Année politique Suisse 1977 : Economie / Politique économique générale
 
Wirtschaftsordnung
Diverse Ereignisse im Wirtschaftsablauf lösten eine grundsätzliche Debatte über den Wert und das Funktionieren unserer Wirtschaftsordnung aus. Neben dem Skandal um die Schweizerische Kreditanstalt (SKA) war es vor allem der Handel mit den Aktien des renommierten Schuhunternehmens Bally AG, welcher Anlass zu derartigen Auseinandersetzungen bot. Dem jungen Finanzmann W. Rey war es gelungen, die Aktienmehrheit dieser Firma zu günstigen Kursen zu erwerben ; nach kurzer Zeit veräusserte er sie — nachdem insbesondere die «Neue Zürcher Zeitung » (NZZ) die Lauterkeit seiner Finanzquellen und seiner Motive vehement in Zweifel gezogen hatte — mit beträchtlichem Zwischengewinn an die Bührle Holding. Die NZZ beurteilte die Praktiken Reys als einen grundlegenden Verstoss gegen die schweizerischen Geschäftssitten und appellierte an die Moral und den politischen Verantwortungssinn der Unternehmer; ja, sie stellte sogar die Forderung auf, den Kleinaktionären und den Arbeitnehmern sei ein verbesserter Einblick in die finanzielle Lage der Betriebe zu gewähren. Demgegenüber betonten andere bürgerliche Wirtschaftskorrespondenten, dass Erscheinungen wie der Kauf und Verkauf von Firmen und das Erzielen von Spekulationsgewinnen zu den Mechanismen des kapitalistischen Wirtschaftssystems gehörten und deshalb auch bei uns üblich und legal seien [4]. Die politische Linke benutzte die Ereignisse zur Illustrierung ihrer These, dass eine Wirtschaftsordnung, welche es zulässt, dass finanzkräftige Individuen über die Existenz von Tausenden von Arbeitsplätzen verfügen können, grundlegend umgestaltet werden müsse. Eine Expertengruppe der SPS arbeitete entsprechende Vorschläge für eine Wirtschaftsreform aus. Hauptziel dieses Konzepts, welches sich zur Zeit in der parteiinternen Vernehmlassung befindet, ist eine auf das Prinzip der selbstverwalteten Betriebe gestützte demokratische Wirtschaftsverfassung [5]. Die Exponenten der bestehenden Marktwirtschaftsordnung erkannten nicht nur in einem solchen Fernziel, das tiefgreifende Umgestaltungsprozesse erfordern würde, eine Gefahr, sondern auch in der Tendenz, dem Staat einen wachsenden Anteil am Bruttosozialprodukt zukommen zu lassen. Insbesondere wandten sie sich vehement gegen eine steuerliche Mehrbelastung der Unternehmen, wie dies die sozialdemokratische Reichtumsteuerinitiative vorgeschlagen hatte. Um einer breiteren Öffentlichkeit die Funktion des Gewinns als Steuerungsinstrument unserer Wirtschaft bekannt zu machen, lancierten Wirtschaftskreise eine Propagandakampagne [6].
 
[4] Darstellung der Ereignisse um die Bally AG: NZZ, 156, 6.7.77; TA, 172, 26.7.77. Beurteilung: NZZ, 208, 6.9.77; 218, 17.9.77; LNN, 207, 6.9.77; TA, 211, 10.9.77. Ungesetzlichkeiten hatte Rey offensichtlich nur darin begangen, dass er ausländische Gelder zur Finanzierung seiner Aktionen heranzog und damit den Beschluss zum Schutz der Währung umging (TA, 45, 23.2.78). Zur SKA vgl. unten, Teil I, 4b (Banken).
[5] Zeitdienst, 30/1977, Nr. 12; Vr, 227, 29.9.77. Vgl. auch unten, Teil III a (Sozialdemokratische Partei).
[6] Steuerbelastung: NZZ, 78, 2.4.77; vgl. auch unten, Teil I, 5 (Reichtumsteuer). Gewinne: TA, 59, 11.2.77; BaZ, 40, 11.2.77; 105, 18.5.77; 127, 11.6.77; 176, 30.7.77. Für ein entspannteres Verhältnis zwischen Wirtschaft und Staat plädierte BR Brugger in Documenta, 1977, Nr. 2, S. 9 f. und Nr. 5, S. 8 f.