Année politique Suisse 1977 : Eléments du système politique
Problèmes politiques fondamentaux et conscience nationale
Discussions à propos d'une limitation de I 'activité étatique — Nouvelles voix en faveur d'un système gouvernemental représentatif — Un centre pour les comités d'action (Bürgerinitiativen) s 'ouvre à Zurich — Face à la polarisation croissante, évocation de l'esprit de village — La commission d'experts termine son projet d'une nouvelle Constitution fédérale — A l'étranger, commentaires critiques de la Suisse.
 
Fragen der politischen Struktur des Landes beschäftigten auch 1977 die öffentliche Diskussion. Das kann in einem Jahr, in welchem es dem Bundesrat und den ihn tragenden Landesparteien nicht gelingt, die für eine Fortführung des bisherigen Regierungskurses erforderlichen Finanzmittel vom Volk bewilligen zu lassen, in einem Jahr auch, da dieses Volk über eine noch nie erreichte Menge von Gegenständen — meist in Initiativform — abzustimmen hat, nicht verwundern. Die in früheren Jahrgängen unserer Chronik signalisierten Probleme — Funktionsfähigkeit des Staates, Entfremdung zwischen Staat und.Bürger, Verhärtung der politischen Fronten — blieben bedrängend aktuell [1].
An einer Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für Zukunftsforschung suchten Vertreter der Politik und der Wissenschaft nach Wegen, wie eine weitere Zunahme der Staatsaufgaben vermieden werden könnte. Es wurde vorgeschlagen, neue Probleme nach Möglichkeit durch Einsatz oder doch Beteiligung privater Kräfte zu lösen und Kosten wie die des Umweltschutzes oder des Gesundheitswesens den Verursachern zu überbinden. Man stellte auch fest, dass Ausmass und Qualität der Staatstätigkeit nicht unbedingt von der Quantität der aufgewendeten Finanzmittel abhingen; mit dieser Quantität liegt die Schweiz freilich immer noch im letzten Viertel der Rangliste der OECD-Staaten [2].
Grundsätzlicher und umfassender wurde das Problem in zwei Zukunftsentwürfen aufgegriffen, die das Hauptgewicht auf die Aktivierung überschaubarer und bürgernaher Gemeinschaften legen. Der eine appelliert an die persönliche Verantwortung, aus der ein regionales Zusammenwirken zur Wahrnehmung gemeinsamer Interessen hervorgehen soll; ein europäischer Bund von Regionen hätte sich allmählich gegen die Bürokratie der Nationalstaaten durchzusetzen [3]. Die Autoren des anderen dagegen halten angesichts unwiderruflicher globaler Abhängigkeiten weitreichende Kontrolleinrichtungen für notwendig, postulieren aber zugleich als bewegendes und veränderndes Ferment die Entwicklung verschiedenartigster Kleinsysteme, die einander tolerieren und miteinander zusammenarbeiten. Die von ihnen visierte «Nachmoderne» verwirft sowohl die rationalistische Totalorganisation wie eine romantische Verdörflichung der Welt [4].
Über die Beweggründe der politischen Beteiligung und Nichtbeteiligung und damit über die psychologischen und sozialen Voraussetzungen der Entfremdung zwischen Bürger und Staat erfuhr man Weiteres aus der vom Bund in Auftrag gegebenen Studie. Diese bestätigte die bekannten Zusammenhänge zwischen Beteiligungsgrad einerseits und Bildungsgrad und sozialer Stellung andererseits und zeigte darüber hinaus, dass der häufigere Gang zur Urne in den mittleren und oberer Schichten mehr einem Pflichtgefühl als einem Engagement entspringt, während das Fernbleiben zum grossen Teil durch Überforderung oder Enttäuschung bedingt ist [5].
