Année politique Suisse 1979 : Eléments du système politique / Problèmes politiques fondamentaux et conscience nationale
Totalrevision der Bundesverfassung
Die
Auseinandersetzung über den Expertenentwurf zu einer Totalrevision der Bundesverfassung nahm ihren Fortgang
[11], wobei sich die erwähnten Spannungen auswirkten. In der Presse und an zahlreichen Veranstaltungen wurden die Klingen gekreuzt. Die Kantone und die beteiligten politischen Organisationen gaben vielfach die Hauptzüge ihrer Vernehmlassungen bekannt. Einzelne Gruppen veröffentlichten eigene Gegenentwürfe. So legte eine rechtsbürgerliche «Arbeitsgruppe für eine freiheitliche Bundesverfassung» einen Text vor, welcher der antietatistischen und föderalistischen Kritik am Konzept der Kommission Furgler positiven Ausdruck gab. Diese Alternative hält — im Gegensatz zum Prinzip der «offenen Verfassung» — an einer abschliessenden Aufzählung der Bundesbefugnisse fest, versucht aber die Regelungsdichte durch allgemeinere Formulierungen und zugleich durch eine teilweise Entflechtung der bundesstaatlichen Kompetenzordnung abzubauen. Wirtschaftsfreiheit und Eigentumsgarantie sollen namentlich dadurch gesichert werden, dass Grundrechte nicht durch blosse Gesetze, sondern nur durch Verfassungsbestimmungen eingeschränkt werden können. Das Provisorium der Finanzordnung findet sein Ende durch eine definitive Anerkennung der bestehenden Bundessteuern; diese werden allerdings quantitativ begrenzt, insbesondere die direkten
[12]. Während somit der Vorstoss der konservativen Arbeitsgruppe eher auf eine gewisse Rückbildung der Zentralisation und des sozialstaatlichen Ausbaus ausgerichtet ist, zeugt ein Entwurf der FDP vom Bestreben, den Reformanliegen stärker zu entsprechen, es aber bei einem «massvollen à jour-Bringen» der Verfassung bewenden zu lassen. Er lehnt gleichfalls das Konzept der «offenen Verfassung» ab und tendiert auf eine gewisse Entflechtung des Kompetenzengeftiges, rüstet jedoch den Bund mit etwas umfänglicheren Befugnissen aus als die erwähnte Arbeitsgruppe und fasst zudem die Finanzordnung grosszügiger. Fast voll übernimmt er den ausgebauten Grundrechtekatalog der Expertenkommission
[13].
Auch die übrigen veröffentlichten Stellungnahmen wandten sich grossenteils dagegen, dass der Expertenentwurf den Erlass bundesgesetzlicher Rahmenvorschriften in allen Bereichen sowie die Beschränkung der wirtschaftlichen Handlungs- und Verfügungsfreiheit zu erleichtern trachtet. Dies veranlasste die Sprecher des Bundesrates und des EJPD dazu, die Pflöcke etwas zurückzustecken. Vor allem die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten soll überarbeitet werden. Ein Abbruch des Unternehmens, wie er da und dort gefordert wurde, ist jedoch nicht beabsichtigt. Bundesrat Furgler betonte, ein teilweiser Fortschritt sei ihm lieber als gar nichts. Für die Auswertung der über 800 Vernehmlassungen beansprucht das EJPD Zeit bis Ende 1980. Darauf soll der Bundesrat über das weitere Vorgehen entscheiden und eventuell eine eigene Fassung vorlegen
[14].
Neben den Arbeiten an einer neuen Bundesverfassung sind in den letzten Jahren auch Totalrevisionsbestrebungen in mehreren Kantonen zu verzeichnen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass ohne eine ausserordentliche Politisierung, wie sie der Jurakonflikt zu erzeugen vermochte, solche Initiativen auf steinigen Boden fallen
[15]. So erlitt ein erstes Reformwerk im Aargau, des zu Beginn des Jahrzehnts an die Hand genommen und 1978 nach mehr als fünfjähriger Tätigkeit eines Verfassungsrates abstimmungsreif geworden war, eine empfindliche Niederlage, die auch auf die eidgenössischen Revisionsbemühungen zurückwirkte. Die Aargauer Verfassungsvorlage enthielt neben einem ausgebauten Grundrechtekatalog namentlich eine Klärung des Gesetzgebungsprozesses, indem sie die gesetzgeberischen Kompetenzen des Kantons abschliessend aufzählte und durch die Abschaffung der Parlamentsdekrete der Umgehung des Volksentscheids einen Riegel schob. Dafür reduzierte sie das obligatorische Gesetzes- und Finanzreferendum auf ein fakultatives. Obwohl die meisten Parteien — mit Ausnahme von SVP und Nationaler Aktion — der Vorlage zustimmten, scheiterte sie, wobei eine bedrückende Stimmabstinenz und das Unbehagen über einen Abbau der Volksrechte zusammenwirkten
[16]. Mit hauchdünner Mehrheit wurde dann Ende des Jahres immerhin die Fortführung der Verfassungsarbeit gutgeheissen
[17]. Weitere Revisionsunternehmungen sind in Baselland, Solothurn und Thurgau in Gang gekommen. Während man die Baselbieter ohne vorgängige Befragung gleich einen Verfassungsrat wählen liess, sucht man in Solothurn nach einem Verfahren, das durch einen früheren Einbezug der Stimmbürger der Gefahr eines Scherbenhaufens vorbeugen soll
[18].
