Année politique Suisse 1978 : Economie / Agriculture
 
Agrarpolitik
Der qualitative Wandel der Staatsfunktion kommt darin zum Ausdruck, dass die Agrarpolitik, die bisher vorwiegend mit «distributiven» Methoden —d. h. mit positiven Sanktionen in Form von finanziellen Anreizen — die landwirtschaftliche Produktion zu steuern suchte, immer stärker «regulativen» Charakter gewinnt: die staatlichen Förderungsmassnahmen und Subventionen werden mit negativen Sanktionen wie zunehmenden Reglementierungen oder gar Kontingentierungen der Produktion verknüpft. Diese neuen Instrumente verleihen zwar der Agrarpolitik ein höheres Steuerungsniveau, haben aber auch ein grösseres Konfliktpotential zur Folge. Je mehr sich nämlich die betroffenen Produzenten in ihrer unternehmerischen Bewegungsfreiheit eingeschränkt fühlen, umso deutlicher artikulieren sie ihre bedrohten Partikularinteressen und umso.schwieriger wird es für die etablierten Interessenorganisationen, einen politischen Konsens zu finden, der sowohl vom Staate als auch von den radikalisierten Teilen der bäuerlichen Basis akzeptiert werden kann. Da sich der Staat zur selben Zeit anschickt, höhere Steuern und Gebühren einzufordern, werden zudem auch die volkswirtschaftlichen Kosten der Agrarpolitik deutlicher sichtbar. Steuerzahler und Konsumenten erkennen zusehends den « redistributiven » Charakter bisher als rein distributiv wahrgenommener staatlicher Massnahmen: das ökonomische Spiel der Verteilung verfügbarer Mittel wird damit zum Kampf urn gesellschaftliche Umverteilung [3].
Angesichts des wachsenden Konfliktpotentials intensivierte sich auch die Grundsatzdebatte um die agrarpolitischen Konzepte [4]. Umstritten war dabei nicht etwa die mehrdimensionale Zielsetzung unserer Landwirtschaftspolitik, wohl aber die Prioritätensetzung und die Methode, mit welcher die Zielkonflikte, wie sie der Fünfte Landwirtschaftsbericht des Bundesrates offen formuliert hat, entschärft werden sollen. Die Behörden zeigten — im Zeichen der Milchschwemme — eine vorab finanzpolitisch motivierte Tendenz, von der Politik der Produktivitätsförderung abzurücken, ohne indes einer Strukturerhaltung um jeden Preis das Wort zu reden. Gleichzeitig schoben sich versorgungspolitische Ziele etwas in den Vordergrund und moderne ökologische Interessen fanden — auch in kantonalen Gesetzesentwürfen — einen bescheidenen Niedersch lag [5].
Wesentlich händfestere Interessen vertraten viele Repräsentanten der Landwirtschaft, die zwar — vor allem in der welschen Schweiz — ihre Abneigung gegen jegliche Form von staatlichem Dirigismus in der Produktion nicht verhehlten, dafür aber ein umso grösseres Engagement des Bundes in der Absatzförderung verlangten. Die Probleme der Landwirtschaft seien nicht etwa über Produktionseinschränkungen zu lösen, sondern mittels einer Exportoffensive und anhand eines umfassenden Marketingkonzepts. Eine diesbezügliche Motion Egli (cvp, LU) wurde vom Nationalrat in der abgeschwächten Form eines Postulates überwiesen [6]. Wenn auch die Exportmöglichkeiten insbesondere für (subventionierten) Schweizer Käse noch nicht völlig ausgeschöpft sind, so muss doch daran erinnert werden, dass jede Produktionsausweitung mit höheren Kosten für die Allgemeinheit verbunden ist; die Käseverwertung schlägt bereits heute mit 300 Mio Fr. zu Buche [7].
Als schärfster Gegner solcher Exportprojekte profilierte sich der Freiburger Finanzwissenschafter W. Wittmann. Die Landwirtschaft belaste den Bundeshaushalt schon jetzt mit mehr als 1,4 Mia Fr. jährlich ; die Steuerzahler dürften deshalb nicht noch stärker als bisher zur Finanzierung von Agrarprodukten herangezogen werden, die sie ja gar nicht benötigten. Zielscheibe für Wittmanns Kritik bildete namentlich das System der produktionsabhängigen Subventionen, welches bei wichtigen Produkten zu Überschüssen führe, die wiederum mit Hilfe teurer Subventionen verwertet und exportiert werden müssten. Ganz abgesehen davon; dass dieses System die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital am falschen Ort dauerhaft binde und unnötige Umweltbelastungen zur Folge habe, vergrössere es die Einkommensdisparität innerhalb der Landwirtschaft und könne daher die Bewirtschaftung der Kulturfläche in Berg- und Randgebieten nicht gewährleisten. Das überhöhte Kosteniveau werde letztlich von den Konsumenten getragen, was erfahrungsgemäss die unteren Einkommen härter treffe, während diese doch bereits aufgrund der Finanzierung der Subventionen über mehrheitlich indirekte Steuern eine regressive Einkommensbelastung in Kauf nehmen müssten [8].
