Année politique Suisse 1978 : Economie / Agriculture
Tierische Produktion
Die neue, stärker regulative Funktion der staatlichen Agrarpolitik und die Differenzen innerhalb der Bauernsame kamen in der Milchwirtschaft am deutlichsten zum Ausdruck. Die explosionsartige Produktionszunahme in diesem Sektor, der rund ein Drittel des landwirtschaftlichen Endrohertrags liefert, hat in den letzten zehn Jahren das Defizit der Milchrechnung um das Dreifache auf über 600 Mio Fr. jährlich anwachsen lassen, von denen weit mehr als die Hälfte aus Bundesmitteln berappt werden müssen
[23]. Diese Entwicklung zerstörte die agrarpolitische Illusion, der Staat könne gleichzeitig Preise und Absatz garantieren, ohne der Erzeugung Schranken zu setzen.
Der von den Räten bereits im Vorjahr verabschiedete
Milchwirtschaftsbeschluss (MWB) 1977 soll wie sein gleichnamiger Vorgänger aus dem Jahre 1971 angemessene Produzentenpreise sicherstellen sowie Qualität und Absatz von Milch und Milchprodukten fördern. Da das alte System der Globalkontingentierung die Milchschwemme nicht verhindern konnte, enthält der MWB 1977 gesetzliche Grundlagen für die weit wirksamere einzelbetriebliche Milchkontingentierung. Diese Regelung, die für jeden Produzenten genau festsetzt, wieviel Milch er zum vollen Preis abliefern darf, wirdbereits seit Mai 1977 praktiziert; allerdings in vereinfachter Form und mit Hilfe des Notrechts (Dringlicher Bundesbeschluss gegen übermässige Milchlieferungen)
[24].
Im Gefolge des Referendums gegen den MWB 1977, das von oppositionellen bäuerlichen Kreisen vor allem der Westschweiz ergriffen worden war, erhoben sich manche kritische Stimmen gegen die einzelbetriebliche
Milchkontingentierung, die von vielen Bauern als übertrieben dirigistischer Eingriff in ihre unternehmerische Freiheit empfunden wurde
[25]. Insbesondere die Vertreter der vorwiegend auf der Rauhfutterproduktion basierenden Betriebe der Berg- und Hügelzonen gaben zu bedenken, dass ihnen keine rentablen Alternativen zur Milcherzeugung offenstünden, zumal das Kontingentierungssystem die Talbetriebe vermehrt auch zur eigenen Aufzucht veranlassen werde
[26]. Die Erfahrungen mit dem Dringlichen Bundesbeschluss gegen übermässige Milchlieferungen, der seit Mai 1977 in Kraft stand und namentlich für sanierungs- und expansionswillige Betriebe besondere Härten mit sich .brachte, trugen zum Vorbehalt der Bauern gegenüber der Einzelkontingentierung bei
[27]. Die landwirtschaftlichen Dachverbände suchten ihrer Basis diese Form der Produktionslenkung als notwendiges Übel verständlich und akzeptabel zu machen
[28]; es gelang ihnen auch, dem neuen System der Produktionslenkung bereits im voraus die gefährlichsten Zähne zu ziehen und damit den Grossteil der bäuerlichen Skepsis gegenüber der Vorlage auszuräumen. Zunächst wurde der Bundesrat aufgefordert, bei der Verteilung der Einzelkontingente grosszügig vorzugehen und Härtefälle zu vermeiden; als Ergebnis resultierte ein neues Gesamtkontingent, das wesentlich über der bisher abgelieferten Milchmenge liegt
[29]. Sodann wurde die Exekutive mit zwei gleichlautenden Motionen (NR Reichling, svp, ZH, und StR Herzog, svp, TG) verpflichtet, die neue Basismilchmenge auf die regionalen, Milchverbände und die örtlichen Genossenschaften aufzuteilen und den MWB 1977 so abzuändern, dass die einzelnen Milchproduzenten ihre Überlieferungsabzüge nur dann zu bezahlen hätten, wenn das gesamtschweizerische, das regionale und das örtliche Kontingent überschritten würden
[30]. Und schliesslich beauftragten zwei weitere gleichlautende Motionen (NR Nef, fdp, SG, und StR Vincenz, cvp, GR) den Bundesrat, im MWB 1977 weitgehende Erleichterungen für die Berggebiete zu verankern
[31].
