Année politique Suisse 1975 : Infrastructure, aménagement, environnement / Energie
 
Kernenergie
Der 1974 zu einer eigentlichen « Antiatomenergiewelle » eskalierte Widerstand gegen die Atomkraftwerke erreichte mit der Besetzung des Baugeländes für das Werk in Kaiseraugst einen neuen Höhepunkt. Politisch schien damit ein entscheidender Schwellenwert überschritten worden zu sein. Kaum zufällig formierte sich die Opposition vornehmlich in der Basler Region. Mittels verschiedener politischer Aktionen wurden die Behörden zu Beginn des Jahres zum Neuüberdenken der Atomenergiepolitik aufgefordert. Man begründete dieses Anliegen hauptsächlich mit dem Hinweis auf die « in der Welt einmalige Ballung von Atomkraftwerken » in der betroffenen Region. Anfangs April erfolgte die Besetzung des Baugeländes [10]. Die « Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst » (GAK) verband diese Aktion mit der Forderung nach einem Baustop. Dieser solle andauern, bis ein meteorologisches Gutachten sowie eine schweizerische Gesamtenergiekonzeption vorlägen und die direkt betroffene Bevölkerung über das Projekt Kaiseraugst einen « demokratischen Entscheid » fällen könne. Die Bauherrschaft stellte die begonnenen Aushubarbeiten ein, während Bundesrat Ritschard die rechtliche Unanfechtbarkeit des Bauprojekts betonte [11].
In der Folge kam es zu zähen Verhandlungen. Hiebei profilierten sich eine Reihe von Vermittlungsdelegationen, die einerseits hauptsächlich mit dem Bundesrat, der aargauischen Regierung und der Bauherrschaft, anderseits mit der GAK um die Lockerung der zeitweise verhärteten Fronten bemüht waren. Die ganze Affäre war geeignet, den Bewusstseinsprozess um die vorhandenen Probleme gleichsam schlagartig zu intensivieren. Allerdings nahm das Interesse an der Auseinandersetzung mit wachsender Distanz von der Nordwestschweiz ab [12]. Die Mitglieder und Sympathisanten der nach dem Beispiel der deutschen Biirgerinitiativen agierenden Gruppen der Atomkraftwerkgegner rekrutierten sich aus verschiedenen politischen Lagern und auch aus kulturellen Kreisen. Man sprach gar von einer eigentlichen Volksbewegung in der Basler Region [13]. Als ihr Ausdruck wurden insbesondere die veranstalteten Massendemonstrationen gewertet [14]. Die GAK blieb freilich von politischen Richtungskämpfen nicht verschont, bemühte sich aber um Abgrenzung gegenüber « propagandistischen Trittbrettfahrern ». Damit richtete sie sich einerseits gegen klassenkämpferisch orientierte Gruppierungen, welche sich nach Abbruch der Besetzung in der « Gewaltfreien Aktion gegen das Atomkraftwerk Kaiseraugst » (GAGAK) organisierten ; anderseits wurde die rechtsstehende Nationale Aktion « als Organisation » von der GAK ausgeschlossen, da sie in einem Wahlkampf « politischen Profit » aus der Besetzung habe schlagen wollen [15]. Zumindest indirekte Schützenhilfe erhielt die GAK nicht nur von den Kantonsparlamenten beider Basel, die mittels Resolutionen ebenfalls einen vorläufigen Stop der Bauarbeiten forderten [16], sondern auch seitens der Regierungen der beiden Halbkantone [17]. Dies hatte heftige Reaktionen des aargauischen Regierungsrates zur Folge, der die solidarische Haltung der Basler Behörden mit den Besetzern scharf kritisierte [18]. Er bezeichnete die Vorstellung, die Besetzung sei « zwar illegal, jedoch legitim », als absurd [19]. Unterdessen hatte die GAK ihre Forderungen erhöht ; verlangt wurden nun Gespräche mit dem Bundesrat über einen endgültigen Verzicht auf das Projekt Kaiseraugst [20].
Der Siedepunkt schien erreicht, als die aargauische und die eidgenössische Exekutive mit einer zwangsweisen Räumung des Geländes drohten und die Kantone ersuchten, dem Stand Aargau hiefür Polizeikräfte zur Verfügung zu stellen [21]. Fast gleichzeitig erging ein neues Verhandlungsangebot an die GAK : Im Einvernehmen mit der aargauischen Regierung erklärte sich Bundesrat Ritschard zu Gesprächen über « alle umstrittenen Fragen », auch über einen Baustop, bereit, « wenn die freiwillige Räumung nun nächstens erfolgen wird ». Die Bauherrin sicherte ferner die vorläufige Einstellung der Arbeiten zu [22]. Darauf wurde Mitte Juni das Gelände von den Besetzern geräumt [23]. Wenige Wochen später folgte ein erstes Gespräch zwischen Vertretern der Kernkraftwerkgegner und einer Verhandlungsdelegation des Bundesrates. Man kam überein, dass während der Dauer der Verhandlungen auf dem Baugelände nichts unternommen würde. Unterdessen sollten hängige Fragen geklärt werden. Bundesrat Ritschard stellte eine nukleare Baubewilligung für das Werk in Kaiseraugst frühestens auf Ende 1976 in Aussicht [24].