Die Feststellung, dass die Referendumsdemokratie heute zahlreiche Bürger überfordert, gab erneut Anlass zum Ruf nach einem repräsentativen Regierungssystem. Der Schriftsteller Adolf Muschg, für den die schweizerischen Volksabstimmungen reaktionäre Ausserungen einer Unlust an der Politik geworden sind, verspricht sich von einer bipolaren Konkurrenzdemokratie klarere Entscheidsituationen und eine bessere Kontrolle der Macht. Ein sozialdemokratischer Praktiker, C. Miville, führte dieses Konzept in seiner Antrittsrede als Basler Grossratspräsident weiter aus und verlangte zur Verwesentlichung der Demokratie einerseits eine Beschränkung des Volksentscheids auf« vitale und elementare» Vorlagen, andererseits aber eine Einbeziehung der Bürger in die Planung sowie Mitbestimmung am Arbeitsplatz. Der Ökonome Walter Wittmann postulierte als Voraussetzung für eine den gesamtschweizerischen Interessen besser dienende parlamentarische Demokratie auch die Abschaffung des Vernehmlassungsverfahrens und die Aufwertung unabhängiger Experten [6].
Als heilsame Reaktion auf die Entfremdung zwischen Behörden und Bevölkerung wird von verschiedener Seite das Auftreten der sog. Bürgerinitiativen gewertet. Diese nach der erwähnten Zukunftsperspektive offensichtlich der «nachmodernen» Gesellschaft zuzurechnenden Aktivitäten fanden besondere Unterstützung beim Gottlieb-Duttweiler-Institut der Migros. Dessen Leiter, H. A. Pestalozzi, gedachte damit der Verpflichtung des vielseitigen Unternehmens auf den Genossenschaftsgedanken zeitgemässen Ausdruck zu geben. Im Zürcher Corbusier-Haus wurde ein Forum für Gemeinschaftsaktionen (Co-Co) eröffnet, das mit Aussprachen, Ausstellungen und einem informativen «Handbuch» zu neuen Formen der kulturellen, sozialen und politischen Betätigung anregen will. Die Bürgerinitiative begegnete auf der Linken wie auf der Rechten gewissen Vorbehalten: auf der einen Seite warnte man vor blosser Symptombekämpfung, auf der anderen vor dem Abgleiten in eine systemsprengende Tendenz [7]. Dieselbe Problematik kam in der Kontroverse zweier Juristen über das Verhältnis zwischen den Leitbegriffen Rechtsstaat und Demokratie zum Ausdruck: Werner Kägi begründete den Vorrang des ersten letztlich mit der Furcht vor einer despotischen und unmenschlichen Verabsolutierung staatlicher Entscheidungsgewalt, Richard Bäumlin denjenigen des zweiten mit der Ablehnung einer vom Rechtssystem geschützten Entfaltung privater Wirtschaftsmacht [8]. Der Gegensatz hängt mit einer unterschiedlichen Ausrichtung des Freiheitsverlangens zusammen: Freiheit zur Nutzung und allfälligen Verbesserung des. gewohnten, im wesentlichen als befriedigend empfundenen Rahmens oder Freiheit zum grundsätzlich unbegrenzten Neuentwurf, von dem man eine entscheidende Sicherung und Steigerung der Lebensqualität erwartet. Dabei kann auf beiden Seiten der Eindruck entstehen, was man im anderen Lager zur Wahrung und Förderung der Freiheit tue, bedrohe die eigene Freiheit. Ein solches gegenseitiges Gefühl der Bedrohtheit wirkt aber polarisierend.
So sehr bei verschiedenen Grundfragen der Landespolitik eine Verhärtung der Fronten festgestellt werden muss, so darf man doch nicht übersehen, dass die Polarisierung nicht eine einheitliche ist, sondern dass sich mehrere Dimensionen überschneiden. Die Lager. bilden sich je wieder anders im Streit um Meinungsfreiheit und Subversion, um Wirtschaftsmacht und Steuerprogression oder um Atomenergie und Lebensqualität, mögen auch bestimmte Kampfpartner einander in jeder dieser Konfrontationen gegenüberstehen [9]. Als besonders expansiv erweist sich dabei die ökologische Bewegung, die sich nicht in Aktionen gegen den Bau von Wohnblöcken, Strassen und Kernkraftwerken erschöpft, sondern — als eine Art Gegenstück zur Entwicklungshilfe — den Abbau einer «Überentwicklung», vornehmlich in der Ernährungsweise, in Betracht zieht [10].