Solchermassen entschärft, hatte der MWB 1977 keine Mühe, die plebiszitäre Hürde zu nehmen; der
Souverän stimmte ihm im Dezember mit überwältigendem Mehr zu, wobei mehr als 90% der Bauern zu den Befürwortern der Vorlage zählten. Wie eine repräsentative Umfrage ergab, vermochten die Nein-Parolen der Linksparteien und des Landesrings, welche das neue Kontingentierungssystem als Alibiübung bezeichneten und eine grundsätzliche Überprüfung der Landwirfschaftspolitik verlangten, beim Stimmbürger noch weniger zu verfangen als die Argumente der Union des producteurs suisses und der oppositionellen bäuerlichen Komitees, die eine Übervorteilung der Kleinbauern durch die Milchbarone befürchteten
[32].
Da der MWB 1977 infolge des Referendums nicht, wie ursprünglich geplant, bereits auf Mai 1978 in Kraft gesetzt werden konnte, mussten der MWB 1971 und der Dringliche Bundesbeschluss gegen übermässige Milchlieferungen, die beide schon 1978 ausgelaufen wären, verlängert werden. Die Interessendifferenzen innerhalb des bäuerlichen Lagers und das Unbehagen gegenüber der mangelnden Planung unserer Landwirtschaftspolitik, die solch notrechtliche Übergangslösungen erforderte, kamen nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass der Nationalrat etwelche Mühe bekundete, das für die Dringlicherklärung notwendige qualifizierte Mehr zusammenzubringen
[33]. Ebenfalls umstritten war die Änderunug des Milchbeschlusses, der die Vermarktung von Milch und Milchprodukten regelt. Ini Gegensatz zum bundesrätlichen Vorschlag hielt die Grosse Kammer an der Bewilligungspflicht und der Quartiereinteilung für den Verkauf von Offenmilch fest; der Liberalisierung bezüglich Pastmilchherstellung und -verkauf wurde jedoch zugestimmt
[34].
Auch im Bereich der übrigen tierischen Produktion zeigten sich Bestrebungen, mit regulativen Methoden auf das Geschehen Einfluss zu nehmen. Die schweizerische Landwirtschaft erreicht in der Fleischerzeugung bereits heute einen Selbstversorgungsgrad von 90-100%, und da die Milchkontingentierung eine Produktionsverlagerung zur Folge haben wird, ist ein Anwachsen gravierender Verwertungsschwierigkeiten auch in diesem Sektor absehbar
[35]. Diese gefährliche Entwicklung in der Tierproduktion ist von einem rasanten
Konzentrationsprozess begleitet; bereits heute wird z. B. ein Viertel aller Schweine in Ställen mit mehr als 500 Tieren gehalten und 0,3% der Legehennenhalter besitzen über die Hälfte aller Legehennen
[36]. Solche «Tierfabriken» basieren meist auf importierten Futtermitteln und drücken dank weitgehender Rationalisierungsmöglichkeiten den Produzentenpreis oft so weit in die Tiefe, dass die Veredelungswirtschaft der bäuerlichen Familienbetriebe nicht mehr rentabel ist. Weil jedoch auch die kleinen und mittleren Bauern zur Einkommensverbesserung auf den Verdienst aus Schweinemast und Geflügelhaltung angewiesen sind und sich in diesen Kreisen zunehmend die Ansicht durchsetzt, ohne ausländisches Kraftfutter für die «Bahnhofbauern» wäre auch die Milchkontingentierung nie notwendig geworden, sah sich der Zentralverband Schweizerischer Milchproduzenten, unterstützt vom SBV, veranlasst, eine Initiative gegen übermässige Futtermittelimporte und «
Tierfabriken» zu lancieren, welche die Produktion auf betriebs- und landeseigener Futterbasis besser schützen soll. Da die bodenunabhängige industrielle Massentierhaltung weder zur Landschaftspflege noch zur Selbstversorgung der Schweiz beitrage, sei nicht einzusehen, weshalb.sie vom verfassungsmässigen Agrarschutz profitieren und die bäuerlichen Betriebe konkurrenzieren dürfe
[37].
