Année politique Suisse 1976 : Infrastructure, aménagement, environnement / Energie
Kernenergie
War die Auseinandersetzung um den Kemkraftwerkbau im Jahre 1975 durch die Ereignisse in Kaiseraugst und der damit von weiten Kreisen befürchteten Gefährdung des Rechtsstaates geprägt gewesen, so bewegte sie sich im Berichtsjahr wieder in streng rechtsstaatlichen Formen, was nun aber keineswegs in dem Sinn zu deuten ist, dass sich die Positionen der beteiligten Gruppierungen in irgendwelcher Form geändert hätten. Eher ist man versucht, von einer Art « drôle de guerre » zu sprechen
[13].
Die von den Atomkraftwerkgegnern im Vorjahr lancierte eidgenössische
Volksinitiative « zur Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen » wurde im Mai mit über 120 000 Unterschriften eingereicht. Dieser Vorstoss soll nach seinen Initianten eine Demokratisierung der energiepolitischen Entscheidungsprozesse gestatten ; Befürworter des Atomkraftwerkbaus befürchten von dem vorgeschlagenen Abstimmungsprozedere ein de facto-Verbot für die Errichtung weiterer atomarer Anlagen
[14]. Auf kantonaler Ebene kam es in Neuenburg und in Schaffhausen zur Einreichung von Volksinitiativen, welche eine Volksabstimmung vor der Errichtung von Kernkraftwerken (NE) resp. ein generelles Verbot derartiger Anlagen (SSI) auf dem Kantonsgebiet fordern
[15]. Zwei ähnliche, im Vorjahr im Kanton St. Gallen eingereichte Initiativen wurden vom Bundesgericht wegen Unvereinbarkeit mit dem kantonalen Recht für ungültig erklärt. Gegen die 1974 zustandegekommene Kernkraftwerksverbotinitiative im Kanton Baselstadt wurde kurz vor der Volksabstimmung Rekurs mit aufschiebender Wirkung beim Bundesgericht eingereicht ; die von den Initianten durchgeführte inoffizielle Konsultativabstimmung brachte ein überwältigendes Mehr für die Vorlage
[16]. Im Nationalrat reichte B. Meizoz (sp, VD) im Sinne eines Beschlusses des SP-Parteitags von 1976 eine Einzelinitiative ein, welche einen Baustop für Atomanlagen bis 1981 verlangt
[17].
Die mit den Vorarbeiten zur
Revision des Atomgesetzes beauftragte Juristenkommission präsentierte im August ihren Entwurf für eine Teilrevision, der als wichtigste Merkmale die Konzessionspflicht (anstelle der heutigen Bewilligung) und den Bedarfsnachweis für die Erstellung von Atomanlagen beinhaltet. Im Gegensatz zur bestehenden Regelung, welche die Bewilligung allein an die Einhaltung technischer Bestimmungen knüpft, will der Entwurf also auch volkswirtschaftliche und politische Kriterien in das Genehmigungsverfahren einbeziehen. Zur Frage, ob die Konzession von der Exekutive oder von der Bundesversammlung erteilt werden soll, will der Bundesrat erst nach dem Vernehmlassungsprozedere Stellung nehmen. Während bereits in der Sommersession die SP und der LdU noch weitergehende Veränderungen vorgeschlagen hatten, indem sie zusätzlich ein Mitspracherecht der betroffenen Regionen postulierten, meldete die Elektrizitätswirtschaft grundsätzliche Bedenken gegen eine Atomgesetzrevision an
[18]. Da sich die Revisionsarbeiten über mehrere Jahre hinziehen dürften, hat der Bundesrat gegen Jahresende den Entwurf zu einem befristeten Bundesbeschluss in die Vernehmlassung gegeben, welcher im wesentlichen die Einführung des Bedarfsnachweises zum Gegenstand hat
[19]. Die Verschärfung der Bestimmungen des Atomgesetzes bezweckt im weiteren eine von beiden Räten überwiesene Motion von Doris Morf (sp, ZH), welche die massive Erhöhung der derzeit geltenden Haftpflichtsumme von 40 Mio Fr. fordert
[20].
