Année politique Suisse 1983 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport
 
Gesundheitspolitik
Die Gesundheitspolitik stand hauptsächlich im Zeichen der ununterbrochen stark steigenden Ausgaben für die Kranken. Im Vergleich zur allgemeinen Teuerung von 5,5% betrug ihr Zuwachs 1982 über 11,4%. Mit rund 8% des Bruttosozialprodukts (d.h. über 15 Mia Fr.) und einer Verdoppelung dieses Anteils innert 30 Jahren bewegen sich die gesamten Gesundheitskosten in der Schweiz etwa im Bereich der übrigen westlichen Industriestaaten. Mussten die Versicherten 1971 im Durchschnitt rund 262 Fr. für die Krankenpflege aufwenden, so waren es 1981 schon 715 Fr. Infolge dieser explosiven Kostenentwicklung sowie des seit 1975 erfolgten, real rund 50% betragenden Abbaus der Bundessubventionen an die Krankenkassen waren diese gezwungen, ihre Prämien auf Anfang 1984 ein weiteres Mal um 10-15, ja selbst 20 und mehr Prozent anzuheben. Damit werden die jährlichen Prämienzahlungen bald einmal einen vollen Monatslohn einer vierköpfigen Familie mit durchschnittlichem Einkommen beanspruchen. Wird das hervorragend ausgebaute Gesundheitswesen von der Bevölkerung auch gewünscht und dafür noch immer weniger aufgewendet als z.B. für die Ferien, so muss doch zu denken geben, dass der beschriebene Kostendruck ohne Zweifel auch in Zukunft anhalten wird. An der immer weiter zunehmenden Zahl alter Menschen sowie den hohen Personalkosten in den Spitälern lässt sich wenig ändern, und auch die Zahl der Ärzte steigt unverändert stark an. Dazu kommen erhebliche Zweifel, ob mit den zunehmenden Ausgaben eine entsprechende Verbesserung der Effektivität der Medizin erreicht wird [1].
Im Juli, noch rechtzeitig zu den laufenden Kommissionsberatungen um ein neues Krankenversicherungsgesetz, veröffentlichte die 1982 vom EDI einberufene nationale Sparkonferenz zur Eindämmung der Kostenexplosion im Gesundheitswesen ihre ersten, d.h. kurz- und mittelfristigen, Vorschläge. Weitgehend auf blosse Symptombekämpfung und eine stärkere Eigenbelastung der Versicherten ausgerichtet, dürften diese jedoch nur wenig geeignet sein, das Problem zu lösen. Vielmehr wäre eine Durchlöcherung des Versicherungsschutzes der sozial schwachen sowie der gesundheitlich schwer geschädigten Patienten zu befürchten. Neben einer Fixierung der maximal zulässigen jährlichen Wachstumsrate der Krankenpflegekosten je Versicherten (Globalsteuerung) wurden insbesondere eine stärkere Kostenbeteiligung der Patienten (inklusive Spitalkosten) sowie erweiterte Bundeskompetenzen bezüglich der Tarifgestaltung vorgeschlagen. Die Anregung zur Einführung eines der Autohaftpflichtversicherung entlehnten Bonus-Malus-Systems, das gerade den Leuten mit der schwächsten Gesundheit die höchsten Prämien aufbürden würde, fand in der Öffentlichkeit keine Zustimmung. Die Verwirklichung von Massnahmen, die zu einer immer noch stärkeren Belastung der Arbeitnehmerhaushalte unter Beibehaltung der individuellen Krankenkassenprämien (Pro-Kopf-Prämien) führen würden, könnte die Linke und die Krankenkassen zur Lancierung einer neuen Volksinitiative veranlassen [2]. Das Konkordat der Krankenkassen forderte seinerseits den Abbau überflüssiger Akutbetten, eine vermehrte Kostenbeteiligung der Spitalträger, einen einheitlichen eidgenössischen Tarif für die ambulante ärzliche Behandlung, ein grösseres Engagement in der Prävention sowie, ganz im Sinne der Sparkonferenz, eine Erhöhung des Selbstbehalts der Versicherten. Als geeignete Mittel zur Eindämmung der Kostenexplosion wurden ferner verschiedentlich die Förderung der spitalexternen Krankenpflege (Pflege zu Hause), eine bessere Koordination der Spitalplanung, eine Zügelung der medizinischen Spitzentechnik und eine transparentere Abfassung der Arzt- und Spitalrechnungen genannt [3]. Die Arzttarife wurden 1983 einzig im Kanton Schwyz voll der Teuerung angepasst, während sie in zehn Kantonen unverändert blieben. In allen übrigen Fällen erfolgte ein teilweiser Teuerungsausgleich oder konnten noch keine neuen Übereinkünfte getroffen werden. Als Beispiel mangelnder Zusammenarbeit darf die geplante Errichtung von gleich zwei neuen Paraplegikerzentren gewertet werden [4].