Der Bundesrat hatte seinerseits schon Ende 1976 vorgeschlagen, die tierische Veredelungsproduktion anhand einer
Futtermittelbewirtschaftung für die bäuerlichen Familienbetriebe wieder einträglicher zu gestalten
[38]. Nachdem die redistributive, auf Importbelastungen und abgestuften Subventionen basierende Vorlage auf vielfachen Widerstand von seiten der Importeure, des Handels und der Konsumenten gestossen war, entschied sich die nationalrätliche Kommission für eine regulative Konkurrenzvariante, die nach heftiger Débatte die Zustimmung der Grossen Kammer fand
[39]. Das neue Führungsinstrument für die Fleisch- und Eierproduktion sieht — unabhängig von der betriebseigenen Futterbasis — Höchstgrenzen für die Tierbestände und massive Abgaben im Falle ihrer Überschreitung vor. Während kleine und mittlere Betriebe subventioniert werden sollen, müsste der Bund für eine Übergangszeit von zehn Jahren mit zusätzlichen Beiträgen den Abbau zu hoher Tierbestände sowie die Stillegung zu kleiner und unrentabler Betriebe fördern. Gleichzeitig würde die Bewilligungspflicht für Stallbauten, die der Bundesrat als Instrument zur Produktionslenkung auf dem Verordnungsweg bereits eingeführt hat, nun auch als strukturpolitisches Instrument im Landwirtschaftsgesetz verankert
[40].
Da nach den Vorstellungen der Nationalratskommission als zulässige Höchstbestände pro Betrieb z. B. 12 000 Legehennen, 1200 Mastschweine und 300 Mastkälber zu bewilligen sind, können die auch von bäuerlicher Seite kritisierten Auswüchse der industriellen Tierhaltung wohl nur mit Hilfe des neuen
Tierschutzgesetzes bekämpft werden, das auch für die Fleisch- und Eierproduktion eine tiergerechte Haltung vorschreibt
[41]. Nachdem die Differenzen zwischen den beiden Rätenbereinigt werden konnten, ergriff eine Genfer Liga zur Bekämpfung der Vivisektion das
Referendum gegen das Tierschutzgesetz, da sie die Vorschriften über Tierversuche und Tierhaltung als zu large und zu unverbindlich beurteilte
[42]. Praktisch alle Parteien und Interessenverbände sowie die meisten Tierschutzorganisationen setzten sich jedoch für die Ja-Parole ein, so dass die Vorlage im Dezember vom Souverän
mit überwältigender Mehrheit genehmigt wurde
[43].
[23] Presse vom 6.4.78. Vgl. auch Vr, 119, 25.5.78.
[24] Vgl. SPJ, 1977, S. 88 f.
[25] Vgl. BaZ, 2, 3.1.78; 19, 20.1.78; Union, 1, 4.1.78; 2, 11.1.78; Bund, 59, 11.3.78; NZZ, 79, 6.4.78.
[26] Vgl. IBZ, 4, 19.1.78; 12, 16.3.78; Blick, 22, 27.1.78; BüZ, 36, 13.2.78.
[27] Vgl. LNN, 4, 6.1.78 ; Union, 3, 18.1.78 ; IBZ, 11, 9.3.78 ; 12, 16.3.78 ; 29/30, 13.7.78 ; Ldb, 74, 1.4.78. Vgl. auch Amtl. Bull. NR, 1978, S. 245 f. (Postulat Jung, cvp, LU).
