Année politique Suisse 1975 : Economie / Politique économique générale / Konjunkturpolitik
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Konjunkturartikel
Die Konjunkturpolitik rückte vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Umschwungs in den Brennpunkt der wirtschaftspolitischen Diskussion [14]. Die Szene beherrschte zunächst der Abstimmungskampf um den Konjunkturartikel, der dem Bund grundlegende Kompetenzen zur Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklung einräumen sollte und von seiner Bedeutung her in eine Reihe mit den Wirtschaftsartikeln von 1947 gestellt wurde [15]. Die Befürworter kämpften auf einer politisch breit abgestützten Front : ausser den vier Bundesratsparteien gaben ebenfalls der Landesring und die Evangelische Volkspartei die Ja-Parole aus. Zustimmend verhielten sich zudem mit Ausnahme des Gewerbeverbandes die wichtigsten Spitzenverbände der Wirtschaft, wenngleich mitunter in zurückhaltender Form ; dies gilt namentlich für die Vertreter der Banken. Mit dem Ziel der « Aufklärung der Stimmberechtigten » konstituierte sich aus Befürworterkreisen ein « Aktionskomitee für eine ausgeglichene Wirtschaftsentwicklung ». Argumentiert wurde dahin, dass sowohl in juristischer wie in ökonomischer Hinsicht erst der vorgeschlagene Verfassungsartikel die Grundlage für eine Konjunkturpolitik biete, die diesen Namen auch wirklich verdiene und zur Realisierung der Ziele Vollbeschäftigung und Geldwertstabilität befähige [16].
Dominierten in der sichtbaren Kampagne der Massenmedien und der Parteien die Befürworter, so blieb anderseits auch die Opposition nicht untätig. Sie organisierte sich in einem « Schweizerischen Komitee gegen permanente Staatseingriffe » und kündigte die Lancierung einer Volksinitiative « für eine wirksame Konjunkturpolitik unter Wahrung der Rechte von Volk und Ständen » an, die inhaltlich dem 1974 in der Volkskammer gescheiterten Antrag von E. Debétaz (fdp, VD) entsprach und eine Ergänzung des Notrechtsartikels 89 bis BV anstrebte (weitgehende, jedoch auf 4 Monate befristete konjunkturpolitische Vollmachten des Bundesrates). Unter dem Vorsitz des Waadtländers formierten sich im Aktionskomitee der Gegner vornehmlich welsche, der extrem föderalistischen « Ligue vaudoise » nahestehende rechtsbürgerliche Politiker sowie Gewerbekreise mit Verbandsdirektor O. Fischer (fdp, BE). Sie hielten der Vorlage entgegen, dass die vorgesehenen Bundeskompetenzen eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung brächten, indem das Feld der « Herrschaft der Technokraten » überlassen würde. Der wirtschaftliche Einbruch gab überdies zur Frage Anlass, ob eine verfassungsmässige Verankerung der Konjunkturpolitik überhaupt noch erforderlich sei oder ob die bestehenden Rechtsgrundlagen zur Verhinderung von Krisenerscheinungen nicht genügten. Die Vertreter des Gewerbes gaben die Schuld für die gegenwärtigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Regierung, verwiesen auf die als « Deflationspolitik » und « unverantwortlichen Staatsdirigismus » apostrophierten Konjunkturdämpfungsmassnahmen der vergangenen Jahre und profilierten sich so als entschiedene Verteidiger der Handels- und Gewerbefreiheit. Die Opponenten um E. Debétaz ihrerseits unterstrichen, dass der Konjunkturartikel einen schweren Schlag gegen die « föderalistischen Sicherungen » beinhalte [17]. Die Opposition verdichtete sich, als rund die Hälfte der Kantonalparteien, insbesondere kantonale Sektionen der befürwortenden Grossparteien, die Nein-Parole ausgaben. Ablehnend verhielten sich überdies verschiedene kleinere Landesparteien [18].
Der Konjunkturartikel erhielt am 2. März mit einer Mehrheit von rund 53 % wohl die Zustimmung des Volkes, aber zum erstenmal in der Geschichte des Bundesstaates wurde diese durch ein blosses Patt der Stände unwirksam gemacht. Regional betrachtet verwarfen die West- und Innerschweizer Kantone mit Ausnahme von Neuenburg und Uri. In struktureller Hinsicht ergab sich, dass abgesehen von Graubünden vor allem die wirtschaftlich schwach entwickelten Stände ablehnten, unterstützt allerdings von einigen relativ stark industrialisierten wie Genf, Schaffhausen und Aargau [19].