Es melden sich jedoch auch Stimmen, die vor einer weiteren Eskalation der Gegensätze warnen. Sie beschwören die Vorstellung von einer auf Frieden gegründeten, «angenehmen» Schweiz, in der man weder zum Aufstand noch zur Unterdrückung drängt, weil man einander zu nahe steht. Sie appellieren an einen «Dorfgeist» des Schweizers, der allerdings nicht von spiessbürgerlicher Enge, sondern von liberaler Offenheit und Toleranz geprägt sein müsste, um kommenden Stürmen standhalten zu können [11].
 
Totalrevision der Bundesverfassung
Wird die Totalrevision der Bundesverfassung eine solche Schweiz ermöglichen? Der von Bundespräsident Furgler geleiteten Expertenkommission gelang es zumindest, ihr Werk fristgerecht zu Ende zu führen: am 11. November übergab sie dem Bundesrat ihren 118 Artikel zählenden Entwurf mit dem Antrag, die Revision einzuleiten und unverzüglich ein Vernehmlassungsverfahren anzuordnen. Für mehrere Partien (Einheitsinitiative, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gewicht der einzelnen Kantone im Ständerat) wurden Alternativvorschläge beigefügt [12]. Die Auseinandersetzung über die wesentlichen Neuerungen hatte aber bereits im Frühjahr eingesetzt. Das Konzept einer «offenen Verfassung», welche die Befugnisse von Bund und Kantonen nicht mehr scharf abgrenzt, und dazu Einschränkungen der Handels- und Gewerbefreiheit und der Eigentumsgarantie stiessen im Kreis des Redressement national, insbesondere bei den Spitzenverbandsdirektoren des Gewerbes und der Arbeitgeberschaft, O. Fischer und H. Allenspach, auf heftige Ablehnung [13]. Eine republikanische Kritik glaubte gar die Ausrichtung auf eine sozialistische Gesellschaftsordnung zu erkennen [14]. Auf sozialdemokratischer Seite sah sich Adolf Muschg der am Entwurf mitgearbeitet hatte, dazu veranlasst, einer verbreiteten Skepsis gegenüber zum positiven Engagement aufzurufen [15].
 
Bild der Schweiz in der internationalen Öffentlichkeit
Für das Bild der Schweiz in der internationalen Öffentlichkeit wirkte Jean Zieglers Anklageschrift aus dem Vorjahr noch nach. Die Chiasso-Affäre der Schweizerischen Kreditanstalt war nicht geeignet, ihre Thesen zu entkräften. Führende ausländische Presseorgane betonten in grösseren Berichten die Macht der Wirtschaftskreise und die fragwürdige Bewältigung der Rezession auf Kosten der eingewanderten Fremdarbeiter; sie registrierten auch ein verbreitetes Unbehagen und verwiesen auf Widersprüche zwischen dem starken Ausbau der Formaldemokratie und der Beschränktheit des tatsächlichen Einflusses der Bürger. Die zum Teil etwas verzerrten Darstellungen fanden eine gemischte Aufnahme [16]. Die Ausführungen Jean Zieglers wurden nun aus Unternehmerkreisen einer detaillierten Kritik unterzogen [17]. Die gegen den Ankläger des Systems gerichtete Kampagne liess sich freilich auch als Beispiel schweizerischer Intoleranz anprangern [18].
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P.G.
 
[1] Finanzmittel: vgl. unten, Teil I, 5 (Finanzpaket). Abstimmungen: vgl. unten, Teil I, 1c (Volksrechte). Probleme: vgl. SPJ, 1975, S. 10 f.; 1976, S. 11 f.
[2] NZZ, 136, 13.6.77; Bund, 161, 13.7.77; vgl. auch unten, Teil I, 5 (Finanzpaket), Anm. 19. Für ein partnerschaftliches Zusammenwirken von Staat und Wirtschaft zur Förderung der Entwicklungsfähigkeit der Unternehmungen plädierte W. Jucker (Mitteilungsblau des Delegieren für Konjunkturfragen, 32/1977, S. 49 ff.).