Wittmanns Vorschlag für eine grundlegende Neukonzeption der Landwirtschaftspolitik verlangt verbindliche, nach Produkten spezifizierte und quantitativ fixierte Produktionsziele, die sich nach den versorgungspolitischen Erfordernissen — auch für Zeiten erschwerter Zufuhr aus dem Ausland — auszurichten hätten. Nach Abklärung der mengenmässigen, kostenmässigen und produktionstechnischen Probleme könnte ein zentraler Produktionskataster für die schweizerische Landwirtschaft erstellt werden, aufgrund dessen die Kostendeckungs- und Absatzgarantien nur noch für jene Erzeugnisse gewährt würden, die innerhalb der dafür ausgeschiedenen Zonen produziert werden. Die landwirtschaftlichen Genossenschaften hätten von den Produzenten innerhalb des Katasters die volle Erzeugung der jeweils vorgesehenen Produkte zu kostendeckenden Preisen zu übernehmen und auf dem freien Agrarmarkt abzusetzen, wo sie mit nichtsubventionierten Produzenten von ausserhalb des Katasters und allfälligen Importeuren zu konkurrieren hätten. Mindererlöse aufgrund von Differenzen zwischen Markt- und Produzentenpreisen einschliesslich einer Handelsmarge gliche der Bund mit direkten Zahlungen an die Genossenschaften aus.
Wittmanns Konzept kann als Versuch gewertet werden, mittels einer regional differenzierten Preispolitik und unter Verzicht auf Produktionsverbote und Kontingentierungen den zentralen Zielkonflikt zwischen paritätslohngerechtem Einkommen und marktgerechten Produktionsmengen zu lösen, ohne dabei die Postulate nach höherer Effizienz der Produktionsfaktoren, nach gleichmässigerer Einkommensverteilung sowie nach einer Entlastung des Bundeshaushalts, der Konsumenten und der Kulturlandschaft aus den Augen zu verlieren. Die geharnischte und teilweise unsachliche Reaktion aus bäuerlichem Lager bewies indes, wie wenig man auf dieser Seite zu einer rationalen Diskussion neuartiger Vorschläge bereit ist, die zwar das traditionelle Instrumentarium, nicht aber die grundlegenden Zielsetzungen der Landwirtschaftspolitik radikal in Frage stellen [9].
 
[3] Zu den Kategorien « distributiv », «regulativ» und «redistributiv» vgl. F. Da Pozzo, « Staatliche Politiken, politischer Prozess und institutionelle Legitimation», Bern 1978 (Masch.schrift, Forschungszentrum fir schweiz. Politik).
[4] Vgl. dazu allgemein R. Anderegg, Konzepte für die schweiz. Landwirtschaft, 5 Bde, St. Gallen 1977. Vgl. auch J. Valarché, «L'effet de la politique agricole sur les structures agricoles suisses», in Revue économique et sociale, 36/1978, S. 63 ff. und H. C. Binswanger (Hg.), Die europäische Agrarpolitik vor neuen Alternativen, Bern 1977. Vgl. ferner wf, Dok., 49, 4.12.78.
[5] Fünfter Landwirtschaftsbericht: BBI, 1977, I, S. 242 ff. ; vgl. auch SPJ, 1977, S. 87. Versorgungspolitik: vgl. oben, Teil I, 3 (Landesversorgung) und SPJ, 1977, S. 54. Biologische Landwirtschaft: vgl. TG, 35, 11.2.78; Vr, 232, 4.10.78 NZZ, 248, 25.10.78 ; Verhandl. B. vers., 1978, V/VI, S. 45 (Motion Morel, sp, FR). Kantone: Presse vom 24.8. und 29.9.78 (ZH); NZZ, 98, 28.4.78 und CdT, 244, 29.9.78 (TI); vgl. auch unten, Teil II, 3b.
[6] Amtl. Bull. NR, 1978, S. 236 ff. Vgl. auch Amtl. Bull. StR, 1978, S. 49 ff. (Interpellation Genoud, cvp, VS); S. 610 ff. (Interpellation Jauslin, fdp, BL); Amtl. Bull. NR, 1978, S. 251 f. (Interpellation Röthlin, cvp, OW); S. 255 f. (Interpellation Hungerbühler, cvp, SG). Vgl. ferner H. Reymond, Condition paysanne et politique agricole suisse, Lausanne 1977; IBZ, 9, 23.2.78; 1 1, 9.3.78; 17, 20.3.78; JdG, 46, 24.2.78; 70, 25.3.78.
[7] TA, 78. 5.4.78: Vr, 78, 5.4.78. Vgl. auch Schweiz. Käseunion, Jahresbericht. 42/1977-.78.
[8] W. Wittmann, «Zentraler Produktionskataster für die Landwirtschaft», in NZZ. 32, 8.2.78. Ähnliche Vorstellungen vertrat auch StR Heimarm (Idu, ZH) in BT, 273, 21.22.78.
[9] Replik SBV : NZZ, 57,9.3.78 ; vgl. auch /BZ, 11, 9.3.78; 14,30.3.78; 16, 13.4.78; 23, 1.6.78; 31.27.7.78; BüZ, 68, 22.3.78. Duplik Wittmann: NZZ, 69, 23.3.78; IBZ, 26, 22.6.78.