Année politique Suisse 1976 : Infrastructure, aménagement, environnement / Energie / Energiepolitik
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Gesamtenergiekonzeption
Konkretere Grundlagen erhielt die energiepolitische Diskussion durch die Tätigkeit der 1974 vom EVED eingesetzten Kommission für die Gesamtenergiekonzeption (GEK). Wohl wurde weiterhin Kritik an deren Zusammensetzung geübt, welche im Austritt des vorwiegend ökologisch orientierten Prof. Maystre kumulierte ; im allgemeinen wurde ihr aber ein rasches Arbeitstempo bescheinigt [2].
Der von der Kommission im Mai veröffentlichte Zwischenbericht beinhaltet in erster Linie Prognosen des zukünftigen Energiebedarfs und Beurteilung der Möglichkeiten der Deckung dieses Bedarfs bis 1985. Daneben wurde ein Katalog von Energiesparmassnahmen mit entsprechenden Empfehlungen an die Behörden erarbeitet. Bei der Prognose des Gesamtenergiekonsums wird mit einer mittleren jährlichen Zuwachsrate von 2,4 % bei ungesteuerter Entwicklung, resp. 1,8 % bei gelenkter Entwicklung gerechnet. Dies bedeutet eine erhebliche Reduktion gegenüber früheren Voraussagen. Immerhin ergibt sich auch bei der von der Kommission bevorzugten gesteuerten Entwicklung eine Vermehrung des Energiebedarfs von 75 % bis zum Jahre 2000. Innerhalb der nächsten zehn Jahre wird eine Nachfrageerhöhung um 35 % prognostiziert. Da bis zum Jahre 1985 die sog. alternativen Energien (vor allem Sonnenenergie) kaum einen erwähnenswerten Beitrag an die Energieversorgung werden leisten können, wird nach Ansicht der Kommission der Zuwachs an elektrischer Energie (+ 51 %) und Gas (+ 280 %) überdurchschnittlich ausfallen müssen. Dies deshalb, weil neben der Bedarfsdeckung eine Reduktion der Erdölabhängigkeit angestrebt werden soll. Das Erreichen des kurzfristigen energiepolitischen Zieles — Deckung des prognostizierten zusätzlichen Bedarfs und Verminderung des Erdölanteils — wird vom Zwischenbericht in erster Linie von der Inbetriebnahme von vier weiteren Atomkraftwerken bis zur Mitte der achtziger Jahre abhängig gemacht [3].
Der Zwischenbericht fand in der Presse ein vorwiegend positives Echo ; nicht zuletzt wurde ihm Ausgewogenheit attestiert. Bei den interessierten Organisationen war die Aufnahme kontroverser : Während sich die Exponenten der herkömmlichen dominierenden Energien (Erdöl, Elektrizität, Gas) zustimmend äusserten, betrachteten sich die Vertreter der Kohlen- und der Sonnenenergie — denen nur ein Anteil von 1,9 %, resp. 0,5 % prognostiziert worden war — bewusst vernachlässigt [4]. Kreise des Umweltschutzes und der Kernkraftwerkgegner vermissten Studien zu einer Variante mit dem Null-Energiewachstum und wurden von der Kommission auf den für Sommer 1977 angekündigten Schlussbericht verwiesen [5]. Breite Kritik fand der Verzicht der Kommission auf Vorbereitung und Empfehlung eines dringlichen Bundesbeschlusses betreffend Sparmassnahmen. Dies umsomehr, als auch die Internationale Energieagentur (IEA) den eidgenössischen Behörden eine ungenügende Energiespartätigkeit vorgeworfen hatte [6]. Die Berechtigung dieser internationalen Kritik wurde vom Bundesrat anerkannt, der in diesem Zusammenhang allerdings auf seine fehlenden Kompetenzen zu energiepolitischer Aktivität hinwies, welche ihm nur die Herausgabe von Empfehlungen ermöglichten. Immerhin bezeugte er seinen guten Willen durch den Erlass eines provisorischen Wärmehaushaltskonzeptes für die eidgenössischen Bauten, welches in der Folge auch von den Behörden einzelner Kantone übernommen wurde [7].
