Année politique Suisse 1977 : Chronique générale / Politique étrangère suisse / Aussenwirtschaftspolitik
Ob die Prinzipien des liberalen Marktes auch für die Wirtschaftsbeziehungen zu Entwicklungsländern taugen oder ob sie durch andere Steuerungsmechanismen ersetzt werden sollten, blieb angesichts des ausgeprägten und weiter sich verschärfenden Nord-Süd-Gefälles heftig umstritten. Die Forderungen nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung signalisieren jedenfalls den Anbruch einer bedeutsamen Ordnungskrise von weltweiter Dimension; sie implizieren einen administrativen Dirigismus auf zwischenstaatlicher und damit zwangsläufig auch auf staatlicher Ebene, der das Mass bisher akzeptierter Intervention eindeutig übersteigt. Die Schweiz ist in diese Auseinandersetzung aufgrund ihrer hohen Investitionen und ihrer umfangreichen Exporttätigkeit im Bereich der Dritten Welt stärker involviert, als das die öffentliche Meinung gemeinhin zur Kenntnis nimmt; deshalb scheint es auch schwierig. zu sein, die schweizerischen Interessen klar zu definieren, zumal die Ziele der Entwicklungsförderung mit jenen der Exportförderung leicht kollidieren können
[98].
Im Sommer fand die Pariser Konferenz über internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit (KIWZ) nach achtzehnmonatiger Dauer ihren Abschluss. Die konkreten Ergebnisse dieses Versuchs, die komplexe Nord-Süd-Problematik in einem beschränkten, aber repräsentativen Teilnehmerkreis von 19 Entwicklungsländern und 8 Industriestaaten zu diskutieren, blieben zwar bescheiden, doch zeigten sich immerhin eine verstärkte Bereitschaft beider Kontrahenten zum Dialog und eine teilweise Annäherung der Standpunkte, was zukünftige Verhandlungen im Rahmen der UNO und in den internationalen Wirtschaftsorganisationen sicher erleichtern wird. Als nicht völlig unproblematisch erwies sich indessen die Rolle der Schweiz: Während sie ein allgemeines Schuldenmoratorium bekämpfte und aktiv um Garantien für Privatinvestitionen bemüht war, befleissigte sie sich in Fragen der Entwicklungshilfe einer peinlichen Zurückhaltung, die nicht zuletzt auch innerhalb der Industrienationen eine gefährliche Isolierung zur Folge haben könnte
[99].
Trotz der Bedeutung finanzieller Hilfe darf man nicht übersehen, dass die Dritte Welt ihre Entwicklung im wesentlichen selber bezahlt, wurden doch bis 1973 90% der Investitionen aus nationalen Ersparnissen finanziert. Im Gefolge der weltweiten Rezession ist die Selbstfinanzierungsrate der nicht erdölexportierenden Entwicklungsländer allerdings auf 80% gesunken, während sich die Zahlungsbilanzdefizite bedenklich vergrössert haben
[100]. Um die Exportanstrengungen der Entwicklungsländer aktiv zu unterstützen, erweiterte die Schweiz ihr Zollpräferenzsystem durch Vervollständigung der Warenliste und Aufnahme weiterer Länder in den Kreis der Begünstigten
[101]. Das gravierende Problem wachsender Verschuldung der Dritten Welt wird sich jedoch erst lösen lassen, wenn im internationalen Rahmen eine Entwicklungspolitik der «Schuldentherapie» und «Schuldenprophylaxe» zustande kommt
[102]. Die Entscheidung darüber wird im Konflikt widersprüchlicher Interessen stehen, der sich auch im tendenziellen Gegensatz zwischen Finanzplatz Schweiz und Werkplatz Schweiz spiegelt und letztlich in die Frage mündet, ob die Industrienationen in den Entwicklungsländern profitträchtige Kapitalverwertungsmöglichkeiten oder ebenbürtige Handelspartner suchen
[103].
[98] Vgl. G. Rehsche, Schweizerische Aussenwirtschaftspolitik und Dritte Welt. Ziele und Instrumente — Exportförderung kontra Entwicklungspolitik, Bern 1977 (Entwicklungspolitische Diskussionsbeiträge, 8); D. de Pury, «Notre politique étrangère comme moyen de défense générale: La Suisse dans le dialogue Nord-Sud », in Bulletin d’information (DPF), 25.4.77; NZZ, 32, 8.2.77; TA, 59, 11.3.77; 65, 18.3.77; wf, Dok., 20, 16.5.77; wf, Artikeldienst, 30, 25.7.77; 52, 27.12.77; Bund, 171, 25.7.77. Vgl. auch H. Bachmann, «Bemerkungen zum Nord-Süd-Dialog» und G. Corea, «Convergent and Divergent Approaches to the North-South-Dialogue», in Aussenwirtschaft, 32/1977, S. 101 ff. und 112 ff.; Umstrittene Weltwirtschaftsordnung, Zürich 1977 (Sozialwissenchaftliche Studien des Schweiz. Instituts für Auslandforschung, N.F. 6); G. W. Goldberg, «Entwicklungshilfe oder neue Weltwirtschaftsordnung?», in Schweizer Rundschau, 76/1977, Heft 5, S. 24 ff.; T. Heilmann, «Neue Weltwirtschaftsordnung als antiimperialistische Strategie», in Positionen, Nr. 10, Februar 1977, S. 8 ff. Vgl. auch oben, Entwicklungshilfe.
[99] Vgl. BBl, 1977, II, S. 1342 ff.; P. R. Jolles, «Beurteilung der Pariser Nord-Süd-Konferenz aus schweizerischer Sicht», in Documenta, 1977, Nr. 3, S. 26 ff.; Presse vom 4.6.77.
[100] Vgl. BR Chevallaz, «Die Eigenleistungen der Dritten Welt», in Documenta, 1977, Nr. 2, S. 24 ff.; Presse vom 3.6.77.
[101] Vgl. BBI, 1977, I, S. 640 ff.; Presse vom 15.3.77. Vgl. auch J. D. Gerber, «Die schweizerischen Zollpräferenzen zugunsten der Entwicklungsländer», in Aussenwirtschaft, 32/1977, S. 64 ff.; E. Küng, «Handelshilfe durch Präferenzzölle», in Schweiz. Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 113/1977, S. 476 IT.; H. B. Peter / H. Hollenstein, Handelsumlenkungen zu Lasten der Dritten Welt als Auswirkung des allgemeinen Zollabbaus? Bern 1977 (Handelsströme Schweiz - Dritte Welt, Heft 2, 2. Teil).
[102] Vgl. R. Gerster, «Für eine entwicklungsorientierte Schuldenpolitik der Schweiz gegenüber der Dritten Welt», in Aussenwirtschaft, 32/1977, S. 215 ff.; NZZ, 187, 12.8.77; TA, 295, 17.12.77.
[103] Vgl. G. Berweger, Investition und Legitimation. Privatinvestitionen in Entwicklungsländern als Teil der schweizerischen Legitimationsproblematik, Diss. St. Gallen, Diessenhofen 1977; G. Musy, «Die Aussenfinanzierung der Entwicklungsländer», in Schweiz. Bankverein, Der Monat, 1977, Nr. 10, S. 8 f.; TAM, 19, 14.5.77; LNN, 175-176, 30.7.-1.8.77; TA, 215, 15.9.77; 283, 3.12.77.
Copyright 2014 by Année politique suisse
Ce texte a été scanné à partir de la version papier et peut par conséquent contenir des erreurs.