Ungeachtet der politischen Auseinandersetzungen waren doch Fortschritte bei der
Erstellung von Kernkraftwerken zu verzeichnen. Am weitesten entwickelt ist die Anlage in Gösgen-Däniken (SO) : im Berichtsjahr konnte der Rohbau vollendet werden, die Betriebsaufnahme ist für den Mai 1978 vorgesehen. Nachdem das EVED Ende 1975 die erste Teilbaubewilligung für das Kernkraftwerk Leibstadt (AG) ausgesprochen hatte, wurde unverzüglich auch hier mit den Bauarbeiten begonnen ; diversen Beschwerden anerkannte der Bundesrat keine aufschiebende Wirkung zu
[21]. Weiterhin verzögert wurde der Baubeginn bei Kaiseraugst (AG). Das Eidg. Amt für Energiewirtschaft bestätigte sein anlässlich der Expertengespräche abgegebenes Versprechen, die erste Teilbaubewilligung nicht vor dem Erscheinen der Untersuchung über die klimatischen Auswirkungen des Kernkraftwerkbaus in der Region Basel zu erteilen. Dass die Bauherrschaft allerdings nicht mit einer Verweigerung der Bewilligung rechnet, wird durch die Fortführung der vorbereitenden Bauarbeiten bezeugt
[22]. Bei der Anlage in Graben hält die bernische Regierung nach wie vor an einer Betriebsaufnahme zwischen 1983 und 1985 fest. In Anbetracht der Revision des Atomgesetzes und der darin vorgesehenen Bedarfsklausel könnte sich diese Prognose als zu optimistisch erweisen. Da bereits bis zum Sommer 1976 in dieses Projekt 47 Mio Fr. investiert wurden, erhob sich in der Öffentlichkeit mit Nachdruck die Frage nach den finanziellen Auswirkungen einer Bauverzögerung
[23]. Im Kanton Genf opponierten die Regierung und die Bevölkerung erfolglos gegen die 1974 erteilte Standortbewilligung für ein Atomkraftwerk in Verbois (GE) ; diesbezügliche Einsprachen wies der Bundesrat ab. Beunruhigt zeigten sich die Genfer ebenfalls über das Projekt eines sogenannten « Schnellen Brüters » in der französischen Grenzregion (Malville). Hier zeigte sich erneut, wie zuvor schon in Kaiseraugst und Rüthi (SG), dass die Angst vor Atomanlagen auch vor den Landesgrenzen nicht Halt macht
[24].
Für die Versorgung der Kernkraftwerke mit Brennstoff dürfte mit der Unterzeichnung des Atomsperrvertrags ein drohendes Hindernis aus dem Weg geräumt worden sein
[25]. Bedeutend grössere Probleme sowohl politischer als auch technischer Art zeichnen sich bei der
Lagerung der radioaktiven Abfälle ab. Die Reaktionen in den von der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (NAGRA) für Sondierbohrungen vorgesehenen Regionen deuten auf ebenso grosse Widerstände wie beim Kernkraftwerkbau selbst hin. Die Stellungnahmen der betroffenen Kantone, welche sich im Herbst zu Koordinationsgesprächen trafen, sollen zwar bei der Bewilligungserteilung berücksichtigt werden, die Entscheidungskompetenz liegt aber beim Eidg. Amt für Energiewirtschaft
[26].
Im Verlauf des Jahres traten zwei neue Gruppierungen mit dem Anspruch der objektiven Meinungsbildung über Energiefragen in die Öffentlichkeit : das vorwiegend aus eidgenössischen Parlamentariern gebildete Energieforum Schweiz, welches sich mit Vorbehalten für die Verwendung von Kernenergie einsetzt, und die von Nationalrat F. Jaeger (ldu, SG) präsidierte Schweizerische Energiestiftung (SES), welche ein Gegengewicht zur Energiewirtschaft bilden will
[27].
[13] Zum Vorjahr vgl. SPJ, 1975, S. 100 ff: und 14 f. Zum Organisationsstand und den Positionen der Kernkraftgegner vgl. « Bewegung gegen Atomkraftwerke, Kaiseraugst in der ganzen Schweiz », in Focus, 1976, Nr. 71, S. 15 ff. Die GAGAK drohte am 19.12. die Besetzung in Kaiseraugst wieder aufzunehmen (vgl. Presse vom 20.12.76). Für die unveränderte Haltung der Befürworter von Atomanlagen vgl. u.a. den Zwischenbericht der GEK-Kommission.
[14] Lancierung : SPJ, 1975, S. 103. Einreichung : BBI, 1976, II, S. 1126 ff. ; Presse 'vom 21. und 22.5.76. Stellungnahme von Kemkraftbefürwortern : wf, Dok., 21, 24.5.76 ; NZ, 119, 15.4.76 ; NZZ, 131, 10.6.76 ; Ch. Babaiantz, Quelques considérations sur la législation suisse relative d l'énergie nucléaire, Lausanne 1976, S. 29 ff. Eine Meinungsumfrage der Isopublic ergab eine gegenüber dem Vorjahr unveränderte Haltung der schweizerischen Bevölkerung : 56 % sprechen sich für, 36 % gegen Atomkraftwerke aus, die Bewohner der Nordwestschweiz manifestierten allerdings eine deutliche Ablehnung (JdG, 181, 5.8.76 ; TA, ddp, 27, 2.2.77).
[15] Volksinitiative NE : 24 heures, 6, 9.1.76 ; TLM, 134, 12.5.76 ; VO, 114, 20.5.76 ; 136, 17.6.76. Volksinitiative SH : NZZ, 152, 2.7.76 ; SZ, 154, 6.7.76.