Das Überdenken der Kompetenzordnung drängte sich aber nicht nur für den Bereich der Sparmassnahmen, sondern für die gesamte Energiepolitik auf. So gilt es u.a., sich über Mittel und Massnahmen zur Erreichung der allgemein anerkannten Ziele der Erdölsubstitution und der vermehrten Erforschung sog. alternativer Energien zu einigen [8]. Neben der grundlegenden Frage nach dem Ausmass der staatlichen Eingriffe in den Energiesektor wartet auch das Problem der Aufgabenverteilung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden auf eine Lösung [9]. Die Frage, ob zu diesem Zwecke die geltenden Verfassungsbestimmungen genügen oder ob ein spezieller Energieartikel in die Verfassung aufzunehmen ist, dürfte die energiepolitische Diskussion der nächsten Jahre entscheidend prägen. Der ersten Ansicht neigen vor allem der Vorort (gestützt auf ein Gutachten von Prof. Eichenberger), die FDP und die Elektrizitätswirtschaft zu ; für einen eigenständigen Energieartikel sprachen sich bisher die Vertreter der Gaswirtschaft und auch die Schweizerische Gesellschaft für Umweltschutz (SGU) aus, welche gleich einen diesbezüglichen Textvorschlag unterbreitete [10]. Während sich die Kommission für die GEK zur Notwendigkeit eines Verfassungsartikels erst in ihrem Schlussbericht aussprechen wird, lassen die Stellungnahmen von Bundesrat Ritschard, welcher « handfeste Kompetenzen » für den Bund forderte, und der Erdölwirtschaft, welche ihre Opposition gegen jegliche staatliche Beeinflussung der Energieversorgung ankündigte, eine harte Auseinandersetzung erwarten [11].
 
[2] Zu Zusammensetzung und Auftrag der Kommission vgl. SPJ, 1974, S. 86. Kritik an Zusammensetzung : TW, 129, 4.6.76 ; TA, 147, 28.6.76. Gründe für den Rücktritt von Prof. Maystre : 24 heures, 134, 11.6.76 ; Ldb, 133, 12.6.76. Replik der Kommission : BüZ, 155, 5.7.76 ; 159, 9.7.76. Zum energiepolitischen Konzept von Prof. Maystre vgl. auch Y. Maystre, «Une conception globale de l'énergie », in Revue économique et sociale, 34/1976, S. 169 ff.
[3] Eidg. Kommission für die Gesamtenergiekonzeption, Zwischenbericht, Bern 1976. Bei den vier bereitzustellenden Kernkraftwerken handelt es sich um Gösgen-Däniken, Leibstadt, Kaiseraugst und Graben. (Zwischenbericht, S. 93 f.) Zum Problem der Prognostizierung des Energiebedarfs vgl. auch H. Lienhard, Die schweizerische Elektrizitätswirtschaft, Eine Analyse gegenwärtiger und zukünftiger Probleme, Bern und Stuttgart 1976, S. 159 ff. Frühere Prognosen rechneten mit einer Verdreifachung des Energiebedarfs bis zur Jahrhundertwende ; vgl. SPJ, 1972, S. 83.
[4] Vgl. Presse vom 4.6.76. — Erdöl, Elektrizität, Gas : NZZ (sda), 145, 24.6.76. Kohlenenergie : LNN, 272, 20.11.76 ; ebenfalls Inseratenkampagne der Aktion Pro Kohle in der Presse vom November und Dezember 1976. Sonnenenergie : TA, 147, 28.6.76 ; FA, 67, 20.7.76. Umweltschutz : Schweiz. Gesellschaft für Umweltschutz, Bulletin, 1976, Nr. 2 ; Ldb, 135, 15.6.76.
