Année politique Suisse 1981 : Politique sociale / Groupes sociaux
 
Jugend
Die Jugendpolitik wurde auch im vergangenen Jahr weitgehend von den Unruhen, die Ende Mai 1980 aufgebrochen waren, bestimmt. Zweifellos kam den Jugendbewegungen, die sich zeitweise als allgemeine «Bewegung der Unzufriedenen» verstanden, eine so grosse Bedeutung zu, weil sie viele Probleme aufwarfen, die nicht nur die Jugend, sondern weitere soziale Gruppen oder auch die ganze Gesellschaft betreffen. Die gesamtgesellschaftliche Dimension der Jugendunruhen kam allerdings weniger in den konkreten Forderungen der Jugendlichen zum Ausdruck als vielmehr in den Auseinandersetzungen mit den Ursachen, Formen und Wirkungen der Unruhen sowie in den daraus neu entfachten Diskussionen über die Grundlagen und die Entwicklungsrichtung unserer Gesellschaft [19].
Als zentraler Punkt kristallisierte sich mehrerenorts die Forderung nach einem autonomen Jugendzentrum (AJZ) heraus. Alle anderen Postulate blieben daneben nur punktuell und zweitrangig. Der Wunsch nach autonomen Begegnungszentren war der gemeinsame Nenner der unterschiedlichen Gruppen und Tendenzen, die an der Jugendbewegung partizipierten. Die Forderung nach einem AJZ verschmolz z.T. mit dem Verlangen nach mehr Lebens- und Wohnraum und wurde einige Male auch mit denselben Methoden der Besetzung angemeldet [20].
Die politischen Fronten, die sich im Zusammenhang mit den Jugendunruhen gebildet hatten, wurden durch die Zwischenfälle am 1. Mai etwas verändert. Zwar war schon von Anfang an die Arbeiterbewegung in ihrer Haltung der Jugendbewegung gegenüber gespalten und insbesondere die Politik der Stadtzürcher SP, die die Trägerschaft für das AJZ übernommen hatte, hart umstritten. Der Grossteil der Linken hatte sich wohl mit vielen Forderungen der Bewegung solidarisiert, aber auch klar von den Kampfmethoden distanziert. Mit der Störung der 1. Mai-Kundgebungen in Basel und Zürich durch radikale Gruppen von Jugendlichen, die mit Handgreiflichkeiten gegen Gewerkschafter endete, vertiefte sich der Graben weiter [21].
Die Entwicklung in Zürich war gekennzeichnet durch den Kampf der Jugendbewegung für das AJZ mittels Demonstrationen, Besetzungen und Strassenschlachten gegen die Polizeikräfte. Nur dank dem Engagement der beiden Landeskirchen und der Pro Juventute, die gemeinsam die Trägerschaft übernommen hatten, konnte das AJZ im April wieder geöffnet werden, nachdem es im Herbst 1980 durch die Polizei geschlossen worden war. Nach der Wiederöffnung beschäftigten vor allem die sozialen Probleme im AJZ und die Krawallprozesse die Offentlichkeit [22]. In Zürich wie auch andernorts zeigte sich, dass die im AJZ arbeitenden Jugendlichen den Problemen, die durch Randgruppen in die Jugendhäuser hineingetragen wurden, nicht gewachsen waren. Alkohol- und Drogensüchtige, schutzsuchende entlaufene Jugendliche und Klein- und Beschaffungskriminelle sowie eine weitverbreitete apathische Konsumhaltung lähmten zuweilen das Leben im AJZ und verbreiteten Resignation in den Betriebsgruppen.
Eine neue Meinungsumfrage zeigte, dass sich die Mehrheit der Zürcher nach wie vor für ein AJZ, für ein friedlich ausgeübtes Demonstrationsrecht und für zurückhaltendes polizeiliches Handeln aussprach [23].
Die im Laufe der Unruhen zunehmend restriktivere Demonstrations- und Kundgebungsbewilligungspraxis, vom Stadtrat als taugliches Mittel zur Verhinderung weitergehender Ausschreitungen verteidigt, wurde von linken Kreisen heftig kritisiert mit dem Argument, eine solche Praxis beschneide die demokratischen Rechte und programmiere geradezu gewalttätige Auseinandersetzungen. Die Mittel der Polizei, unbewilligte Demonstrationen aufzulösen, waren ebenfalls umstritten. Insbesondere der Einsatz von Gummigeschossen, die zu mehreren schweren Augenverletzungen geführt hatten, wurde verurteilt [24].
