beschäftigten Arbeit bot. Berücksichtigt man die multiplikatorischen Effekte auf die übrigen Bereiche der Volkswirtschaft, so partizipiert der Aussenwirtschaftssektor annähernd zur Hälfte am Bruttosozialprodukt der Schweiz [79]. Neben Warenausfuhr, Gütertransport und Fremdenverkehr fallen dabei insbesondere auch Dienstleistungen von Grossbanken und Privatassekuranz ins Gewicht, die einen hohen Anteil ihres Umsatzes Tiber Auslandgeschäfte erzielen. In der Tätigkeit dieser Institute gründet die Bedeutung der Schweiz als Finanzplatz, dessen internationale Stellung weit über die rein geographisch-demographische Basis unseres Landes und über die Dimensionen seiner industriellen Produktion hinausragt [80]. Auch im Kapitalbereich ist die Schweiz international sehr eng liiert ; 1974 betrug das ausgewiesene Schweizer Vermögen im Ausland pro Kopf der Bevölkerung gerechnet 38 000 Fr., während sich z.B. für die Bundesrepublik Deutschland der entsprechende Betrag auf 4500 DM belief [81]. Im Unterschied zu anderen Industrieländern haben sich in der Schweiz auch viele mittlere und kleinere Betriebe zu multinationalen Unternehmungen entwickelt, und die Auslandexpansion unserer grössten « Multis » ist so weit fortgeschritten, dass sie nur noch über eine relativ schmale Heimatbasis verfügen [82].
Wissenschaftliche Analysen geben denn auch kritisch zu bedenken, dass die schweizerische Stellung in der Weltgesellschaft weniger durch unsere politische Neutralität bestimmt sei als vielmehr durch solch faktische Verflechtung privatwirtschaftlicher Art. Diese weise der Schweiz auf den Koordinaten West/ Ost (marktwirtschaftliche/planwirtschaftliche Ordnungsvorstellungen) und Nord/Süd (reiche/arme Länder) Extrempositionen zu und beschränke den Handlungsspielraum staatlicher Aussen(wirtschafts)politik, welche die Aufgabe komplementärer Unterstützung der Auslandinteressen unserer Privatwirtschaft übernommen habe [83].
 
[78] Vgl. P. R. Jolles, Die Schweiz im Spannungsfeld der Welthandels-, Währungs- und Rohstoffprobleme, Zürich 1975 (Schriftenreihe des Vororts, 1) ; A. Dunkel, « Le commerce international : évolution récente et perspectives », in Revue économique et sociale, 33/1975, S. 7 ff.
[79] Vgl. wf, Dok. (= Dokumentation- und Pressedienst), 5, 3.2.75 ; SBG (= Schweiz. Bankgesellschaft), Wirtschafts-Notizen, April 1975, S. 6 ff. ; Tat, 81, 8.4.75 ; NZZ, 185, 13.8.75.
[80] Vgl. SBV (= Schweiz. Bankverein), Der Finanzplatz Schweiz, Zürich 1975 (Bankverein-Heft Nr. 6) ; E. F. Paltzer, Der Finanzplatz Schweiz im Sog internationaler Währungskrisen, Zürich 1975 (Bankverein-Heft Nr. 7) ; R. Lang, « Schweizer Banken im Ausland », in SICA (= Schweiz. Kreditanstalt), Bulletin, 81/1975, Januar-Februar, S. 7 ff. Vgl. auch wf, Dok., 15, 14.4.75 ; 32-33, 11.8.75 ; 40, 6.10.75 ; Tat, 11, 14.1.76. Vgl. ferner unten, Teil I, 4b (Banken).
[81] Vgl. SBG, Die Schweiz in Zahlen, Ausgabe 1975 ; Deutsche Bundesbank, Monatsberichte, November 1975. Vgl. auch SBG, Wirtschafts-Notizen, November 1975, S. 3 ff.
[82] Vgl. wf, Dok., 9, 1.3.75 ; 26-27, 30.6.75.
[83] Vgl. H. C. Binswanger / R. Büchi. « Aussenpolitik und Aussenwirtschaftspolitik », in A. Riklin u.a. (Hrsg.), Handbuch der Schweizerischen Aussenpolitik, Bern 1975 (Schriftenreihe der Schweiz. Gesellschaft für Aussenpolitik, 2), S. 693 ff. und H. Vogel, Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft in den schweizerischen Aussenbeziehungen, Zürich 1975 (Kleine Studien zur Politischen Wissenschaft, 68-70).