[5] A-Werk-Gegner: TW, 131, 8.6.76 ; NZ, 211, 9.7.76. Null-Wachstumsstudie : NZ, 100, 29.3.76 ; Ldb, 74, 30.3.76 ; NZZ, 85, 10.4.76.
[6] Kritik am Verzicht auf dringlichen Bundesbeschluss : NZ, 101, 30.3.76 ; 24 heures, 129, 4.6.76 ; LNN, 150, 29.6.76. Zur Kritik der IEA : Interpellation Monique Bauer (lib., GE), Amtl. Bull. NR, 1976, S. 232 ff.; NZZ, 224, 24.9.76 ; SZ, 223, 24.9.76. Zu den Beziehungen der Schweiz zur IEA vgl. auch SPJ, 1974, S. 34 f. und S. 69 f.
[7] Reaktion des BR : Amtl. Bull. NR, 1976, S. 233 ; TA (sda/ddp), 224, 25.9.76 ; vgl. dazu auch die diversen Reden von BR Ritschard in Documenta, 1976, Nr. 2, S. 2 ff. ; Nr. 3, S. 13 ff. ; SZ, 126, 1.6.76 ; TW, 126, 1.6.76. Wärmehaushaltkonzepte : NZZ (sda), 15, 20.1.76 (Schweiz) ; JdG, 236, 9.10.76 u. SZ, 240, 14.10.76 (Kt. Bern).
[8] Für den aktuellen Stand der energiepolitischen Kompetenzordnung vgl. H. U. Müller-Stahel, « Grundlagen einer schweizerischen Energiepolitik — rechtliche Aspekte », in Zur Energiepolitik, S. 6 ff. ; ebenfalls M. Piguet, « Les compétences fédérales en matière énergétique », in Wirtschaft und Recht, 28/1976, S. 414 ff. Zum Problemkreis Substitution über Markt- oder Interventionsmechanismen vgl. H. Lienhard, « Substitution — Wunsch oder Wirklichkeit », in Elektrizitätswirtschaft, 51/1976, S. 273 ff. Erforschung alternativer Energien : vgl. Postulat Pedrazzini (cvp, TI) betreffend Errichtung eines eidg. Instituts für Sonnenenergie bei Locarno (Amtl. Bull. NR, 1976, S. 1257 f.), ferner NZ (Panorama), 331, 23.10.76.
[9] Vgl. H. Peter, «Instrumente einer schweizerischen Energiepolitik — der Vollzug auf kantonaler Ebene », in Zur Energiepolitik, S. 140 ff. Im Sinne einer Anregung der GEK-Kommission begannen einige Kantone vermehrt energiepolitisch aktiv zu werden. Zu einem Konzept des Kantons AG, welches sich in erster Linie mit der Erdölsubstituierung und -einsparung befasst, vgl. TA, 11, 15.1.76 ; NZ, 16, 16.1.76 ; FA, 70, 24.3.76.
[10] Vorort: B. Wehrli, « Der Energieartikel der Bundesverfassung », in Zur Energiepolitik, S. 123 ff. ; wf, Dok., 8, 23.2.76. Gutachten Prof. Eichenberger : SAZ, 71/1976, S. 683 ; Vat., 223, 24.9.76. FDP : LNN, 273, 22.11.76; FDP-Information, 1976, Nr. 4, S. 21. Elektrizitätswirtschaft : Verband Schweiz. Elektrizitätswerke (VSE), Bulletin, 67/1976, S. 118 ff. ; 24 heures, 239, 13.10.76. Gaswirtschaft : TA, 164, 17.7.76; Bund, 226, 27.9.76. SGU : B. Wehrli, « Der Energieartikel der Bundesverfassung », in Zur Energiepolitik, S.131 ff.
[11] BR Ritschard : vgl. Documenta, 1976, Nr. 2, S. 2 ff. (insbes. S. 7). Erdölvereinigung : Tat, 154, 2.7.76 ; NZZ, 153, 2.7.76 ; 188, 6.8.76.