Année politique Suisse 1979 : Politique sociale / Assurances sociales
Allgemeine Fragen
Nach einer Zeit der stürmischen Entwicklung und eines grosszügigen Ausbaus der schweizerischen Sozialversicherungswerke ist mit dem Konjunktureinbruch Mitte der siebziger Jahre eine neue Phase eingetreten. Nicht nur die bürgerlichen Parteien, sondern auch namhafte Wissenschafter fordern eine Denkpause angesichts der aufgrund der beschlossenen Verbesserungen auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber zukommenden neuen Lasten. Es gelte, die sich aus den bisherigen Beschlüssen ergebenden wirtschaftlichen und finanziellen Konsequenzen zu überprüfen und abzuklären, durch welche Korrekturen die soziale Sicherheit auch für zukünftige Generationen gewährleistet werden könne. Schliesslich sei zu überdenken, welche Richtung man bei einem weiteren Ausbau der bisherigen Leistungen einzuschlagen habe
[1]. Diesen Anliegen dienen auch
zwei wissenschaftliche Untersuchungen, einerseits der im Dezember 1978 publizierte Bericht «Lage und Probleme der schweizerischen Wirtschaft» der Professoren Bombach, Kleinewefers und Weber
[2], andererseits die 1979 veröffentlichte Studie des Soziologischen Instituts der Universität Bern, in der die wirtschaftliche Lage der Rentner im gesamtschweizerischen Vergleich untersucht worden ist
[3].
Mit dem im Rahmen eines Forschungsprogramms des Schweizerischen Nationalfonds durchgeführten Projekt des Soziologischen Instituts der Universität Bern wurde erstmals der Versuch unternommen, verlässliche Zahlen über die ökonomische Situation der Betagten zu erhalten. Die Resultate einer früheren, auf die Gemeinde Steffisburg bei Thun beschränkten Untersuchung
[4] bestätigend, zeigte die Studie einerseits, dass es der Mehrheit der Rentner gut geht, indem 40% über mittlere sowie je rund 21% über hohe und sehr hohe Einkommen verfügen, während 38% hohe bis sehr hohe und weitere 19% mittlere Vermögen besitzen; andererseits belegte sie aber auch, dass trotz der starken Einkommensverbesserungen, von denen die Pensionierten in den Jahren 1972–76 profitieren konnten, über 18% der Bezugsberechtigten mit geringen Mitteln auskommen müssen und deshalb zumindest teilweise in wirtschaftlich bedrängter Lage leben. Die bereits bis anhin ausgerichteten Ergänzungsleistungen der AHV erzielen nach Angabe des Berichts zwar dort, wo sie ausbezahlt werden, gute Wirkung, doch wegen der schlechten Information der Rentner und einer vor allem in ländlichen Gebieten verbreiteten Furcht, als armengenössig zu erscheinen, erreichen sie noch lange nicht alle Bedürftigen.
Wegen der in der Studie des Soziologischen Instituts veröffentlichten arithmetischen Durchschnittseinkommen und -vermögen, denen man vorwarf, über die wirkliche ökonomische Lage der Pensionierten nichts auszusagen, geriet der Bericht unter scharfen Beschuss. Aus dem darin enthaltenen, häufig zuwenig beachteten statistischen Material zur Einkommens- und Vermögensverteilung lassen sich jedoch über den bisherigen Ausbau der schweizerischen Altersvorsorge, insbesondere der AHV, interessante Erkenntnisse gewinnen. Es zeigt sich vor allem, dass diese Versicherung gewisse unübersehbare Mängel besitzt, indem sie den Bedürfnissen der wirtschaftlich Schwachen nur zum Teil gerecht wird, während ihre Leistungen bloss einen relativ geringen Teil des Lebensunterhalts der Finanzkräftigen decken
[5]. Dieses Ergebnis der Untersuchung des Soziologischen Instituts wird durch den Bericht der Ökonomen Bombach, Kleinewefers und Weber bestätigt. Diese kommen in ihrer Studie nämlich unzweideutig zum Schluss, durch die starken prozentualen AHV-Erhöhungen der letzten Jahrzehnte hätten die reicheren Rentner stärkere Einkommensverbesserungen (absolut gemessen) erhalten als die ärmeren Betagten. Es habe somit eine Umverteilung von den niedrigen zu den hohen AHV-Renten stattgefunden. Diese Entwicklung hatte nicht nur zur Folge, dass die AHV eines ihrer wesentlichsten verteilungspolitischen Ziele verfehlte, vielmehr hatte sie tiefgreifende finanzielle Konsequenzen, da die AHV-Rechnung durch die entsprechenden Mehraufwendungen aus dem Gleichgewicht geriet, ohne dass man dies durch eine adäquate Wirksamkeit hätte rechtfertigen können. Wollte man auf dem eingeschlagenen Weg nicht einfach weiterschreiten. so war nunmehr der Zeitpunkt für Reformen gekommen.