Die schwerwiegendsten Gesundheitsprobleme stellen heute die Herz-, Kreislauf- und Krebserkrankungen sowie die Unfälle dar. 1982 gingen 30,8% (1981: 30,5%) aller Todesfälle auf Herzkrankheiten und 25,4% (1981: 25%) auf Krebs zurück. Als Ursachen für diese «Zivilisationskrankheiten» sind insbesondere eine falsche Ernährung, Bewegungsmangel, der Missbrauch von Suchtmitteln sowie die Gefahren im Zusammenhang mit der Berufsausübung anzuführen. Die Behandlung der genannten Krankheiten, an denen immer mehr Leute leiden, ist oft recht teuer und längst nicht immer erfolgreich. Wie der Einsatz von Fluor gegen die Zahnkaries zeigt, kann demgegenüber mit einfachen Massnahmen die Volksgesundheit merklich verbessert und damit auch viel Geld gespart werden. In diesem Sinne beschloss denn auch die Schweizerische Sanitätsdirektorenkonferenz, den Fluorgehalt im Kochsalz auf Anfang Mai 1983 deutlich heraufzusetzen, um die Kariesfälle noch wesentlich zu vermindern. Dass in der Schweiz weniger als 2% der gesamten Gesundheitsausgaben für die Krankheitsvorbeugung aufgewendet werden, deutet allerdings darauf hin, dass in diesem Bereich noch viel zu tun wäre [5].
Der Versuch zur Schaffung eines Präventivgesetzes, den der Bundesrat aufgrund vieler parlamentarischer Vorstösse unternommen und prioritär in die Legislaturziele aufgenommen hatte, scheiterte aber bereits in der Vernehmlassung. Obwohl sich der Gesetzesvorschlag im wesentlichen auf Aufldärungsmassnahmen beschränkte und der Bund vorwiegend bloss administrative und koordinierende Aufgaben zu erfüllen gehabt hätte, beharrten die Kantone mehrheitlich auf ihrer Zuständigkeit. CVP und FDP sowie die Arbeitgeber betonten die Eigenverantwortlichkeit der Bürger. Die Verbindung der Schweizer Ärzte bezweifelte, dass sich die Bevölkerung belehren lasse. Befürwortend äusserten sich u.a. der Schweizerische Gewerkschaftsbund, die SP, der Landesring, die Evangelische Volkspartei, die Krankenkassen und zahlreiche im Gesundheitswesen engagierte Organisationen. Gegen eine zweckgebundene Erhöhung der Alkohol- und Tabaksteuer zur Finanzierung der Prävention wurden von allen Seiten Bedenken geäussert. Für eine Erhöhung ohne Zweckbindung traten die CVP und FDP ein. Die FDP des Kantons Zürich wünschte strengere Werbevorschriften für Suchtmittel, während die zürcherische Kantonsregierung für ein totales Verbot der Tabakreklame eintrat [6]. Auf Bundesebene stand ferner im Zusammenhang mit der Volksinitiative «Recht auf Leben» die Frage der Sterbehilfe (und der Organtransplantation) zur Diskussion. Weder die Initiative noch der Gegenvorschlag des Bundesrates werden aber an der geltenden Zulässigkeit der passiven und dem Verbot der aktiven Euthanasie etwas ändern. Kaum zufrieden damit dürfte die 1982 gegründete «Vereinigung für humanes Sterben — Exit» sein, die den schwer leidenden Patienten das Recht verschaffen möchte, auf Verlangen auch aktive Sterbehilfe zu erhalten [7].