[16] Volksinitiativen SG : SPJ, 1975, S. 103 ; Presse vom 5.2.76 ; Ostschw., 112, 15.5.76. Volksinitiative BS : SPJ, 1974, S. 89 ; NZ, 264, 25.8.76 ; 274, 3.9.76 ; 288, 13.9.76 ; 301, 27.9.76 ; NZZ (sda), 226, 27.9.76.
[17] Verhandl. B.vers., 1976, IV, S. 9 ; TW, 301, 23.12.76 ; SPS, Parteitag 76, Beschlussprotokoll, Bern 1976, S. 42 f.
[18] Auftrag der Juristenkommission : SPJ, 1975, S. 103. Entwurf und Eröffnung der Vernehmlassung : NZZ, 205, 2.9.76 ; 277, 25.11.76 ; 296, 17.12.76 ; Presse vom 1. und 2.9.76 sowie vom 15.12.76. Motionen der SP und des LdU (beide wurden als Postulate überwiesen) : Amtl. Bull. NR, 1976, S. 794 ff. Elektrizitätswirtschaft : Ch. Babaiantz, Quelques considérations..., S. 32 ff.
[19] Für die Ankündigung des befristeten Bundesbeschlusses vgl. die Presse vom 15.12.76.
[20] Amtl. Bull. NR, 1976, S. 1081 f. ; Amtl. Bull. StR, 1976, S. 578 ff. ; vgl. dazu auch FA, 34, 11.6.76.
[21] Gösgen-Däniken : NZZ, 260, 5.11.76. Leibstadt : BBI, 1975, II, S. 2328 ; NZ, 15, 15.1.76 ; NZ (sda), 30, 28.1.76 ; Ldb (sda), 26, 2.2.76 ; 24 heures (ats), 118, 21.5.76. Zu den allgemeinen rechtlichen Aspekten vgl. auch R. Zäch, « Präventivklage nach Art. 679 ZGB insbesondere gegen Kernkraftwerke », in Wirtschaft und Recht, 28/1976, S. 386 ff.
[22] Stellung des Energieamtes und sog. « Climod-Studie » : NZ, 394, 18.12.76 ; 399, 22.12.76 ; FA, 202, 24.12.76. Bauarbeiten : NZZ (sda), 305, 29.12.76 ; NZ, 405, 29.12.76. Zu den Expertengesprächen vgl. auch SPJ, 1975, S. 101 und Expertengespräche zur Frage der Atomkraftwerke in der Region Basel, Liestal 1975.
[23] Regierung : BN, 207, 4.9.76 ; NZZ (sda), 208, 6.9.76. Finanzielle Auswirkungen : TW, 36, 13.2.76 ; 212, 10.9.76 ; BZ, 43, 21.2.76 ; 52, 3.3.76 ; 140, 18.6.76. Der Präsident des VSE drohte mit einer massiven Mehrbelastung der Stromkonsumenten (Ch. Babaiantz, « Economie électrique et politique énergétique », in Revue économique et sociale, 34/1976, S. 153 ff.).
[24] Verbois : SPJ, 1974, S. 88 f. ; TG, 16, 21.1.76 ; VO, 17, 23.1.76. Eine Motion, welche Vorsprache beim BR zwecks Bemühungen um einen Baustop in Malville forderte, wurde vom Genfer Grossen Rat mit grossem Mehr überwiesen (TG, 143, 22.6.76 ; 282, 2.12.76 ; Bund, 298, 20.12.76). Allgemeines zum Problem der « Schnellen Brüter » : TA, 154, 6.7.76.
[25] Vgl. oben, Teil I, 2 (Traités).
[26] Zu den technischen Problemen der Atommüll-Lagerung vgl. u.a. NZZ, 220, 20.9.76 ; Regional-Zeitung, 1976, Nr. 7. Für die rechtlichen Aspekte vgl. auch LNN, 243, 18.10.76. Konzessionsgesuch der NAGRA : Bund, 145, 24.6.76 ; TG, 147, 26.6.76. Regionale Reaktionen : Airolo/ TI (GdP, 20, 26.1.76 ; Ldb, 125, 2.6.76 ; NZZ, sda, 206, 3.9.76), Bex/VD (24 heures, 1, 3.1.76: GdL, ats, 152, 3.7.76), Wabrig/AG (NZZ, sda, 176, 30.7.76 ; Tat, 208, 3.9.76 ; LNN, sda, 285, 6.12.76), Giswil/OW (LNN, 190, 17.8.76 ; NZ, 328, 21.10.76), Lenk/BE (TW, 247, 21.10.76 ; 294, 15.12.76). Koordinationssitzung der Kantone : LNN, 284, 4.12.76. Kompetenz der Kantone : TA, 263, 10.11.76 ; 24 heures, 273, 22.11.76.
[27] Energieforum : NZZ (sda), 54, 5.3.76 ; NZ, 136, 2.5.76. SES : SGU, Bulletin, 1976, Nr. 4 ; Presse vom 5.11.76.
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