Année politique Suisse 1982 : Infrastructure, aménagement, environnement / Energie
 
Kernenergie
Obwohl die Verwirklichung der Gesamtenergiekonzeption in eine entscheidende Phase getreten war, lag das Schwergewicht des öffentlichen Interesses weiterhin bei den Auseinandersetzungen um die Nutzung der Kernenergie und dabei insbesondere beim Konflikt um das in Kaiseraugst (AG) geplante Kernkraftwerk. In einer Botschaft begründete der Bundesrat seinen 1981 gefällten Entscheid, für dieses Werk die Rahmenbewilligung zu erteilen. Abgestützt auf die Prognosen der von ihm eingesetzten Energiekommission, der GEK-Kommission und der Elektrizitätswirtschaft erachtet er einen Bedarfsüberschuss von 200-600 MW (Megawatt) bis 1990 und von 800-1400 MW bis zur Jahrtausendwende für ausgewiesen. Um die erwartete Produktionslücke zu schliessen und weiterhin eine 95 %ige Versorgungssicherheit während des Winters zu garantieren, müsse deshalb in der ersten Hälfte der neunziger Jahre ein Kraftwerk von der in Kaiseraugst geplanten Leistungsklasse in Betrieb genotnmen werden. Neben der Bedarfsanalyse, welche gemäss dem Bundesbeschluss zum Atomgesetz für Projekte mit erteilter Standortbewilligung das einzige relevante Entscheidkriterium zur Ausstellung der Rahmenbewilligung ist, befasst sich die Botschaft auch mit andern Vorbehalten gegen das geplante Werk. Dabei wird festgestellt, dass Kaiseraugst wegen der hohen Bevölkerungsdichte und des Erdbebenrisikos von allen vorgesehenen Standorten für zukünftige Kernkraftwerke die ungünstigsten Voraussetzungen biete. Die Einwände seien zwar nicht derart gravierend, dass sich ein Widerruf der Standortbewilligung aufdränge, aber doch ernsthaft genug, um die spätere Erteilung der Baubewilligung von der Erfüllung bestimmter Auflagen im Bereich der technischen Sicherheit und der Notfallplanung abhängig zu machen [18]. Die vorberatende Ständeratskommission schloss sich den Argumenten des Bundesrates weitgehend an und empfiehlt eine Zustimmung zur Rahmenbewilligung. Allerdings soll die Verwaltung noch abklären, ob nicht eine gewässerschutzgerechte Kühlungsmethode anwendbar sei, welche es erlauben würde, auf die grossen Kühltürme zu verzichten. Zu einer Neuauflage der im Vorjahr mit der Kraftwerkgesellschaft geführten Gespräche über einen allfälligen Bauverzicht kam es nicht [19]. Trotz der speditiven Kommissionsarbeit ist ein definitiver Entscheid über die Rahmenbewilligung in unmittelbarer Zukunft nicht zu erwarten: einerseits wird sich die Volkskammer kaum vor den im Herbst 1983 stattfindenden Neuwahlen mit diesem brisanten Thema beschäftigen wollen, und anderseits erscheint eine allfällige Bewilligungsgewährung solange wenig sinnvoll, als das Verdikt der Stimmbürger über das Volksbegehren zur Verhinderung weiterer Kernkraftwerke nicht bekannt ist [20].
In seiner — von der Elektrizitätswirtschaft übrigens heftig kritisierten — Verbrauchsprognose hat sich der Bundesrat zum Bedarf für ein zusätzliches Atomkraftwerk neben Kaiseraugst nicht ausgesprochen, womit das 1980 eingereichte Rahmenbewilligungsgesuch für ein Projekt in Graben (BE) in der Schwebe bleibt. Ein zeitliches Vorziehen dieser Anlage gegenüber derjenigen von Kaiseraugst, wie dies in der Öffentlichkeit verschiedentlich angeregt worden war, dürfte auf erhebliche Widerstände stossen, hat doch der bernische Grosse Rat seine Regierung mit einer von der SVP eingereichten Motion beauftragt, mit allen gesetzlichen Mitteln einen politisch begründeten Abtausch zu bekämpfen [21].
