Année politique Suisse 1976 : Economie / Politique économique générale / Konjunkturpolitik
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Konjunkturartikel
Obwohl im Vorjahr der Entwurf zu einem neuen Konjunkturartikel 31 quinquies BV am Ständepatt gescheitert war, zeigten sich die Behörden nach wie vor von der Notwendigkeit der verfassungsmässigen Verankerung der Konjunkturpolitik überzeugt. Die bestehenden Rechtsgrundlagen seien insbesondere für die Dämpfung einer überhitzten Konjunktur ungeeignet, aber auch eine aktive Wiederankurbelungspolitik in Rezessionszeiten stosse rasch an die Grenzen der Verfassungskonformität. Das übergeordnete Ziel staatlicher Wirtschaftspolitik soll nach Ansicht der Landesregierung in der Garantie einer stabilen Wirtschaftsentwicklung bestehen, worunter vor allem ein angemessenes Wachstum unter Berücksichtigung der Vollbeschäftigung, der Preisstabilität und des Zahlungsbilanzgleichgewichtes zu verstehen ist. Dieses Stabilitätsziel will man aus ordnungspolitischen Gründen vorzugsweise über die sogenannte Globalsteuerung erreichen ; der Staat soll also — ausser in extremen Notfällen — nicht direkt in den Wirtschaftsprozess intervenieren, sondern über die Beeinflussung der Rahmenbedingungen ein möglichst reibungsloses Funktionieren der privaten Wirtschaft gewährleisten.
Der vom Bundesrat am 27. September vorgelegte zweite Entwurf für einen Konjunkturartikel sieht demzufolge nur noch in den drei « klassischen » Massnahmebereichen Geld- und Kreditpolitik, öffentliche Finanzen und Aussenwirtschaft Eingriffe vor, welche von der in Artikel 31 BV garantierten Handels- und Gewerbefreiheit abweichen dürfen. Mit diesem Verzicht auf zusätzliche Interventionsmöglichkeiten trug der Bundesrat der bürgerlichen Opposition gegen den ersten Konjunkturartikel weitgehend Rechnung. Da er allerdings überzeugt war, dass sich die erwähnten globalen Steuerungsmethoden in vielen Situationen als ungenügend erweisen werden, stellte er auch für die Zukunft die Möglichkeit eines Rückgriffs auf den Notrechtsartikel 89 bis Absatz 3 in Aussicht. Als konjunkturpolitische Neuheit soll dem Bund die Kompetenz eingeräumt werden, die Unternehmungen zur Bildung von Arbeitsbeschaffungsreserven zu verpflichten. In diesen steuerbegünstigten Rücklagen sieht der Bundesrat eine sinnvolle staatliche Unterstützung privater Selbsthilfeaktivitäten. Da sich Globalmassnahmen (insbesondere bei der Dämpfung von Überkonjunktur) für wirtschaftlich rückständige Gebiete oft übermässig einschneidend auswirken können, soll die Klausel, welche eine regionale Differenzierung der Interventionen erlaubt, materiell unverändert aus dem ersten Entwurf übernommen werden. Bei der Interpretation des Abstimmungsmisserfolgs der ersten Vorlage mass man den Stimmen, welche eine Beeinträchtigung des föderalistischen Prinzips beklagt hatten, grosse Bedeutung bei. Aus diesem Grunde wurden nun bei den finanzpolitischen Kompetenzen des Bundes diejenigen Bestimmungen gestrichen, welche die Souveränität der Kantone und Gemeinden in irgendeiner Weise tangierten. Dies betraf insbesondere das Recht auf Anpassung der Bundesbeiträge und der Kantonsanteile an die jeweilige Konjunkturlage. Mit diesem abstimmungspolitisch wohl notwendigen Rückzieher verzichtet der Bund auf ein wirkungsvolles Mittel zur Verpflichtung der Kantone und Gemeinden zu einer konjunkturgerechten Finanzpolitik. Im Vergleich zur früheren Fassung soll ebenfalls auf die Erhebung von Sonderabgaben sowie auf die Variierung der steuerwirksamen Abschreibungsmöglichkeiten (ein Instrument zur Beeinflussung auch solcher Unternehmen, die nicht auf den inländischen Geld- und Kapitalmarkt angewiesen sind) verzichtet werden [20].