Die bürgerlichen Parteien forderten in einer gemeinsamen Erklärung vom Stadtrat, die Polizeikontrollen in und um das AJZ zu intensivieren. Ihren Druckversuch unterstrichen sie mit der Drohung, sie würden die Kantonsregierung bitten, in der Stadt für Ruhe und Ordnung zu sorgen. In der Folge wurden verschiedentlich Polizeikontrollen im AJZ durchgeführt [25].
In Lausanne setzte die Jugendbewegung «Lausanne bouge» die Forderung nach einem AJZ mittels einer Besetzung durch. Die vom sozialdemokratischen Polizeidirektor verfolgte «Politik der Nicht-Eskalation» führte dazu, dass ein «liberaler Wind in Lausannes Strassen wehte». Eine Meinungsumfrage zeigte grosse Toleranz in der Bevölkerung und einige Sympathie der Jugendbewegung gegenüber [26].
In Bern wurde im Februar eine Villa besetzt und zum Provisorischen AJZ (PAJZ) erklärt, nachdem im Gemeindeparlament der Weg zur Einrichtung eines Jugendzentrums in der Reitschule bereits geebnet worden war. Zwar bot der Besitzer der Liegenschaft Hand zu einer Legalisierung des PAJZ, doch Auseinandersetzungen mit der Anwohnerschaft und mit dem PAJZ feindlich gesinnten Jugendlichen hielten die Diskussion um ein Jugendzentrum auf Dauerflamme. Obwohl beim Umbau der ehemaligen Reitschule finanzielle Engpässe auftauchten, konnte der Betrieb eines regulären AJZ wie geplant im Herbst aufgenommen werden [27].
Auch in Basel wurde im Februar im Anschluss an eine Demonstration eine Liegenschaft besetzt und als AJZ ausgerufen. Da die Eigentümerin auf eine Hausfriedensbruchklage verzichtete, zeichnete sich eine Legalisierung des Betriebes ab. Tiefe Spannungen zwischen den politischen Kräften, tätliche Auseinandersetzungen zwischen Besetzern und AJZ-Gegnern sowie eine massive Polizeikontrolle führten schliesslich zu einer Schliessung des AJZ. Die Behauptung einer Zusammenarbeit zwischen Polizei und jugendlichen Schlägerbanden erregte danach einiges Aufsehen. Die politische Uneinigkeit über die Art der Autonomie eines Jugendzentrums blockierte in der Folge eine Lösung. Mehrmalige Besetzungen von Liegenschaften durch die AJZ-Jugend wurden sofort beendet [28].
Auf bundespolitischer Ebene lösten die Jugendunruhen keine gesetzgeberischen Prozesse aus, aber Ursachen und Massnahmen standen verschiedentlich zur Diskussion. Im März wurde vom Nationalrat ein Postulat Schüle (fdp, SH) überwiesen, das von der Eidgenössischen Kommission für Jugendfragen (EU) «Schlussfolgerungen» verlangte und die Ausarbeitung von «konkreten Empfehlungen zuhanden der für die kantonale und kommunale Jugendpolitik verantwortlichen Instanzen». Eine Interpellation der sozialdemokratischen Fraktion forderte den Bundesrat auf, zu einigen von ihr formulierten Thesen zu den Jugendunruhen Stellung zu nehmen, und verlangte die Prüfung der Frage, ob nicht auch Jugendliche in die EKJ aufzunehmen seien; die Regierung stellte sich aber gegen dieses Begehren. Im weiteren lehnte der Bundesrat eine Motion der PdA/PSA/POCH-Fraktion vom Dezember 1980 grösstenteils ab, die Privilegien hinsichtlich Arbeitszeit, Feriendauer und Bildungsurlaub für jugendliche Arbeitnehmer anstrebte. Lediglich die Forderung nach einer verlängerten minimalen Feriendauer war er bereit, in der unverbindlichen Form eines Postulats entgegenzunehmen. Stoff für satirische Kommentare lieferte ferner eine Einfache Anfrage von Nationalrat Oehen (na, BE), der sich nach der Meinung des Bundesrates zur These erkundigte, dass Phosphatzusätze in Lebensmitteln und Getränken mitverantwortlich seien für die Unruhen, indem sie «minimale zerebrale Dysfunktionen» auslösten [29].