Die abstrakteren und daher in der Bevölkerung weniger grosses Interesse erzeugenden Themen der Revision des Atomgesetzes und der Neuregelung der Haftpflichtversicherung für Betreiber von Atomanlagen konnten noch nicht abschliessend behandelt werden. Zwar ist das Haftpflichtgesetz nun ebenfalls in der Volkskammer durchberaten und weitgehend im Sinne des bundesrätlichen Entwurfs verabschiedet worden; da aber in einigen eher untergeordneten Punkten (v.a. bezüglich der Vollzugsverordnung) Differenzen mit dem Ständerat entstanden, die einstweilen nicht bereinigt werden konnten, darf die Revision noch nicht als beendet klassiert werden [22].
Die geplante Neufassung des geltenden Atomgesetzes ist vorläufig gescheitert. In einem Vernehmlassungsverfahren äusserten sich einzig die Sozialdemokraten einigermassen positiv zu der von einer Expertenkommission vorgeschlagenen Lösung. Fast alle übrigen Befragten, ob es sich um Gegner oder Befürworter der Kernenergieerzeugung handelt, lehnten dagegen den Entwurf grundsätzlich ab. Dies bewog den Bundesrat, das Projekt zurückzuziehen und dem Parlament die Verlängerung des 1979 in Kraft gesetzten und auf Ende 1983 auslaufenden Bundesbeschlusses zum Atomgesetz um weitere sieben Jahre zu beantragen. Diese Frist sollte es der Verwaltung erlauben, einen akzeptableren Vorschlag für die Totalrevision des aus dem Jahre 1959 datierenden Gesetzes zu erarbeiten. Ein leichtes Unterfangen wird dies allerdings nicht sein, erwies es sich doch bisher als überaus heikel, auf dem Gebiet der Kernenergie tragfähige politische Kompromisse zu finden [23].
Die sichere und dauerhafte Lagerung radioaktiver Abfälle stellt nach wie vor ein weder politisch noch technologisch gelöstes Hauptproblem der Atomenergie dar. Der Bundesrat hielt — mit Unterstützung einer verwaltungsinternen Expertengruppe — an der Frist, bis zu welcher die Energieproduzenten das Projekt für ein dauerhafte Sicherheit gewährendes Endlager vorlegen müssen, fest. Er schränkte allerdings ein, dass der bis Ende 1985 zu präsentierende Standort nicht unbedingt mit dem definitiv in Frage kommenden identisch sein müsse. Die mit den Forschungsarbeiten beauftragte Gesellschaft NAGRA gab zu bedenken, dass bis zu diesem Zeitpunkt nicht alle erforderlichen Abklärungen mit der notwendigen Sicherheit durchgeführt werden können. Zu erwarten sei deshalb kaum ein konkretes ausführungsreifes Projekt, sondern eher ein Bericht über die generelle Machbarkeit und den ungefähren Standort eines Endlagers in der Schweiz [24]. Eine wesentliche Ursache für den Rückstand aufdie ursprüngliche Zeittabelle bildet das Bewilligungsverfahren für die Sondierbohrungen, mit welchen die Eignung des kristallinen Sockels unter dem Mittelland für die Beherbergung stark radioaktiver Abfälle ermittelt werden soll. Immerhin war im Berichtsjahr ein klarer Fortschritt für die NAGRA erkennbar. Nachdem der Bundesrat elf der zwölf vorgesehenen Bohrungen genehmigt hatte (das Gesuch für die zwölfte war später eingereicht worden), erteilten im Laufe des Jahres die sieben im Aargau gelegenen Standortgemeinden sowie das zürcherische Weiach auch die benötigten kommunalen Bewilligungen, worauf die Sondierungen vorerst in Böttstein (AG) aufgenommen werden konnten [25].
