Année politique Suisse 1977 : Chronique générale / Finances publiques
 
Finanzpaket
Das Loch in der Bundeskasse sollte mit dem im Dezember 1976 vom Parlament nach langem Seilziehen verabschiedeten Finanzpaket gestopft werden. Dieses sah vor, die 1941 eingeführte Warenumsatzsteuer (Wust) durch eine Umsatzsteuer nach dem Mehrwertprinzip (Mehrwertsteuer) zu ersetzen und gleichzeitig die mittleren und unteren Einkommensschichten bei der direkten Bundessteuer (Wehrsteuer) zu entlasten. Von der Einführung der Mehrwertsteuer (MWSt) wurden jährliche Mehreinnahmen in der Grössenordnung von 2,5-3 Mia Fr. erwartet [10].
Der Volksabstimmung ging eine ausserordentlich lange und intensive Kampagne voraus [11]. Mit einem noch selten gesehenen Grosseinsatz versuchten Regierungsmitglieder und Verwaltungsexperten die Stimmbürger davon zu überzeugen, dass kein Weg an der MWSt vorbeiführe. Weil dem Bund in den letzten Jahren zahlreiche neue Aufgaben übertragen worden seien und er gleichzeitig durch die Liberalisierung des zwischenstaatlichen Handels hohe Einnahmenausfälle bei den Einfuhrzöllen erlitten habe, könne nur die Erschliessung neuer Einkünfte schmerzliche Einsparungen im Transferbereich und bei der Sozialen Wohlfahrt verhindern. Der gewählte Satz von 10% liege im übrigen weit unter den entsprechenden Sätzen in benachbarten Nationen [12].
Das Finanzpaket fand die Unterstützung der meisten grösseren Parteien und Wirtschaftsverbände. Nur einzelne «Oppositionsparteien» entschieden sich für die Nein-Parole [13]. Hinter dem Ja zur MWSt verbargen sich allerdings recht unterschiedliche Motive. Wirtschaftskreise begrüssten die Aussicht, dass mit der MWSt Anlageinvestitionen und Wettbewerbsnachteile der schweizerischen Wirtschaft im In- und Ausland beseitigt würden. Die Sozialdemokraten sahen durch den Finanzengpass den Ausbau der Sozialwerke gefährdet, die SVP befürchtete Kürzungen beim Militär und bei der Landwirtschaft, und die Regierungen finanzschwacher Kantone bangten um ihre Bundesbeiträge. Vielen Befiirwortern erschienen gesunde Bundesfinanzen zudem als Garant für die politische und soziale Stabilität des Landes. Leere Bundeskassen müssten zu einem Abbau der bisherigen Leistungen des Staates führen, was den sozialen Frieden in schwerwiegender Weise gefährden könnte [14]. Gegnerschaft erwuchs der Vorlage hauptsächlich aus drei Lagern. Rechtsfreisinnige «Dissidente» warnten vor zusätzlichen Steuerbelastungen, die den Leistungswillen und die Risikobereitschaft der Unternehmer lahmlegen würden. Das Kleingewerbe opponierte gegen den zu erwartenden Mehraufwand bei der Berechnung der Steuerabgaben, und die äussere Linke bekämpfte eine Steuer, die die unteren Einkommensklassen in gleichem Masse treffen sollte wie die Reichen [15].
Die helvetische Tradition, wonach Neuordnungen der Bundesfinanzen im ersten Anlauf zu scheitern pflegen, wurde auch diesmal nicht durchbrochen. Am 12. Juni lehnten Volk und Stände das Finanzpaket mit 1 117 044 zu 760 830 Stimmen ab. Der negative Entscheid kam zwar nicht unerwartet, die meisten Kommentatoren zeigten sich aber von der Deutlichkeit des Resultates überrascht. Mit Ausnahme von Graubünden sprachen sich sämtliche Kantone gegen die vorgeschlagenen Sanierungsmassnahmen aus; einzelne Stände sogar mit einer Zweidrittelsmehrheit. Am meisten Befürworter fand die Vorlage in alpinen Regionen sowie in den Ballungszentren der übrigen Schweiz [16].
Während bürgerliche Kreise im Nein des Souveräns vor allem einen Auftrag zum verstärkten Sparen erblickten, interpretierte die Linke das Resultat als Missfallensäusserung gegen unsoziale Steuern [17]. Hinter dem negativen Volksentscheid wurden aber auch Beweggründe vermutet, die nur indirekt mit der konkreten Abstimmungsvorlage zusammenhängen. Für den Landesring handelte es sich um eine grundsätzliche Absage an die Politik des Bundesrates und die in der «Grossen Koalition» vereinigten Regierungsparteien [18]. Anhänger des «freien Spiels der Kräfte» interpretierten das Nein als Stoppsignal für den vorrückenden Staat oder gar als Aufforderung, dessen bisherige Tätigkeit zu redimensionieren [19]. Viele Beobachter waren sich zudem darüber einig, dass der Entscheid — gegen die geschlossene Front der wichtigsten politischen Kräfte des Landes — auf eine besorgniserregende Entfremdung zwischen Bürger und Staat deute. Der Einzelne sei nicht mehr in der Lage, die Aufgaben und Leistungen des Staates zu überblikken, und darum auch nicht bereit, zusätzliche Opfer zu bringen [20].