[11] Vgl. SPJ, 1978. S. 11 ff.
[12] Arbeitsgruppe für eine freiheitliche Bundesverfassung. Entwurf für eine Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung, Bern 1979. Der Entwurf ordnet namentlich Landesverteidigung. Nationalstrassen und AHV (ohne Ergänzungsleistungen) voll dem Bund zu, reduziert aber dessen Befugnisse (z.B. in der Krankenversicherung, beim Wohnungsbau und in der Alkoholgesetzgebung). Für die direkten Bundessteuern gilt ein Höchstsatz von 5%. Zur Entflechtung der Kompetenzenordnung vgl. unten. Teil I, 1d (Bund und Kantone). Geschäftsführer der Arbeitsgruppe ist H. G. Giger, Redaktor des « Trumpf Buur ». Unter den 1800 Mitgliedern sollen sich ungenannte eidgenössische Parlamentarier befinden. Vgl. auch BaZ, 47, 24.2.79 ; JdG, 46. 24.2.79; ferner J. Frischknecht et al., Die unheimlichen Patrioten, S. 196 f. u. 303.
[13] Text in Politische Rundschau, 58/1979. S. 103 ff.; vgl. S. 93 ff.. ferner Presse vom 29.6.79. Der Entwurf überträgt ebenfalls Landesverteidigung, Nationalstrassen und AHV voll dem Bund und entlastet diesen von Wohnungsbau und Alkoholmonopol. fügt aber Bundeskompetenzen für Energie, Schulkoordination, Konsumentenschutz und Parteienförderung bei.
[14] So BR Furgler in LNN, 273, 24.11.79. Vgl. auch BaZ, 148, 28.6.79: 216, 15.9.79: Lib.. 252. 2.8.79. Für einen Abbruch traten der Kanton VD (24 Heures, 258, 6.1 1.79). die LPS (Mitteilungsblatt, Nr. 10. Sommer 1979, Anhang. S. 21 ff.), der Vorort (NZZ. 154. 6.7.79) und der SGV (Ldb, 153, 6.7.79; NZZ, sda, 202. 1.9.79) ein. Argumente für eine föderalistische Korrektur enthält Chr. Dominicé. «Fédéralisme, démocratie et constitution », in Menschenrechte. Föderalismus, Demokratie. Festschrift zum 70. Geburtstag von W. Kägi, Zürich 1979. S. 65 ff. Auf einem ökonomischen Modell des Menschen beruht die Kritik von M. Janssen / K. Hummler. Bundesverfassung und Verfassungsentwurf. Eine ökonomisch-rechtliche Analyse, Zürich 1979. Eine stärkere Betonung von Wirtschaftsfreiheit und Eigentumsgarantie, jedoch unter Anerkennung einer zielgerichteten staatlichen Lenkung der Wirtschaft,. vertritt auch S. Borner, «Wirtschafts-. Sozial- und Eigentumsordnung im Verfassungsentwurf – ein Diskussionsbeitrag aus ökonomischer Sicht », in Zeitschrift für schweiz. Recht, NF. 98/1979, I, S. 463 ff. Vgl. ferner unten. Teil I, 4a (Einleitung).
[15] Ausser der Verfassung des neuen Kantons JU (SPJ, 1977, S. 26) sind seit dem 1. Weltkrieg nur in NW (SPJ, 1965, S. 142. Anm. 2) und OW (SPJ, 1968, S. 134) neue Grundgesetze in Kraft getreten. Über das Scheitern des Verfassungsentwurfs für einen Kanton Basel vgl. SPJ, 1969. S. 28 f.
[16] Die Ablehnung erfolgte bei 21% Beteiligung mit 56.5% der Stimmen (NZZ, 99. 30.4.79). Vgl. NZZ, 88. 17.4.79: ferner SPJ, 1973. S. 11; 1978, S. 153 sowie unten. Teil II, 1a. Zur Rückwirkung auf die Bundesrevision vgl. BaZ, 100. 30.4.79: Bund, 101, 2.5.79; TA, 271. 21.11.79.
[17] Zustimmung mit 27 134 zu 26 946 Stimmen bei 21% Beteiligung (Vat., 280. 3.12.79).
[18] Vgl. unten. Teil II, 1a: zu SO insbes. TA, 271, 21.11.79: NZZ, 278, 29.11.79.
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