Année politique Suisse 1977 : Chronique générale / Défense nationale / Landesverteidigung und Gesellschaft
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Affäre Jeanmaire
In der Affäre Jeanmaire fällte das zuständige Divisionsgericht im Juni ein überraschend hartes Urteil: mit 18 Jahren Zuchthaus ging es weit über den Strafantrag hinaus. In der Presse wurde die Strenge im allgemeinen anerkannt, wenn es auch an Rufen nicht fehlte, man müsse aus dem Fall Konsequenzen für die militärische Beförderungspraxis ziehen. Verbreitete Kritik erntete die äusserst restriktive Information durch das Gericht. Über den Inhalt des Geheimnisverrats erfuhr man nichts Neues [10]. Die schon im Vorjahr verbreitete These, der Verurteilte habe über geheime Beziehungen der Schweiz zur NATO Auskunft gegeben, trat wieder auf und gab Anlass zu einem neuen Dementi des EMD [11]. Von offizieller Seite wurde festgestellt, man bereite sich zwar in den Führungsstäben intern auf ein Zusammengehen mit einer Drittmacht im Fall eines Angriffs auf die Schweiz vor, schliesse aber eine vorsorgliche Verständigung aus [12]. Dass es allerdings in den Bereichen der Waffenbeschaffung und des Besuchs von Militärschulen aus verschiedenen Gründen Beziehungen zu Mitgliedern der NATO, nicht aber zu solchen des Ostblocks gibt, wurde in der Presse vermerkt. Immerhin konnten im Juli erstmals schweizerische Beobachter — aufgrund der Vereinbarungen der Europäischen Sicherheitskonferenz von 1975 — sowjetischen Manövern beiwohnen [13].
Die parlamentarische Arbeitsgruppe, die sich mit der Abklärung politischer und administrativer Aspekte der Affäre zu beschäftigen hatte, legte im Herbst ihren Bericht vor. Dieser bestätigt das Ungenügen des Auswahlverfahrens, das J.-L. Jeanmaire bis in den Generalsrang steigen liess, betont jedoch, dass Bundesrat Gnägi nach seinem Amtsantritt Verbesserungen einführte. Er verlangt aber weitere Reformen, namentlich eine sorgfältige Charakteranalyse. Insbesondere soll auch die Qualität des Instruktionskorps gehoben werden, damit die Instruktorenlaufbahn an Attraktivität gewinnt und sich die Auswahl für die höchsten Posten verbreitert. Zur Verstärkung der Spionageabwehr schlägt der Bericht einen Ausbau der zuständigen Organe und eine bessere Kontrolle der Kontakte zwischen Geheimnisträgern und ausländischen Funktionären vor, ebenso eine offenere Information über Spionagefälle trotz möglichen Vergeltungsmassnahmen der betroffenen Staaten gegenüber schweizerischen Missionen. Konkrete Anträge werden jedoch den Geschäftsprüfungs- und Militärkommissionen überlassen [14].
Bereits im Sommer verfügte das EMD Einschränkungen für die Ausländerkontakte von Militärpersonen. Gleichzeitig beunruhigten Funktionäre des Nachrichtendienstes die Öffentlichkeit, indem sie durch die Presse Verdächtigungen gegen leitende Beamte ihres Dienstzweiges verbreiten liessen. Während die Angelegenheit departementsintern untersucht wurde, äusserten Vertreter des EMD die Ansicht, dass der Wirbel im wesentlichen auf Unzufriedenheit über administrative Umdispositionen zurückzuführen sei. Von verschiedener Seite wurde überdies eine Reduktion des Personals überdotierter ausländischer Botschaften gewünscht; der Chef des EPD bezeichnete solche Begehren jedoch als unangebracht [15]. Zur Beförderungspraxis der Armee veröffentlichte ein Journalist eine pointierte Kritik, die sich auf Aussagen militärischer und politischer Persönlichkeiten berief, von diesen aber als zu einseitig zurückgewiesen wurde [16].
 
[10] Presse vom 18.-20.6.77. Der Strafantrag lautete auf 12 Jahre. Jeanmaire legte Kassationsbeschwerde ein (Presse vom 21.6.77). Vgl. dazu SPJ, 1976, S. 47 f. Zur Information vgl. unten, Teil I, 8c (Information).
[11] These: Berner Tagblatt, 15. 19.1.77. Dementi: TA (ddp). 36, 12.2.77. Vgl. SPJ, 1976, S.47.
[12] Vgl. H.R. Kurz in TAM. 40, 8.10.77.
[13] Waffenbeschaffung und Militärschulen: T.4. 59, 11.3.77. Manöver: TLM, 204, 23.7.77; Gesch.ber., 1977, S. 149.
[14] BBI 1977, III, S. 726 ff. Vgl. SPJ. 1976, S. 48.
[15] Einschränkungen: TA, 205, 3.9.77. Verdächtigungen: Blick, 174, 28.7.77; Bund, 174, 28.7.77; Presse vom 29.7.77. Botschaften: vgl. Postulat Soldini (rep., GE) (Amtl. Bull. NR, 1977, S. 105 ff.); ferner Os7schw., 140, 18.6.77; TG, 259, 9.11.77. Vgl. auch oben, Teil I, 2 (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa).
[16] Tat, 18-20, 22, 24, 26; 28, 30, 21.1.-4.2.77. Für die Veröffentlichung in Buchform (F. Wagner, Militärische Karriere: Können, Kennen, Kriechen? Thalwil 1977) mussten verschiedene Passagen auf Verlangen der Gewährsleute gestrichen werden; vgl. Bund, 45-47, 23.-25.2.77.