 
[10] Vgl. SPJ, 1976, S. 78 ff. ; BBI, 1976, III, S. 1531 ff.; H. Gerber, Die neue schweizerische Umsatzsteuer nach dem «Mehrwertsystem», 1977 (Bankverein-Heft, 13); TAM, 11, 19.3.77; NZZ, 105, 6.5.77; 111, 13.5.77.
[11] Argus zählte 3987 Inserate, wovon sich 57% für und 43% gegen die Vorlage aussprachen (Vat., 142, 22.6.77).
[12] Vat., 4, 6.1.77; 6, 8.1.77; NZZ, 70, 24.3.77; 132, 8.6.77; BaZ, 68, 9.4.77; 76, 18.4.77; Bund, 92, 2/.4.77; LNN, 113, 16.5.77. Weil BR Hürlimann erklärte, dass die Renten der AHV und IV bei einem negativen Volksentscheid nicht mehr gesichert wären, wurde er wegen «Nötigung des Schweizervolkes» beim Europäischen Gerichtshof in Strassburg eingeklagt (NZZ, sda, 126, 1.6.77; Tat, 126, 1.6.77; BaZ, 118, 2.6.77).
[13] TA, 133, 10.6.77; NZZ, 134, 10.6.77. Nein-Parole: LdU, NA, Republikaner, PdA, POCH. Negative Kantonalparolen: FDP von AG, BE, NW, SZ, TG, ZG; SVP von AG und VD; SP Genf; EVP St. Gallen. Der SGV gab die Stimme frei (Presse vom 16.4.77; Ww, 16, 20.4.77).
[14] Wirtschaft: wf, Artikeldienst, 14, 4.4.77; NZZ, 93, 22.4.77; wf, Dok., 23, 6.5.77. Sozialdemokraten: TW, 67, 21.3.77; 88, 8.4.77; 99, 29.4.77; Vr, 122, 27.5.77; Profil, 1977, S. 113 ff., 187 ff.; BaZ, 75, 17.4.77; Presse vom 18.4.77. SVP: Presse vom 9.5.77. Kantonsregierungen: Vat., 70, 24.3.77; LNN, 98, 26.4.77; 116, 20.5.77; BüZ, 112, 12.5.77; 117, 18.5.77; TLM, 156, 5.6.77. Politische Stabilität: NZZ, 100, 30.4.77; 102, 3.5.77; 106, 7.5.77; Ldb, 121, 27.5.77.
[15] Rechtsfreisinn: NZZ, 25, 31.1.77; 109, 11.5.77; TW, 85, 13.4.77; Vat., 114, 17.5.77; BaZ, 79, 21.4.77; 116, 31.5.77; LNN, 92, 21.4.77; 113, 16.5.77; Tat, 118, 21.5.77; Inserate des «Komitee gegen Steuererhöhungen». Kleingewerbe: TA, 32, 8.2.77; NZZ, 106, 7.5.77; Schweiz. Gewerbe-Zeitung, 23, 9.6.77. Linke: Vorwärts, 9, 3.3.77; 16, 28.4.77; 22, 2.6.77; 23, 9.6.77; TA, 84, 12.4.77; 24 Heures, 103, 4.5.77; Bresche, 93, 21.5.77; Parti suisse du Travail, La taxe sur la valeur ajoutée, 1977. Der Landesring opponierte vor allem aus konjunkturpolitischen Gründen sowie aus einer gewissen Verdrossenheit über die Finanzpolitik der Regierungsparteien (NZZ, 107, 9.5.77).
[16] BBI, 1977, Il, S. 1504; Presse vom 13.6.77; P. Gilg, «Wer brachte das Steuerpaket zu Fall», in BaZ, 169, 23.7.77.
[17] Bürgerliche Kreise: wf, Dok., 24, 13.6.77; Ldb, 134, 13.6.77; SAZ, 24, 16.6.77. Linke: FA, 135, 13.6.77; . Vorwärts, 24, 16.6.77; TW, 140, 18.6.77. Meinungsumfragen ergaben, dass sich die beiden Entscheidmotive etwa die Waage hielten (TA, 139, 18.6.77; Vox, Analysen eidgenössischer Abstimmungen, 12.6.77).
[18] Tat, 136, 13.6.77; BaZ, 130, 14.6.77. Ähnlich reagierten die PdA (Vorwärts, 24, 16.6.77) und die Republikaner (NZZ, 143, 21.6.77).
[19] Schweiz. Gewerbe-Zeitung, 24, 16.6.77; Tat, 151, 30.6.77; Feuille d'Avis de Neuchâtel, 134, 13.6.77. Zum Einfluss des Staates vgl. auch Schweiz. Vereinigung für Zukunftsforschung, Immer mehr Staat? Zürich 1977; NZZ, 108, 10.5.77; 232, 4.10.77.
[20] 24 Heures, 135, 13.6.77; TA, 135, 13.6.77; Ww, 24, 15.6.77; Val., 139, 18.6.77. Vgl. auch E. Gruner / H. P. Hertig, Die Finanz- und Steuergesinnung des Schweizervolkes, Bern 1977 sowie E. Gruner, «Kenntnis, Illusion und Verzerrungen in Finanz- und Steuerfragen», in NZZ, 59, 11.3.77.