Grösserem Widerstand sieht sich die NAGRA hingegen im Kanton Schaffhausen ausgesetzt, wo mittels einer bereits eingereichten Volksinitiative die Regierung zum Kampf gegen Atommüllager (inklusive vorbereitenden Handlungen) verpflichtet werden soll [26]. Die Initianten wollen damit nicht nur die in Siblingen projektierte Tiefenbohrung verhindern, sondern ebenfalls die Untersuchung, ob sich die geologischen Verhältnisse im Gebiet des Randen für die Endlagerung schwach und mittelstark radioaktiver Abfälle eignen. Dieses Vorhaben gehört zu einer Gruppe von zwanzig vornehmlich im Jura und den Alpen situierten Bohrprojekten, welche die NAGRA im Frühjahr der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Auch in dieser Angelegenheit wird sich die NAGRA auf Verzögerungen gefasst machen müssen, reagierten doch mehrere betroffene Gemeinden und Kantone mit heftigen Protesten. Die Opposition richtet sich meist nur vordergründig gegen die zu erwartenden Lärmbelästigungen; Hauptmotiv ist vielmehr die Angst, bei positiven Untersuchungsergebnissen als Standortgemeinde für ein Atommüllager ausgewählt zu werden [27]. In engem Zusammenhang mit den Sonderbohrungen steht die Errichtung eines Felslabors im Grimselgebiet (BE). Hier will die NAGRA an gut zugänglicher Stelle die Stabilität und die Undurchlässigkeit des Kristallingesteins im Hinblick auf dessen Eignung zur Einlagerung stark radioaktiver Abfälle analysieren. Im geplanten Labor, das sich in einem Felsstollen befindet, darf gemäss der vom Bundesrat im Berichtsjahr erteilten Bewilligung kein Atommüll gelagert werden, hingegen sind Versuche mit kurzlebigen, schwach radioaktiven Substanzen erlaubt [28].
Wie umstritten das Prinzip der Nutzung der Kernenergie ist, zeigt sich auch daran, dass sich praktisch kein mit diesem Zweck in Verbindung stehendes Vorhaben realisieren lässt, ohne eine breite politische Debatte heraufzubeschwören. Neuestes Beispiel dafür ist das Gesuch um die Bewilligung für eine der Versorgungssicherheit dienende Lagerstätte für angereichertes Uran auf dem Gelände des Eidg. Instituts für Reaktorforschung in Würenlingen (AG). Die gemäss dem Bundesbeschluss zum Atomgesetz vorgesehene Konsultation der Kantone wird in Zürich (und eventuell in weiteren Kantonen) eine Volksabstimmung über die Wünschbarkeit dieses Depots zur Folge haben [29]. Im Kanton Solothurn hingegen werden derartige Stellungnahmen auch in Zukunft von der Regierung und nicht vom Stimmbürger abgegeben werden. Dies beschloss der Souverän mit der Ablehnung einer von Atomkraftwerkgegnern eingereichten Volksinitiative. In den Kantonen Luzern und Jura stehen die Chancen für entsprechende Vorstösse günstiger. So stimmte in Luzern der Kantonsrat in erster Lesung einem Gegenvorschlag zu, der die Stellungnahme der Exekutive dem fakultativen Referendum unterstellen will; im Jura beantragt die vorberatende Parlamentskommission gar eine obligatorische Volksbefragung [30].
 
[18] BBl, 1982, I, S. 781 ff. und 872 ; Presse vom 26.3.82 sowie SGT, 97, 28.4.82. Vgl. ebenfalls SPJ, 1981, S. 98 ff. Allgemein zur Atomenergie siehe im weitem Schweiz. Naturforschende Gesellschaft (Hrsg.), Die Sicherheit der nuklearen Energieerzeugung, Bern 1982. Die Verbesserung der Notfallplanung ist eines der Hauptziele des «Abkommens mit der BRD über die gegenseitige Unterrichtung beim Bau und Betrieb grenznaher kerntechnischer Einrichtungen », dessen Ratifizierung die Exekutive beantragt (BBl, 1982, III, S. 813 ff, ; vgl. ebenfalls oben, Teilt 2, Relations bilatérales).