Im Herbst 1981 veröffentlichte die EKJ eine Konkretisierung der im Vorjahr in den «Thesen» geforderten «offenen Jugend- und Gesellschaftspolitik». Die Kommission kam zum Schluss, dass die Gefahr einer «Fraktionierung der Gesellschaft durch fraktionierte Politik» bestehe und dass sich zunehmend eine «desintegrierte Gesellschaft mit einer Vielzahl von Gruppen und Subkulturen, die sich gegenseitig abschotten und auch bekämpfen», herausbilde. Diesem Abbröckeln des Konsenses müsse durch die Integration der Jugendlichen entgegengewirkt werden, wobei Integration nicht einseitige Anpassung heissen dürfe. Mehr Aufsehen als die Analyse und die allgemeinen Richtlinien einer Jugendpolitik erregten die konkreten Vorschläge des Berichts. Die Kommission wandte sich gegen Einschränkungen der jugendlichen Autonomiebedürfnisse durch eine formalistische Auslegung der Gesetze, benannte die Grenzen der Polizeigewalt und setzte sich für eine milde Anwendung des Strafrechts ein, indem sie vorschlug, diejenigen, deren Vergehen sich auf die Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration beschränke, zu begnadigen. Einerseits wurde der unter dem Motto «Dialog statt Konfrontation» veröffentlichte Kommissionsbericht als Monolog kritisiert, da er die Jugendlichen nicht direkt einbezogen habe. Anderseits wurde der Bericht als «praxisfern» qualifiziert, und der Zürcher Stadtpräsident meinte, der Bericht bewege sich «sehr nahe bei Gedankengängen, wie sie in Zürich von POCH, PdA und linkem Flügel der SP vertreten werden». Wurde im Vorjahr eine Konkretisierung der «Thesen» verlangt, so reagierten die angesprochenen Kreise nun mit «höflicher Zurückhaltung» [30].
Im Laufe des Berichtsjahres wurden neue Analysen und Beurteilungen der Jugendunruhen von verschieden orientierter Seite publiziert. In einer Schrift aus kirchlichen Kreisen wurde die gesamtgesellschaftliche Dimension der Unruhen betont: nicht nur junge Menschen, sondern breite Bevölkerungsteile hätten das Vertrauen verloren, dass die anstehenden Menschheitsprobleme mit den Mitteln des heutigen demokratischen Rechtsstaates zu lösen seien. Ziel sei es, sich von den drängenden Zeitfragen heilsam bewegen zu lassen. Besonders hervorgehoben wurden auch die positiven Impulse für eine ökumenische Zusammenarbeit der Landeskirchen, die in dieser Form «das erste Mal seit der Reformation» stattgefunden habe. Eine Stellungnahme des Bundesvorstandes der Jungen Kirche beginnt mit folgender Bemerkung: «Wir brauchen die Jugendunruhen und -bewegungen in unserer Gesellschaft, damit sich etwas bewegt» [31].
In einem von der NZZ herausgegebenen Buch nimmt H. Bütler eine rechtsbürgerliche Position ein. Er lehnt gesellschaftliche Ursachen als Erklärung der Jugendunruhen ab und macht hauptsächlich eine Kerngruppe mit z.T. hochgradigem politischem Bewusstsein sowie die Unterstützung durch die Linke für sie verantwortlich. Wohl zu Recht betont er die ideologische Verwandtschaft der Jugendbewegung mit der italienischen Autononìen-Szene. Gemeinsamkeiten des Liberalismus mit der neuen Bewegung sieht er nur dort, wo sie als «Korrektur zur Vergewaltigungstendenz der sozialen Gebilde» auftritt [32].
Die Philosophin J. Hersch vertrat an einem Internationalen Management-Symposium die Meinung, der Entwicklung müsse Einhalt geboten werden durch eine Wiederherstellung der elterlichen Autorität und durch ein verstärktes Wertbewusstsein. In einem ähnlichen Sinne wurde von anderer Seite betont, zur Integration der Jugendlichen bedürfe es in erster Linie einer konkretem Förderung der Familie in Form von erhöhten Familienzulagen, vermehrten Familienwohnungen und familienfreundlichen Arbeitszeiten [33]. Im Gegensatz zu dieser auf die Erhaltung der in Frage gestellten Normen abzielenden Programmatik betonten neolinke Kreise die Unumkehrbarkeit der sich vollziehenden Prozesse. Die neuen Politikformen und Ansprüche hingen mit einem neuen Sozialisationstyp zusammen und stellten eine subjektivistische Revolte gegen die kapitalistische Gesellschaft dar, die immer weniger in der Lage sei, die anstehenden Probleme zu lösen und alle sozialen Gruppen zu integrieren [34].