Die neue Fassung des Konjunkturartikels, welcher selbst nach Bundesrat Brugger in dieser Form nur für eine Politik während normalen, ruhigen Phasen taugen wird, vermochte in der Öffentlichkeit wenig Begeisterung zu erzeugen [21]. Grundsätzliche Opposition meldete sich aber kaum an. Wohl ging die SP in ihren konjunkturpolitischen Vorstellungen bedeutend weiter als die bundesrätliche Vorlage ; sie beschränkte sich aber darauf, einzig den Wegfall des Instruments der Sonderzuschläge zu bedauern. Da die PdA die vorgesehenen Kompetenzen als absolut ungenügend erachtete, benutzte sie die Gelegenheit, ihre im Jahre 1974 eingereichte Volksinitiative « gegen Teuerung und Inflation » in Erinnerung zu rufen [22]. Die CVP, die SVP und der Bauernverband bedauerten den Verzicht auf Bestimmungen über eine wirksame regionale Strukturpolitik [23]. Auch die Exponenten der Wirtschaft und des Gewerbes beschränkten sich auf Detailkritik ; nicht zuletzt hatte wohl Bundesrat Brugger dazu beigetragen, indem er wiederholt diejenigen Kreise tadelte, welche zwar in Rezessionszeiten nach staatlicher Hilfe rufen, aber « in der Hochkonjunktur jede staatliche Konjunkturpolitik ablehnten und von einer Einmischung in die Marktwirtschaft und in die Handels- und Gewerbefreiheit sprachen » [24]. So wendete sich denn der Schweizerische Gewerbeverband nur gegen eine allzu weitgehende Auslegung des Absatzes, welcher eine Berücksichtigung der regionalen Entwicklungsunterschiede vorsieht, während der Vorort seinen Widerstand gegen das Obligatorium der Bildung von Arbeitsbeschaffungsreserven anmeldete. Letzterer machte allerdings aus seiner Auffassung kein Hehl, dass er sich vom Ausbau des Notenbankinstrumentariums bessere Resultate für die Konjunkturpolitik erhofft [25].
 
[20] Botschaft über einen Konjunkturartikel in der Bundesverfassung (BBI, 1976, III, S. 677 ff.). Für den ersten Entwurf vgl. SPJ, 1975, S. 63 ff. Zu den Zielen der Wirtschaftspolitik vgl. B. Gerber, Stabilitätspolitik — Vollbeschäftigung, Preisniveaustabilität und Zahlungsbilanzgleichgewicht im wirtschaftspolitischen Spannungsfeld, Bern und Stuttgart 1976. Zur Handels- und Gewerbefreiheit : H. Marti, Die Wirtschaftsfreiheit der schweizerischen Bundesverfassung, Basel 1976.
[21] BR Brugger : BüZ, 240, 12.10.76 ; vgl. ebenfalls E. Buschor, « Probleme der finanzpolitischen Konjunkturstabilisierung », in Wirtschaftspolitische Mitteilungen, 32/1976, Nr. 3.
[22] SP : TW, 189, 14.8.76 ; für ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen vgl. im weiteren die als Postulat überwiesene Motion der SP-Fraktion (Amtl. Bull. NR, 1976, S. 508 ff.) sowie Lilian Uchtenhagen, « Zur wirtschaftlichen Standortbestimmung der SP », in Profil, 56/1977, S. 69 ff. PdA : VO, 168, 24.7.76 ; SPJ, 1974, S. 60.
[23] Vat., 164, 17.7.76 (CVP) ; BZ, 23.7.76 (SVP) ; NZZ (sda), 180, 4.8.76 (SBV).
[24] BR Brugger an der Delegiertenversammlung der FDPS in Schaffhausen (Documenta, 1976, Nr. 2, S. 22 ff.) ; ähnlich auch am Gewerbekongress in Interlaken (Documenta, 1976, Nr. 3, S. 2 f.).
[25] SGV : Schweiz. Gewerbe-Zeitung, 29, 22.7.76. Vorort : NZZ, 217, 16.9.76 (Arbeitsbeschaffungsreserven) ; wf, Dok., 30/31, 26.7.76 (Notenbankinstrumentarium).