Im Kanton Solothurn wurde ein neues Gesundheitsgesetz vom Souverän verworfen. Die Ärzte wehrten sich mit Erfolg, wie schon im Vorjahr in Zürich, gegen eine Einschränkung ihres Rechts, Medikamente an die Patienten abgeben zu dürfen. Obwohl von der vorgesehenen Regelung nur die drei Städte Olten, Solothurn und Grenchen betroffen gewesen wären, setzte die Ärzte-Gesellschaft dennoch rund 200 000 Fr. für eine bis dahin in dem betreffenden Kanton noch nie erlebte Inseratenkampagne ein. Das vom Kanton Tessin vorgelegte und in die Vernehmlassung geschickte Gesundheitsgesetz darf als «Pioniertat» bewertet werden. In Zukunft soll in diesem Landesteil, der von den Zivilisationskrankheiten eher mehr betroffen ist als die übrige Schweiz, die Krankheitsvorbeugung und die Erziehung der Bevölkerung zur Gesundheit eine hervorragende Rolle spielen [8]. Dem Umbruch in der psychiatrischen Versorgungsstruktur in der Schweiz und besonders dem Modell des Kantons Waadt folgend, verabschiedete das Tessiner Parlament zudem ein modernes sozialpsychiatrisches Gesetz. Wie in einzelnen andern Kantonen wurde damit der Schritt von der bewahrenden, einschliessenden hin zur offenen Psychiatrie mit ambulanter Behandlung, Tages- und Nachtkliniken, geschützten Werkstätten und Wohnungen sowie Psychiatrieabteilungen in den Bezirksspitälern getan [9]. Dass auch die Vorbeugung vor seelischen Erkrankungen nicht vernachlässigt werden darf; zeigt die wegen Vereinsamung und des Zerfalls der familiären Strukturen zunehmende Zahl von Depressionen und Selbsttötungen. Im Zusammenhang mit der umstrittenen Wahl eines Chefarztes sowie der Vermittlung von Krankenhauspersonal auf eine im Mittelmeer kreuzende Luxusjacht eines milliardenschweren Waffenhändlers mussten am Tiefenauspital in Bern zwei Strafuntersuchungen eingeleitet werden [10].
 
[1] Allgemein zur Kostenexplosion, deren Ursachen und Folgen: 24 Heures, 11.1.83; 24.1.83; SAZ, 2, 13.1.83; Wochen-Zeitung, 2, 14.1.83; wf, Dok., 19, 9.5.83; 43, 24.10.83; BaZ, 15.9.83; SP-Information, 149, 12.10.83; Suisse, 11.11.83; 13.11.83; Vat., 30.12.83; vgl. SPJ, 1982, S. 125. Vgl. femerG. Pedroni / P. Zweifel, Gesundheit hat (k)einen Preis. Die Gesundheitsausgaben des Durchschnittsschweizers, Basel 1983; A. Morabia, Médecine et socialisme. Politiques sanitaires en Suisse et dans les sociétés capitalistes avancées, Lausanne 1983. Ursachen der Kostenexplosion : Vat., 19.3.83 ; NZZ, 18.10.83 ; zur Alterung der Bevölkerung vgl. oben, Teil I, 7 a (Mouvements démographiques). Zur Entwicklung der Zahl der Medizinstudenten vgl. SPJ, 1982, S. 147 sowie unten, Teil I, 8 a (Hochschulen). Kosten im internationalen Vergleich: AT, 22.6.83; Suisse, 17.11.83. Der 23. Internationale Krankenhauskongress in Lausanne behandelte das Thema «Plus d'économies, plus d'efficacité et plus d'humanité» (Presse vom 22.6., 23.6. und 28.6.83).
[2] Vgl. SPJ, 1982, S. 125 f.; BaZ,14.7.83 ; Presse vom 17.8.83 ; wf, Dok., 34, 22.8.83; NZZ, 25.8.83 ; SGB, 30, 13.10.83; Amtl. Bull. NR, 1983, S. 1518 (Interpellation Crevoisier, psa, BE). Eine Globalsteuerung im Spitalbereich kennt der Kanton BE seit 1982 (Bund, 29.4.83) und der Kanton VD seit drei Jahren (vgl. Presse vom 17.8.83).
[3] Die Vorschläge stammen von den Krankenkassen (BaZ, 2.7.83), der Vereinigung Schweiz. Krankenhäuser (Suisse, 9.9.83; TA, 9.9.83) und vom Schweiz. Konsumentenbund (TA, 26.7.83). Vgl. ferner auch SGT, 5.12.83 (Studie des Instituts für angewandte Wirtschaftsforschung an der Universität Basel über die « Health Maintenance Organizations» in Amerika). Zur spitalextemen Krankenpflege vgl. besonders TA, 23.3.83; 24 Heures, 29.10.83; A. Hunziker, Gesundheitspolitik und ambulante Krankenpflege, Innsbruck 1983.
