Année politique Suisse 1978 : Chronique générale / Finances publiques
Fiskalkrise des Staates
Wie gesellschaftskritische Analysen jüngeren und älteren Datums betonen
[1], resultiert die Fiskalkrise des Staates aus der
wachsenden Diskrepanz zwischen notwendiger Aufgabenentwicklung einerseits und verknappten Finanzierungsmöglichkeiten andererseits; sie ist keineswegs eine nur spezifisch schweizerische Erscheinung, sondern eignet tendenziell allen westlichen Industriegesellschaften und bringt nach den erwähnten Analysen letztlich die doppelte Abhängigkeit des Staates von der privaten Wirtschaft zum Ausdruck: Zum einen ist der Staat als «Steuerstaat» unmittelbar auf privat produzierte Werte angewiesen, deren Besteuerung und Leihe zur Finanzierung seiner Aktivitäten dienen. Zum andern ist der Staat als «Interventionsstaat» mittelbar auf Förderung und Entwicklung der Privatökonomie ausgerichtet, die seine Fiskalquelle darstellt. Er schafft und erhält die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Existenzbedingungen der privaten Produktion, deren Voraussetzungs- und Folgekosten er grösstenteils übernimmt. Indem er Infrastrukturleistungen zu niedrigeren als kostendeckenden Preisen anbietet, Versorgungs-, Entsorgungs- und Umweltschutzaufgaben erledigt und mittels Bildungs- und Sozialpolitik den Faktor Arbeit verbilligt, trägt er zu wohlfeileren Produktionsbedingungen bei, was eine Extensivierung und Intensivierung der Produktionsprozesse ermöglicht. Der Staat gewährt den ökonomisch schwächeren Schichten Schutz und mildert durch Umverteilungsmassnahmen die sozialen Spannungen. Schliesslich versucht er gesellschaftliche Strukturveränderungen zu lenken, den gesamtwirtschaftlichen Kreislauf auszubalancieren und über Steuerungseingriffe die konjunkturellen Schwankungen zu dämpfen, indem er bald einzelwirtschaftliche Kaufkraft ansaugt, bald gespeicherte oder neu geschaffene Kaufkraft als Investitionsanreiz einsetzt.
Die gesellschaftliche Entwicklung der Nachkriegszeit hat sich in eine ständige Erweiterung der Staatsfunktionen umgesetzt. Namentlich die Wachstumsforcierung führte seit Mitte der sechziger Jahre zu immer grösseren Voraussetzungs- und Folgekosten der wirtschaftlichen Produktion, die über einen wachsenden Staatsanteil am Sozialprodukt finanziert werden mussten. Diese Ausdehnung des öffentlichen Sektors blieb wenig umstritten, solange sie gleichsam im Huckepack-System vom wirtschaftlichen Wachstum problemlos verkraftet werden konnte und solange staatliche Inflationsgewinne gar eine reformerische Aktivität des politischen Systems zu erlauben schienen. Diese Situation hat sich in den siebziger Jahren drastisch verändert. Der konjunkturelle Einbruch, der zunehmend auch strukturelle Schwächen der Wirtschaft sichtbar werden lässt, bringt zwar die Aufgaben des Staates und insbesondere seine ökonomischen Funktionen noch stärker als bisher zur Geltung, verknappt aber gleichzeitig die Ressourcen, aus denen die staatlichen Aktivitäten finanziert werden sollten. Es geht nicht mehr um die Verteilung von Überschüssen, sondern um den Ausgleich namhafter Defizite, was die gesellschaftliche und politische Frontbildung erneut aktualisiert.
Um den Staat aus seiner Fiskalkrise herauszuführen, bieten sich im wesentlichen drei Strategien an, die jedoch alle früher oder später auf prinzipielle Grenzen ihrer Wirksamkeit stossen müssen: 1. Das klassische Mittel, die Steuerschraube anzuziehen, wird dann kontraproduktiv, wenn es die Finanzquelle des Staates, die werteschaffende Ökonomie, zum Schrumpfen oder gar zum Versiegen bringt. Im Zeichen zunehmender Internationalisierung der Produktion und hoher Kapitalmobilität sind der Steuerbelastung von Unternehmungen durch die Konkurrenzbedingungen möglicher ausländischer Standorte noch engere Grenzen gesetzt, zumal auch die Währungssituation in das Kalkül einbezogen werden muss. Eine stärkere Belastung der natürlichen Personen anhand progressiver Einkommenssteuern oder anhand regressiv wirkender Verbrauchssteuern tangiert indirekt ebenfalls die Interessen der Privatwirtschaft, indem sie entweder Kaufkraft abschöpft und damit Leistungswillen und Konsumnachfrage dämpft oder aber aufgrund erkämpfter Gehaltserhöhungen den Faktor Arbeit verteuert, was die Lohn-Preis-Spirale in Gang setzt. 2. Die Finanzierung der Defizite über staatliche Kreditaufnahme stösst dort auf ihre Grenze, wo der Kapitalmarkt mit spürbaren Zinserhöhungen reagiert und die Investitionskredite für die Privatwirtschaft verteuert werden, was, das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen oder wiederum eine inflationäre Entwicklung zur Folge haben kann. Zudem verkleinert sich der staatliche Handlungsspielraum, je höher der Anteil der Zinskosten am Gesamtbudget zu stehen kommt. 3. Ein Abbau staatlicher Leistungen ist ökonomisch nur soweit rational, als die privâte Wirtschaft das vom Staat nicht mehr Geleistete selber zu günstigeren Bedingungen besorgen kann. Die Rentabilitätskriterien der Privatwirtschaft lassen sich dabei nicht unbesehen auf die staatlichen Aktivitäten übertragen, denn neben Rationalisierungseffekten sind auch gesamtgesellschaftliche Werte wie sozialer Friede und regionaler Ausgleich gebührend in Rechnung zu stellen.
Die prinzipiellen Grenzen der drei erwähnten Strategien lassen sich mittels rein ökonomischer Kriterien nie genau bestimmen, obwohl das — und je nach Interessenlage mit unterschiedlichem Ergebnis — oft versucht wird. In ihrer realen Ausprägung sind diese Grenzen zudem immer auch durch die aktuellen politischen Kräfteverhältnisse. determiniert. In welcher Gestalt und in welcher Kombination die Strategien die staatliche Finanzpolitik bestimmen, hängt deshalb entscheidend davon ab, welche politischen Ressourcen die gesellschaftlichen Gruppen zu mobilisieren vermögen und wieweit sie ihre Interessen über das institutionelle System realisieren können.
[1] Vgl. J. O'Connor, Die Finanzkrise des Staates, Frankfurt/M. 1974, R. Hickel (Hg.), Die Finanzkrise des Steuerstaats, Frankfurt/M. 1976, K. M. Groth, Die Krise der Staatsfinanzen, Frankfurt/M. 1978, M. Piehl / D. B. Simmert, «Probleme der Staatsverschuldung», in Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zu Das Parlament), 42, 21.10.78.
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