In den Kommentaren wurde das fehlende Ständemehr von den Gegnern mit betonter Genugtuung zur Kenntnis genommen, während die sichtlich enttäuschten Befürworter gerade bezweifelten, ob mit dem knappen Entscheid der Sache des Föderalismus auch wirklich gedient sei. Das Zufallsergebnis — hätten im Halbkanton Appenzell Innerrhoden 83 Stimmbürger statt eines Nein ein Ja eingelegt, wäre die Vorlage angenommen worden sowie die äusserst geringe Stimmbeteiligung von 28,4 % wurden als besonders unbefriedigend empfunden und führten zu Unsicherheiten bei der Interpretation des Volkswillens. Weitgehend einig war man sich, dass einerseits föderalistische Motive, anderseits ordnungspolitische Bedenken gegen den umstrittenen Absatz 3, der auch andere als nur « klassische » Massnahmen zur Konjunktursteuerung vorsah, für das Scheitern des Artikels entscheidend ins Gewicht gefallen waren. Das Resultat löste eine Grundsatzdiskussion über die Funktionsfähigkeit der direkten Demokratie aus. Bemängelt wurde in diesem Zusammenhang, dass das « politische Establishment » seine Führungsrolle in unzulänglicher Art wahrgenommen habe, wo doch die Komplexität der Materie besondere Informationsanstrengungen erfordert hätte. Auf einen bedenklichen Informationsstand liess auch eine im Auftrag des Fernsehens durchgeführte Umfrage schliessen : danach wussten von der kleinen Minderheit von 14 % der Stimmberechtigten, die den Konjunkturartikel zu Fall gebracht hatten, weniger als die Hälfte (42 %), was sie nun eigentlich verworfen hatten, während von den Ja-Stimmenden immerhin 61 % über den Zweck der Vorlage im Bilde waren [20].
 
[14] Vgl. Ww, 15, 16.4.75 ; JdG, 108, 12.5.75 ; TA, 199, 29.8.75 ; 205, 5.9.75 ; NZZ, 200, 30.8.75 ; Bund, 226, 28.9.75. Vgl. auch den Bericht des BR über Konjunkturmassnahmen 1974/75 (BBI, II, Nr. 45, S. 1728 ff.) ; ferner W. Linder, « Helvetiens konjunkturpolitische Pirouetten. Unorthodoxe Betrachtungen zu einem Trauerspiel », in E. Tuchtfeldt (Hrsg.), Schweizerische Wirtschaftspolitik zwischen gestern und morgen, Bern 1976, S. 187 ff.
[15] Bund, 12, 16.1.75 ; Vat., 14, 18.1.75 ; TA, 26, 1.2.75 ; NZZ, 31, 7.2.75. Vgl. SPJ, 1971, S. 70 ; 1972, S. 62 f. ; 1973, S. 58 f. ; 1974, S. 59 f.
[16] Befürworter-Front : BZ, 34, 11.2.75 ; wf, Dokumentations- und Pressedienst, 7, 17.2.75 ; NZZ, 46, 25.2.75. Banken : NZZ, 45, 24.2.75. Aktionskomitee : NZZ (sda), 29, 5.2.75. Argumente : NZZ, 28, 4.2.75 ; 49, 28 2.75 ; Ww, 5, 5.2.75 ; 8, 26.2.75 ; BN, 35, 11.2.75 ; 39, 15.2.75 ; gk, 6, 13.2.75 ; TA, 47, 26.2.75 ; wf, Dokumentations- und Pressedienst, 4, 27.2.75 ; Mitteilungsblatt des Delegierten für Konjunkturfragen, 31/1975, Nr. 1.
[17] GdL, 11, 15.1.75 ; NZZ, 12, 16.1.75 ; 22, 28.1.75 ; 35, 12.2.75 (O. Fischer) ; 24 Heures, 20, 25.1.75 (E. Debétaz). Zur Kritik an der Initiative vgl. BN, 13, 16.1.75 ; Ldb, 21, 27.1.75 ; TLM, 27, 27.1.75. Vgl. auch SPJ, 1974, S. 59 f. (Antrag von NR Debétaz) und S. 104 (« Ligue vaudoise »).
[18] Beschluss zur Nein-Parole fassten die Liberal-demokratische Union, Republikaner, PdA, POCH, die Liberalsozialistische Partei sowie der Jungsozialisten-Kongress, während die NA auf Stimmfreigabe entschied. Vgl. NZZ, 46, 25.2.75 ; VO, 41, 19.2.75.
[19] BBl, 1975, I, Nr. 17, S. 1583 ff. (542 745 Ja : 485 844 Nein). Angenommen haben die Kantone BE, BL, BS, GL, GR, NE, SG, SO, TG, TI, UR, ZH ; verworfen AG, AI, AR, FR, GE, LU, NW, OW, SH, SZ, VD, VS, ZG.
[20] Pressekommentare vom 3. und 4.3.75 ; Ww, 9, 5.3.75 ; Tat, 57, 8.3.75 ; zu den « klassischen » Massnahmen vgl. SPJ, 1972, S. 62 f. ; 1974, S. 59. Vgl. dazu R. Reich in Schweizer Monatshefte, 55/1975-76, S. 4 f. Zur Grundsatzdiskussion vgl. oben, Teil I, 1c (Droits populaires) sowie unten, Teil I, 8c (Informationspolitik). Noch schlechtere Stimmbeteiligungen verzeichneten der Bau- und der Währungsbeschluss von 1972 (26,7 %) sowie die Bildungs- und Forschungsartikel von 1973 (27,5 %) ; vgl. SPJ, 1972, S. 61 und 67 ; 1973, S. 128.