[4] Arzttarife: BaZ, 10.1.83 ; JdG, 10.1.83. Paraplegikerzentren: TA, 12.1.83 ; 23.6.83 ; 1.7.83 ; 11.7.83 ; Ww, 19, 11.5.83; 24 Heures, 1.7.83; Amtl. Bull. NR, 1983, S. 1519 f. (Interpellation Landolf, cvp, ZH). Die Schweiz. Paraplegikerstiftung möchte neben den bestehenden Zentren von Basel und Genf ein weiteres in Risch am Zugersee errichten, die Schweiz. Sanitätsdirektorenkonferenz dagegen an der Orthopädischen Universitätsklinik Balgrist in Zürich. Im ganzen Land gibt es über 5000 Querschnittgelähmte.
[5] Zivilisationskrankheiten: NZZ, 17.1.83; 10.11.83; TA, 7.3.83; Vr, 3.5.83; TLM, 20.6.83. Vgl. ferner auch unten, Anm. 6 und Suchtmittel. Fluor: Presse vom 16.1. und 17.2.83. Zur rapiden Abnahme der Anzahl Kinder mit Karies in OW und in der Stadt Zürich vgl. Vat., 9.1 1.83 bzw. NZZ, 5.10.83.
[6] Vgl. SPJ, 1982, S. 126; TA, 24.8.83. Zur Vernehmlassung vgl. ferner SGB, 3, 27.1.83; TLM, 1.2.83; SAZ, 8, 24.2.83; Gewerkschaftliche Rundschau, 75/1983, S. 44 ff.
[7] BBl, 1983, II, S. 1 ff. (Botschaft); JdG, 15.1.83 (Direktiven der Schweiz. Akademie der medizinischen Wissenschaften); TA, 3.2.83; 1.3.83; NZZ, 3.2.83; Ww, 13, 30.3.83; CdT, 31.3.83; vgl. oben, Teil I, 1 b (Grundrechte) und unten, Teil I, 7 d (Schwangerschaftsabbruch). Vgl. ferner auch SPJ, 1979, S. 141 und TLM, 22.1.83 (Standesinitiative ZH von 1977). Zur Rechtslage vgl. besonders A. Pedrazzini, L'euthanasie: de l'avortement eugénique à la prolongation artificielle de la vie, Lausanne 1983.
[8] Solothurn: SZ, 22.1.83; 24.1.83; 11.11.83; 8.12.83; NZZ, 29.11.83; Bund, 2.12.83; 5.12.83 sowie unten, Teil II, 5g. Tessin: CdT, 25.2.83; 16.12.83; 19.12.83; NZZ, 25.2.83; TA, 25.2.83; JdG, 2.3.83; Tout Va Bien, 185, 4.3.83. Zürich: vgl. SPJ, 1982, S. 126.
[9] Psychiatriekonzepte: AG (AT, 10.12.83), BE (TW, 2.3.83; Bund, 20.5.83), BL (BaZ, 18.4.83), BS (BaZ, 9.6.83 ; 8.8.83: Konzept lässt auf sich warten), FR (Suisse, 28.1.83; TLM, 28.1.83), GE (JdG, 14.4.83 ; 10.5.83), JU (TLM, 18.5.83 ; 17.6.83), LU (LNN, 6.9.83: Umdenken hat noch nicht stattgefunden), SZ (Vat., 11.11.83), TG (TA, 14.9.83), UR (LNN, 2.11.83), Stadt Zug (Vat., 8.4.83). Gesetz TI: CdT, 26.1.83; 4.2.83; NZZ, 27.1.83.
[10] Seelische Erkrankungen: NZZ, 30.5.83; TLM, 20.6.83; SZ, 1.10.83. 1982 waren 1574 Selbstmorde zu verzeichnen. Vgl. ferner Amtl. Bull. NR, 1983, S. 1518 f. (Interpellation Crevoisier, psa, BE). Tiefenau: Bund, 1.11.83; 4.11.83; 22.11.83; 1.12.83; 7.12.83; 14.12.83; 15.12.83; 30.12.83; TA, 21.11.83; 7.12.83; TW, 8.12.83; 24 Heures, 14.12.83; Ww, 50, 15.12.83.