In ihrem
Gutachten kritisierten die drei Ökonomen hauptsächlich die mangelnde Koordination zwischen den drei Säulen der historisch gewachsenen schweizerischen Altersvorsorge (AHV, berufliche Vorsorge, individuelle Vorsorge). Deutlich zeigt sich dieses Manko in der Existenz verschiedener Rentenskalen und -anpassungssysteme bei den ersten beiden Säulen. Während im Fall der AHV die Skala nur begrenzt einkommensabhängig ist, existiert bei der zweiten Säule ein durchgehender Zusammenhang zwischen Einkommen und Rente. Analog dazu erfolgt die Anpassung bei der AHV nach dem System des Mischindexes, während bei den Pensionskassen eine Teildynamisierung angewendet wird
[6]. Neben der mangelnden Koordination bemängelten die Experten die fehlende Kostentransparenz, die ihrer Meinung nach dazu führt, die wirkliche Belastung der aktiven Bevölkerung durch die Vorsorgeeinrichtungen zu verschleiern. So handelt es sich beim Arbeitgeberbeitrag, wenn er voll auf die Preise überwälzt werden kann, eigentlich um einen Lohnbestandteil. Diese an sich offensichtliche Feststellung bewog die drei Wissenschaftler die Forderung aufzustellen, in Zukunft solle der Lohnemfänger, bei entsprechend höherem Lohn, ganz für die Sozialversicherungen aufkommen. Gleichzeitig sollte damit auch die — ökonomisch gesehen — nicht zu rechtfertigende Bevorzugung der Selbständigerwerbenden durch reduzierte Prämien aufgehoben werden.
Ein Hauptaugenmerk richteten die drei Experten auf die der aktiven Bevölkerung in Zukunft aus der Altersvorsorge erwachsenden Lasten. Angesichts der Überalterung der schweizerischen Wohnbevölkerung und der deswegen je länger je kleiner werdenden Zahl der Werktätigen, die für einen Rentner aufkommen müssen, wird die Belastung der im Erwerbsleben Stehenden selbst dann zunehmen, wenn die Sozialwerke nicht weiter ausgebaut werden. Diese Entwicklung kann nach Ansicht der Experten durchaus bewirken, dass das verfügbare Einkommen nicht nur relativ, sondern sogar absolut abnimmt. Ihrer Meinung nach liegt hierin die eigentliche Probe für die Solidarität zwischen den Generationen, da dannzumal die Einkommensumverteilung nicht mehr aus dem Zuwachs finanziert werden kann, sondern zulasten des Besitzstandes der aktiven Generation gehen wird. Als eigentliches Ceterum censeo der Studie kann deshalb die Warnung aufgefasst werden, man solle ohne Not und gründliche Abklärung keine weiteren Ausbauvorhaben in Angriff nehmen
[7].
Hart gingen die Professoren Bombach, Kleinewefers und Weber mit dem vom Nationalrat bereits 1977 verabschiedeten Gesetzesentwurf für den Aufbau der zweiten Säule
[8] ins Gericht. Das nach dem Kapitaldeckungsverfahren funktionierende Projekt soll dem Erwerbstätigen zum Zeitpunkt der Pensionierung zusammen mit der AHV einen bestimmten Prozentsatz des Durchschnittseinkommens der letzten Erwerbsjahre garantieren, wobei die Renten der Teuerung angepasst werden sollten. Die Experten hielten nicht nur das Finanzierungsverfahren, sondern auch das Leistungsprimat (Festsetzung einer bestimmten Rentenleistung, nach der sich die zu entrichtenden Beiträge zu orientieren haben) für verfehlt, da ein derartiges System nur dann funktionieren kann, wenn sich die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung einigermassen voraussagen lässt. Als einzig gangbare Alternative erachteten sie das auch bei der AHV zur Anwendung gelangende Umlageverfahren und die Ausrichtung der Rentenhöhe auf die einbezahlten Beiträge (Beitragsprimat). Sie hielten ein derartiges Umdenken für umso notwendiger, als das bis dahin vorgesehene System, ganz abgesehen von der Unsicherheit für den Beitragszahler. auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung unübersehbare retardierende Auswirkungen hätte
[9].
[1] Vgl. Bericht der Expertengruppe «Wirtschaftslage». Lage und Probleme der schweizerischen Wirtschaft 1978/79, Bern 1978; W. Wittmann, Wohin treibt die Schweiz?, Bern 1979; ferner Bericht über Vortrag Prof. S. Borner in Ldb, 14. 18.1.79 sowie SPJ, 1977, S. 130 f.; 1978. S. 127.
[2] Bericht der Expertengruppe «Wirtschaftslage». Lage und Probleme der schweizerischen Wirtschaft 1978/79, Bern 1978.
[3] Institut für Soziologie Universität Bern, Die wirtschaftliche Lage der Rentner in der Schweiz, Bem 1979.
[4] Vgl. SPJ, 1977. S. 131
[5] Kritik: VO, 172. 10.9.79 TA, 220, 22.9.79; Bund, 240. 13.10.79; BaZ, 244. 18.10.79; Vr, 274, 26.11.79. Vgl. anderseits Presse vom 14.9.79 sowie NZZ, 10.12.79. Zu den Mängeln des Systems vgl. auch S. Sommer, Das Ringen um soziale Sicherheit in der Schweiz, Diessenhofen 1978, S. 297 ff.
[6] Mischindexierung: alle Renten werden ständig nach dem arithmetischen Mittel zwischen Preis- und Lohnindex erhöht. Teildynamisierung: die Renten der neu ins Bezugsalter Tretenden (Neurenten) werden nach dem Lohnindex. die laufenden Renten (Altrenten) dagegen nach dem Preisindex berechnet. Vgl. Tabelle in: Bericht der Expertengruppe «Wirtschaftslage ». Lage und Probleme der schweizerischen Wirtschaft /978/79, Bern 1978. S.254.
[7] Bericht der Expertengruppe «Wirtschaftslage», Lage und Probleme der schweizerischen Wirtschaft 1978/79, Bern 1978, S. 261 ff.
[8] Vgl. SPJ, 1977, S. 134.
[9] Bericht der Expertengruppe «Wirtschaftslage», Lage und Probleme der schweizerischen Wirtschaft 1978/79, Bern 1978, S. 273 ff.
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