[19] BaZ, 86, 14.4.82; 191, 18.8.82; 250, 26.10.82; TA, 265, 13.11.82. Zur Frage der Kühltürme vgl. auch SPJ, 1981, S. 98; BaZ, 13, 16.1.82; Eidg. Institut für Reaktorforschung, Gemischte Kühlsysteme für Kernkraftwerke, Bern 1982 und Eidg. Abwärmekommission, Schlussbericht, Bern 1981. Verzichtgespräche: SPJ, 1981, S. 98; BBl, 1982, I, S. 808 f. und SZ, 188, 14.8.82.
[20] LNN, 71, 26.3.82. Zur Initiative siehe SPJ, 1981, S. 99.
[21] BBl, 1982, I, S. 833; Amtl. Bull. NR, 1982, S. 553; SPJ, 1981, S. 99; Bund, 203, 1.9.82. Der von der SP geforderte Kampf für einen vollständigen Verzicht auf Graben drang hingegen nicht durch (Bund, 32, 9.2.82).
[22] Amtl. Bull. NR, 1982, S. 1306 ff. und S.1605; Amtl. Bull. StR, 1982, S. 565 ff.; siehe ebenfalls SPJ, 1979, S.105 und 1980, S. 93.
[23] BBl, 1982, III, S. 21 ff.; NZZ, 214, 15.9.82. In der vorberatenden Nationalratskommission erwuchs den Plänen des Bundesrates keine Opposition (NZZ, 262, 10.11.82). Zum gescheiterten Entwurf und der Vernehmlassung vgl. SPJ, 1981, S.100; wf, Dok., 1-2, 11.1.82; SP-Information, 112, 15.1.82; NZZ, 19, 25.1.82.
[24] Bundesrat: Amtl. Bull. NR, 1982, S. 953 ff., 1027 und 1846. Expertengruppe (AGNEB): NZZ, 126, 4.6.82. NAGRA: TA, 26, 2.2.82. Vgl. auch BaZ, 17, 21.1.82; 24 Heures, 30, 6.2.82; TA, 143, 24.6.82 sowie SPJ, 1981, S. 100.
[25] SZ, 48, 27.2.82; BaZ, 157, 9.7.82; 188, 14.8.82; TA, 190, 18.8.82; AT, 262, 9.11.82.
[26] TA, 186, 13.8.82; 300, 24.12.82.
[27] Presse vom 30.3.82; NZZ 81, 7.4.82; BaZ, 92, 21.4.82; LNN, 121, 27.5.82. Einige Bohrprojekte liegen in den nichtdeutschsprachigen Landesteilen, welche bisher von Auseinandersetzungen über konkrete Vorhaben der Kernenergienutzung weitgehend verschont gebleiben sind (TLM, 89, 30.3.82).
[28] BBl, 1982, I, S. 205 ff.; Bund, 30, 6.2.82; 81, 7.4.82; 280, 30.11.82; 282, 2.12.82; TW, 82, 8.4.82. Siehe ebenfalls SPJ, 1981, S. 101.
[29] BBl, 1982, II, S. 722 ff.; Presse vom 21.7.82; TA, 222, 24.9.82; NZZ, 243, 19.10.82.
[30] SO: SZ, 14, 19.1.82; 16, 21.1.82; 129, 17.6.82 (25 032 Ja: 30 535 Nein). LU: LNN, 4, 7.1.82; 203, 2.9.82; 278, 30.11.82. JU: JdG, 285, 7.12.82. Vgl. auch unten Teil II, 1i und SPJ, 1980, S. 95.