In der Kontroverse um Kaiseraugst wurde auf der einen Seite mit dem Bedarf an zusätzlicher Energie und mit der Verfügbarkeit und Effizienz des neuen Energieträgers argumentiert, auf der andern mit der Unabsehbarkeit der Folgen einer derart präjudizierten Entwicklung. Die entsprechende Diskussion wickelte sich sowohl auf sachbezogener wie auf emotioneller Ebene ab. Die Befürworter des Atomkraftwerkbaus unterstrichen namentlich die Forderung, mit der Erdölsubstitution endlich ernst zu machen. Unter Beizug wissenschaftlicher Gutachten betonte man überdies, dass die Sicherheit nuklearer Anlagen gewährleistet und die Umweltbelastung tragbar sei [25]. Die Atomkraftwerkgegner beriefen sich ebenfalls auf wissenschaftliche Experten oder forderten zumindest neue, veränderten Bedingungen und Erkenntnissen Rechnung tragende Studien. Die wirtschaftliche Rezession und speziell der Rückgang des Energieverbrauchs hätten gewisse Wachstumsgrenzen deutlich gemacht. Ein Stromüberschuss in kurz- wie längerfristiger Sicht liege durchaus im Bereich des Möglichen. Ergänzt wurden derartige Argumente mit bereits früher geäusserten Bedenken hinsichtlich Sicherheit der Anlagen, Umweltgefährdung usw. [26].
Die Erörterung vielschichtiger technischer Sachprobleme führte gleichsam zu einer Kluft zwischen dem « Mann vom Fach » und dem « Mann auf der Strasse n. Das hieraus erwachsende Informationsproblem begünstigte emotionell gefärbte Diskussionen. Bundesrat Ritschard konnte denn auch feststellen, die Kernkraftwerke seien zur « Glaubenssache n geworden. Im Kanton Genf kam es deshalb zu einem parlamentarischen Vorstoss für die Errichtung eines Informationszentrums über Energiefragen. Die Frage, inwiefern eine frühzeitige Information die gesteigerten Aufwallungén gegen den Atomkraftwerkbau hätte verhindern können, war im Mittelpunkt eines Symposiums über « Informations- und Umweltpolitik in Staat und Wirtschaft » [27].
Die Besetzung von Kaiseraugst stand nicht zuletzt im Spannungsfeld der Begriffe Rechtsstaat und Demokratie. Die Besetzer beriefen sich auf eine Art « Notstand » oder « moralisches Recht » für ihr Vorgehen. Allgemein bemängelten die Atomkraftwerkgegner die auf frühere Verhältnisse abgestimmte Atomgesetzgebung. Gefordert wurde eine « Demokratisierung des Atomrechts », wobei man das stufenweise Bewilligungsverfahren kritisierte, das eine « Politik der vollendeten Tatsachen » begünstige. Auf der anderen Seite berief man sich auf den Rechtsstaat als wichtigste Stütze der Demokratie. Eine Änderung der Rechtsordnung dürfe allein mit den verfassungskonformen Mitteln dieses Rechtsstaates angestrebt werden [28]. Während einer ausgedehnten Nationalratsdebatte, welche im Zeichen von Kaiseraugst stand, betonte Bundesrat Ritschard unter dem Beifall des Rates das Primat der Rechtsstaatlichkeit als Lebensbedingung der Demokratie [29].