In der «Basler Zeitung» wurde ein Artikel veröffentlicht, der die Verknüpfung der Jugendbewegung mit der Rock-Kultur betonte, aus der sie herausgewachsen war. Der geforderten Anpassung in Familie, Schule und am Arbeitsplatz werde durch die Jugendlichen Widerstand in Form einer Gegenkultur entgegengesetzt, die sich als Rock- und Punk-Szene darstelle [35].
 
[19] Vgl. SPJ, 1980, S. 137 ff. Gesamtgesellschaftliche Dimension : vgl. etwa Vr, 54, 18.3.81. Eine Übersicht über die Literatur zur «80er-Bewegung» bis zum Stand von Ende Oktober 1981 in: Widerspruch, 1981, Nr. 2, S. 139 ff.
[20] Vgl. Freiraum Autonomes Jugendzentrum, Horgen 1981. Auch: Die Angst der Mächtigen vor der Autonomie, Horgen 1981. Zum Wohnraumproblem vgl. oben, Teil I, 6c (Construction de logements).
[21] Rote Revue, 1981, Nr. 2, S.23 f. u. 4; S.1 ff. 1.Mai-Ereignisse: Presse vom 2.5.81; SGB, 17, 7.5.81; SP-Information, 98, 25.5.81; ferner Ww, 19, 6.5.81; Vr, 89, 8.5.81; Brächise, 16, 9.5.81.
[22] Besetzung: Presse vom 23.3.81. Trägerschaft : Presse vom 27.2. u. 30.3.81. Probleme: Presse vom 10.4.81; Vr, 92, 13.5.81; TA, 146, 27.6.81; 165, 20.7.81. Justiz: TA, 17, 22.1.81; 187, 15.8.81; 237, 13.10.81.
[23] TA, 115, 20.5.81. Vgl. SPJ, 1980, S. 18.
[24] Demonstrationsbewilligungspraxis: TA, 19, 24.2.81; 272, 23.11.81. Einsatzmittel: TA, 26, 2.2.81.
[25] Forderungskatalog: TA, 133, 12.6.81. Polizeikontrollen: Presse vom 16.6. u. 26.6.81; TA, 146, 27.6.81.
[26] Presse vom 1.3.81; Suisse, 101, 11.4.81; BaZ, 115, 19.5.81; TLM, 178, 27.6.81.
[27] Presse vom 7., 23. u. 28.2.81; Bund, 100, 1.5.81; 108, 11.5.81; TW, 114, 18.5.81; Presse vom 21.9.81.
[28] Presse vom 16.2.81; BaZ, 94, 23.4.81; 103—105, 5.—7.5.81; 205, 3.9.81; 207, 5.9.81.
[29] Schüle: Amtl. Bull. NR, 1981, S. 394 f. SP-Fraktion: Amtl. Bull. NR, 1981, S. 1375 f. Kommunistische Fraktion: Verhandl. B.vers., 1981, I, S. 31; Bund, 43, 21.2.81; TLM, 52, 21.2.81.
[30] Stichworte zum Dialog mit der Jugend, zusammengetragen von der Eidg. Kommission für Jugendfragen, Bem 1981. Vgl. SGT, 239, 13.10.81; Woche, 6, 16.10.81; Ww, 43, 21.10.81 (S. Widmer) ; BaZ, 267, 14.11.81 sowie SPJ, 1980, 5.140.
[31] C. Stückelberger / V. Hofstetter (Hrsg.), Die Jugendunruhen, Basel 1981. Vgl. insbesondere S. 61 ff. u. 121ff.
[32] H. Bütler / Th. Häberling (Hrsg.), Die neuen Verweigerer, Zürich 1981.
[33] NZZ, 115, 20.5.81; SGT, 31, 8.2.81; 116, 20.5.81; vgl. auch J. Hersch, L'Ennemi c'est le nihilisme: anti-thèses aux «Thèses» de la Commission fédérale pour la jeunesse, Genève 1981.
[34] Tell, 34, 27.2.81; Bund, 55, 7.3.81.
[35] BaZ-Magazin, 8, 21.2.81.