[3] D. de Rougemont, L 'Avenir est notre affaire, Paris 1977.
[4] Th. Leuenberger / R. Schilling, Die Ohnmacht des Bürgers, Plädoyer für eine nachmoderne Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1977.
[5] L. Neidhart/J: P. Hoby, Ursachen der gegenwärtigen Stimmabstinenz in der Schweiz, Zürich 1977. Vgl. SPJ, 1976, S. 11. Das Deutschschweizer Fernsehen widmete der Problematik eine wirklichkeitsnahe Sendung unter dem Titel «Demokratie ohne Arbeiter» (vgl. TW, 290, 10.12.77; Ldb, 292, 15.12.77).
[6] Muschg: Interview in U. Kägi, Wird Freiheit Luxus? 33 Gespräche über die Zukunft der Schweiz, Olten 1977, S. 229 ff. Miville: BaZ, 148, 2.7.77. Wittmann: BaZ, 204, 27.8.77; 245, 8.10.77. Vgl. dazu SPJ, 1974, S. 11; 1975, S. 11; 1976, S. 19.
[7] Co-Co: BaZ, 296, 28.11.77; TA, 278, 28.11.77; Vr, 279, 29.11.77. Vorbehalte: Vr, 298, 21.12.77 (von' links); NZZ, 218, 17.9.77 (von rechts). Eine klassenkämpferische Deutung der Bewegung in R. Thut / C. Bislin, Aufrüstung gegen das Volk, Zürich 1977, S. 82 ff.
[8] Reformatio, 26/1977, S. 270 ff.
[9] Vgl. dazu unten, Teil I, 1b (Menschenrechte), 4b (Banken), 5 (Reichtumsteuer), 6a (Centrales nucléaires), 7a (Conflits du travail) sowie 8a (Enseignement primaire et secondaire).
[10] Vgl. A: M. Holenstein, Zerstörung durch Überfluss. Überentwicklung — Unterentwicklung am Beispiel unserer Ernährung, Basel 1977; W. Geneis, Entwicklungshilfe durch Konsumverzicht? Adliswil 1977. Zur ökologischen Bewegung vgl. auch unten, Teil I, 1e (Elections des autorités cantonales, Genève; Elections communales, Lausanne); ferner Lib., 216, 20.6.77.
[11] D. Comu / J.–M. Vodoz, La Suisse ou le piège des certitudes, Lausanne 1978.
[12] TA, 266, 14.11.77. Vgl. SPJ, 1974, S. 11; 1976, S. 12.
[13] NZZ, 231,3.10.77.
[14] Der Republikaner, 13, 14, 16, 21.10 – 23.12.77.
[15] Skepsis: SP-Information, 5, 10.3.77; vgl. TW, 307, 31.12.77. Muschg: TW, 217, 16.9.77. Vgl. auch als populäre Orientierungsschrift St. Bauhofer / P. Graf / E. Koenig, Totalrevision der Bundesverfassung, Dokumente und Diskussionsbeiträge, Basel 1977.
[16] Le Monde, 9982, 4.3.77; 9983, 5.3.77 (vgl. NZZ, 57, 9.3.77; TA, 57, 9.3.77; TG, 59, 12.3.77); International Herald Tribune, 16.5.77 (vgl. JdG, 113, 17.5.77); Der Spiegel, 40, 26.9.77 (vgl. TA, 237, 11.10.77). Vgl. dazu SPJ, 1976, S. 11 sowie unten, Teil I, 4b (Banken).
[17] V. Lasserre, Une Suisse insoupçonnée, Lettre ouverte à Jean Ziegler, Paris 1977 (deutsch: Eine Schweiz — vom Verdacht befreit! Bern 1977).
[18] Vgl. M: M. Grounauer, L'affaire Ziegler, Procès d'un hérétique, Genève 1977; R. Brodmann, Der Un-Schweizer, Was machen Eidgenossen mit einem Dissidenten? Darmstadt 1977; ferner unten, Teil I, 8a (Hautes écoles).
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