Auch in anderen Kantonen organisierten sich die Gegner des Atomkraftwerkbaues. So bildeten sich « Gewaltfreie Aktionen » gegen die Projekte von Graben (BE) und Inwil (LU). Zwischen jener von Graben und dem bernischen Regierungsrat kam ein erstes Gespräch zustande [30]. Mehrere der 1974 lancierten Volksinitiativen wurden eingereicht, für neue die Unterschriftensammlung aufgenommen. Im Kanton St. Gallen wurden Initiativen « gegen den unverantwortlichen Atomkraftwerkbau » sowie « für eine massvolle Energiepolitik » von Regierung und Parlament als bundesrechtswidrig und damit ungültig erklärt, was die POCH zur Einreichung einer staatsrechtlichen Beschwerde beim Bundesgericht veranlasste [31]. Auf eidgenössischer Ebene lancierte ein überparteilicher Ausschuss die Initiative « zur Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen » : Voraussetzung zur Konzessionserteilung für Atomanlagen wären sowohl die Zustimmung der Stimmberechtigten von Standortgemeinde und angrenzenden Gemeinden, als auch der Stimmbürger jedes Kantons, dessen Gebiet nicht mehr als 30 km von der Anlage entfernt liegt. Eine der GAGAK nahestehende Gruppierung kündigte zudem eine Petition an, in der ein vierjähriger Baustop für alle schweizerischen Kernkraftwerke verlangt wird [32]. Die SP setzte sich für die Revision des Bundesgesetzes von 1959 über die friedliche Verwendung der Atomenergie und den Strahlenschutz (Atomgesetz) ein. Das EVED beauftragte darauf eine Expertenkommission mit der Ausarbeitung eines Vorentwurfs zu einem neuen Atomgesetz [33]. Ungeachtet aller Widerstände erteilte der Bundesrat gegen Jahresende die erste Teilbaubewilligung für das Kernkraftwerk Leibstadt (AG) [34].
 
[10] Zur Antiatomenergiewelle und über die Ballung von Atomkraftwerken : SPJ, 1974, S. 88 f. Aktionen : In den Kantonen BL und BS wurden die 1974 lancierten Volksinitiativen gegen Atomkraftwerke eingereicht, vgl. SPJ, 1974, S. 89 sowie unten, Teil II, 4a. Vgl. zudem ein Postulat Alder (Idu, BL) in Amtl. Bull. NR, 1975, S. 566 f. Zur Vorgeschichte von Kaiseraugst bis zur Besetzung vgl. 24 Heures, 94, 24.4.75 ; BN, 98, 28.4.75.
[11] Vgl. die Presse vom 1.-2.4.75 sowie TA, 77, 4.4.75 ; 79, 7.4.75 ; TG, 77. 4.4.75. Zur GAK vgl. auch SPJ, 1974, S. 89.
[12] Zu einer entsprechenden Befragung vgl. NZ, 143, 10.5.75. Eine spätere Befragung liess auf ein zunehmendes Verständnis für die Anliegen der Atomkraftwerkgegner schliessen ; vgl. NZ, 205, 4.7.75.
[13] NZZ, 70, 25.3.75 ; 75, 2.4.75 ; 93, 23.4.75 ; 95, 25.4.75 ; 108, 13.5.75 ; NZ, 110, 9.4.75 ; 206, 5.7.75 ; LNN, 83, 11.4.75 ; TA, 110, 15.5.75 ; Vat., 134, 13.6.75. Vgl. auch oben, Teil I, 1b (Ordre public).
[14] Demonstration in Kaiseraugst : Presse vom 7.4.75 ; in Bern : Presse vom 28.4.75.
[15] GAGAK : NZZ, 75, 2.4.75 ; 171, 26.7.75 ; NZ, 193, 23.6.75 ; 233, 28.7.75 ; TA, 160, 14.7.75 ; vgl. auch eine Broschüre der « Revolutionären Gruppe Basel » vom 5.4.75, Kein Atomkraftwerk in Kaiseraugst ! Nationale Aktion : BN, 93, 22.4.75 ; TA, 92, 22.4.75.
[16] NZZ (sda), 83, 11.4.75 ; 89, 18.4.75.
[17] BN, 83, 10.4.75 ; TG, 82, 10.4.75 ; Bund, 112, 16.5.75.
[18] NZ, 148, 14.5.75 ; 149, 15.5.75 ; TA, 109, 14.5.75. Zuvor hatte eine Konferenz einer Regierungsdelegation der nordwestschweizerischen Kantone mit dem BR stattgefunden (Presse vom 19.4.75).
[19] NZ, 105, 5.4.75 ; 109, 8.4.75 ; NZZ (sda), 81, 9.4.75 ; 104, 7.5.75 ; BN, 85, 12.4.75. Vgl. auch die Presse vom 3.5.75 und vom 23.5.75.
[20] Presse vom 17.4.75.
[21] NZ, 136, 3.5.75 ; 158, 24.5.75 ; 172, 5.6.75 ; TA, 117, 24.5.75 ; 132, 11.6.75 ; BZ, 127, 4.6.75 ; JdG, 127, 4.6.75 ; NZZ (sda), 128, 6.6.75 ; 131, 10.6.75 ; 24 Heures, 133, 11.6.75 ; 134, 12.6.75 ; SZ, 132, 11.6.75.
[22] NZ, 170, 3.6.75 ; NZZ, 125, 126, 127, 3.-5.6.75 ; BN, 127, 4.6.75.