[29] Amtl. Bull. NR, 1978, S. 87 ff. (Motion Jung, cvp, LU); Amt!. Bull. StR, 1978, S. 113 f. (Postulat Knüsel, fdp, LU). Vgl. auch TA, 52, 3.3.78; TW, 56, 8.3.78.
[30] Amtl. Bull. NR, 1978,S. 1537 f ; Amtl. Bull StR, 1978, S. 606 ff. Vgl. auch TA, 298, 22.12.78 ; 22, 27.1.79 und Amtl. Bull NR, 1978, S. 1434 f. (Interpellation Hungerbühler, cvp, SG).
[31] Amtl. Bull. NR, 1978. S. 1537; Amtl. Bull. StR, 1978, S. 609 f. Vgl. auch Ldb, 54, 7.3.78.
[32] Vgl. die Presse von November und Anfang Dezember 1978 und Vox, Analysen eidgenössischer Abstimmungen 3.12.78. Abstimmungsresultat: 1 092 586 7a: 502 405 Nein (vgl. BBI, 1979, I, S. 210).
[33] BBI, 1978, I, S. 396 ff.; Amtl. Bull. NR. 1978, S. 264 ff., 347 ff., 374, 467, 469; Amtl. Bull. StR, 1978, S. 98 ff., 146; AS, 1978, S. 489 ff. Vgl. auch Presse vom 3.-8.3.78 und IBZ, 15, 6.4.78.
[34] BBl, 1977, I, S. 165 ff. und 234 ff.; Amtl. Bull. NR, 1977, S. 1045 ff.; 1978, S. 970 ff.
[35] Vgl IBZ, 3, 12.1.78; Union, 5, 1.2.78. Vgl. ferner Schweiz. Viehproduzentenverband, Jahresbericht, 30/1977-78.
[36] Vgl. Ww, 16, 19.4.78; Brückenbauer, 22, 2.6.78; IBZ, 32, 3.8.78; TA, 235, 10.10.78.
[37] IBZ. 2, 5.1.78; 3, 12.1.78; 6, 2.2.78; 15, 6.4.78; 37, 31.8.78; BBI, 1978, II, S. 1228. Vgl. auch NZZ, 32, 8.2.78 ; Vat., 35,11.2.78 ; BaZ, 252, 29.9.78 ; Amtl. Bull. StR, 1978, S. 223 f. (Motion Broger, cvp, AI). Vgl. ferner SPJ, 1977, S. 89 f.
[38] BBl, 1977, I, S. 173 ff. und 237 f. Vgl. auch Amtl. Bull. NR, 1978, S. 1535 f. (Interpellation Hungerbühler, cvp, SG) und SPJ, 1977, S. 89 f.
[39] BBl, 1978, II, S 1318 ff.; Amtl. Bull. NR, 1978, S. 1485 ff. Vgl. auch Bund, 66, 20.3.78 ; NZZ, 74, 31.3.78 ; 201, 31.8.78; Brückenbauer, 34,25.8.78; 44, 3.11.78 sowie die Presse vom 7.7. und 23.-25.10.78.
[40] Vgl. IBZ, 1, 29.12.77. Vgl. auch Amtl. Bull. NR, 1978, S. 354 f. (Interpellation Ueltschi, svp, BE).
[41] BBI, 1978, I, S. 662 ff. Vgl. auch LNN, 246, 23.10.78; 288, 13.12.78; Coop-Zeitung, 46, 16.11.78. Vgl. ferner SPJ, 1977, S. 91.
[42] Amtl. Bull. NR. 1978, S. 78 ff.; Amtl. Bull. StR, 1978, S. 63; BBl, 1978, I, S. 1674. Vgl. auch Tat, 67, 21.3.78; JdG, 81, 8.4.78.
[43] Vgl. die Presse von November und Anfang Dezember 1978 sowie Vox, Analysen eidgenössischer Abstimmungen, 3.12.78. Abstimmungsresultat: 1339252 Ja: 300 045 Nein (vgl. BBI, 1979, I, S. 211).
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