[23] Presse vom 9.6.75. Vgl. auch die Presse vom 10.5.75 und 16.5.75.
[24] Gespräch : Presse vom 5.7.75 ; vgl. auch die Presse vom 19.11.75 (2. Gespräch). Baubewilligung : Ldb, 265, 15.11.75 ; NZ, 356, 15.11.75.
[25] NZZ, 75, 2.4.75 ; 84, 12.4.75 ; 126, 4.6.75 ; 156, 9.7.75 ; IdG, 84, 12.4.75 ; SZ, 90, 19.4.75 ; TA, 106, 10.5.75 ; Bund, 127, 4.6.75 ; 24 Heures, 154, 5.7.75. Vgl. auch H. Bergmaier, « Aktuelle Betrachtungen zu Kernenergie und Energiepolitik » in Wirtschaftspolitische Mitteilungen, 31/1975, Nr. 11 ; E. Hugentobler, « Für eine rationale Energiepolitik in der Schweiz », in SAZ, 70/1975, S. 565 f. Vgl. ferner oben, Anm. 6. Zu, den Argumenten der Atomkraftwerkgegner und -befürworter vgl. zudem SPJ, 1970, S. 100 f. ; 1971, S. 97 f. ; 1972, S. 86 f. ; 1973, S. 82 ff. ; 1974, S. 88 f.
[26] Ldb, 89, 19.4.75 ; Vat., 111, 15.5.75 ; 24 Heures, 117, 23.5.75 ; NZZ, 117, 24.5.75 ; Ww, 22, 4.6.75 ; 46, 19.11.75 ; TA, 267, 17.11.75 ; « Keine Kernkraftwerke auf Vorrat », in Plan, 32/1975, Nr. 12, S. 11.
[27] BR Ritschard : LNN, 117, 23.5.75 ; vgl. auch Amtl. Bull. StR, 1975, S. 282. Genf : JdG, 134, 12.6.75. Symposium : Bund, 270, 18.11.75. Zur Informationsproblematik vgl. ebenfalls SPJ, 1974, S. 89.
[28] Zu dieser umfassenden, zum Teil von namhaften Rechtswissenschaftern geführten Diskussion vgl. Bund, 83, 11.4.75 ; 84, 13.4.75 ; 102, 4.5.75 ; Ldb, 83, 12.4.75 ; NZZ, 90, 19.4.75 ; 95, 25.4.75 ; 129, 7.6.75 (Prof. W. Kägi) ; 24 Heures, 109, 13.5.75 (Prof. J-F. Aubert) ; gk, 20, 12.6.75 (Prof. R. Bäumlin) ; TA, 135, 14.6.75. Zum Bewilligungsverfahren für Atomkraftwerke allgemein vgl. wf, Dokumentations- und Pressedienst 25, 23.6.75. über die Problematik von Rechtsstaat und Demokratie vgl. auch oben, Teil I, 1b (Ordre public).
[29] Die Debatte wurde durch 15 parlamentarische Vorstösse ausgelöst, darunter eine vom BR als Postulat entgegengenommene Motion Jaeger (Idu, SG) und ein Postulat Oehler (clip, SG) : Amtl. Bull. NR, 1975, S. 857 ff. Das Parlament überwies zudem zwei Petitionen aus Kreisen der Atomkraftwerkgegner zur Berücksichtigung bei einer Revision des Atomgesetzes an den BR (Amtl. Bull. NR, 1975, S. 970 f. ; Amtl. Bull. StR, 1975, S. 620 f.). Vgl. ferner O. Reck, « Les leçons de Kaiseraugst », in L. Rebeaud, La Suisse qu'ils veulent, Lausanne 1975 ; A. Muschg, Von Herwegh bis Kaiseraugst, Zürich 1975.
[30] Gewaltfreie Aktionen : Vat., 95, 25.4.75 ; 131, 10.6.75 ; AZ, 132, 10.6.75. Gespräch : SZ, 275, 27.11.75.
[31] TA, 20, 25.1.75 ; Ostschw., 83, 11.4.75 ; 105, 7.5.75 ; Vat., 132, 11.6.75. Zu ähnlichen Initiativen in den Kantonen NE und ZH vgl. NZZ (sda), 161, 15.7.75 ; JdG, 175, 30.7.75 ; vgl. auch unten, Teil II, 4a.
[32] Volksbegehren : vgl. die Presse vom 10.6.75. Petition : vgl. die Presse vom 9.10.75.
[33] NZZ (sda), 98, 29.4.75 ; 208, 9.9.75.
[34] BBI, 1975, II, Nr. 52, S. 2328. Zum Widerstand vgl. NZZ, 291, 15.12.75.