Année politique Suisse 1983 : Politique sociale / Assurances sociales
System der sozialen Sicherheit
Mit dem Inkrafttreten der neuen Bundesgesetze über die Unfall- und die Arbeitslosenversicherung auf Anfang 1984 sowie der Einführung des Obligatoriums für die berufliche Vorsorge auf den 1. Januar 1985 gilt in massgebenden Kreisen das System der sozialen Sicherheit
der Schweiz in seinem Gesamtaufbau als weitgehend abgeschlossen. Leistungsausweitungen stehen noch bezüglich der Kranken- und Mutterschaftsversicherung zur Debatte. Die laufenden bzw. beabsichtigten Revisionen der AHV, der IV und der Ergänzungsleistungen (EL) sollen dagegen vor allem der Lückenfüllung dienen. Auf Anfang 1984 wurden ferner die AHV- und IV-Renten, die EL sowie die Kinderzulagen in der Landwirtschaft zumindest an die gestiegenen Lebenskosten angepasst. Diese zahlreichen Verbesserungen im Sozialversicherungsbereich können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der seit dem zweiten Weltkrieg rasch vorangetriebene Leistungsausbau nun doch an gewisse Grenzen der Finanzierbarkeit stösst. Betrugen die gesamten Aufwendungen (Einnahmen) für die Sozialversicherungen 1948, im Jahr der Einführung der AHV, erst rund 1,8 Mia Fr. oder 9,4% des Bruttosozialprodukts, so waren es 1980 schätzungsweise 33,7 Mia oder 19%. Darf sich das Leistungsniveau der schweizerischen Sozialversicherungen auch im westeuropäischen Rahmen durchaus sehen lassen, so fielen doch die betreffenden Pro-Kopf-Aufwendungen bis 1977 vergleichsweise gering aus. Zudem änderte sich die ursprüngliche Aufbruchsstimmung bereits Mitte der 70er Jahre infolge des Rezessionseinbruchs, der explodierenden Gesundheitskosten sowie der prekären Finanzlage der Bundeskasse schlagartig. Während die Arbeitgeber und die bürgerlichen Parteien zunehmend die Grenzen des Sozialstaates beschworen, verlangte die Linke einen weiteren Leistungsausbau bzw. gezielte Verbesserungen zugunsten besonders benachteiligter Versichertengruppen. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) machte dabei insbesondere geltend, dass die Sozialversicherungen (d.h. vor allem die Krankenkassen) mit rund 5 Mia Fr. das grösste Opfer im Rahmen der seit 1975 durchgeführten Sparübungen des Bundes erbracht hätten
[1].
Die Uneinigkeit der verschiedenen politischen Lager über die zu verfolgenden Ziele in der Sozialpolitik kam 1983 in erster Linie in den unterschiedlichen Reaktionen zum Ausdruck, die der im November des Vorjahres vom Bundesamt für Sozialversicherung (BAS) veröffentlichte
Bericht über die soziale Sicherheit in der Schweiz hervorrief. Das bürgerliche Lager war ziemlich einhellig der Meinung, das vorgelegte Werk liefere keine fundierten Grundlagen für künftige sozialpolitische Entscheide und erfülle damit die vom Parlament vorgegebene Aufgabenstellung nicht. Widersprochen wurde hauptsächlich der Feststellung der Berichterstatter, dass die Leistungen der Sozialwerke im Rahmen einer ausgeglichenen wirtschaftlichen Entwicklung auch in Zukunft gesichert seien. Die Parlamentsfraktion des Landesrings und der Evangelischen Volkspartei liess, da sie dem verwaltungsintern erstellten Werk misstraute, von Prof. Silvio Borner (Universität Basel) ein eigenes Gutachten ausarbeiten. Die angeforderte Expertise kam zum Schluss, dass das langfristige Gleichgewicht der AHV besonders wegen der demographischen Entwicklung keineswegs gesichert sei. Desgleichen stelle auch die Anhäufung von Fondsvermögen im Rahmen der beruflichen Vorsorge keine Garantie für die Erfüllung der Leistungsziele der Alterssicherung dar. 'Die auftraggebende Fraktion verlangte daraufhin vom Bundesrat, er solle eine unabhängige Untersuchung über die aufgeworfenen Fragen vorlegen. I)as linke Lager wie auch das BAS warfen dagegen ihren Opponenten Angstmacherei vor und verwiesen auf die Massnahmen der letzten AHV-Revision, die der Versicherung auch in den nächsten 10-20 Jahren eine gute Ertragslage sichern würden (Einnahmenüberschuss 1982: 562,7 Mio Fr.; 1983: 890,3 Mio Fr.). Eine allenfalls nach der Jahrtausendwende nötige Anhebung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge um je 0,7% halten die Gewerkschaften für tragbar. Eine Umwandlung der sozialen Vorsorge in eine Armenfürsorge wollen sie auf gar keinen Fall zulassen. Die gleiche Haltung nahm auch alt Bundesrat Tschudi ein, der eine grundsätzliche Kritik am Sozialstaat für unberechtigt hält
[2].
1983 erschienen zwei unabhängig voneinander verfasste Bücher über die grossen
wirtschaftlichen Ungleichheiten im Rentenalter in der Schweiz. Beide Autoren stellten in der drei Jahre älteren Studie von W. Schweizer methodische Fehler fest. Die betreffende Arbeit soll demnach die Lage der Rentner besser dargestellt haben, als sie 1976 in Wirklichkeit war. Die beiden neuen Werke, ebenfalls auf den Daten von 1976 beruhend, kamen u.a. zu dem Ergebnis, dass die 10% ärmsten Rentner über ein Jahreseinkomrnen von durchschnittlich je rund 8000 Fr. oder insgesamt 3% aller Renteneinkommen verfügten, die reichsten 10% dagegen von je etwa 100 000 Fr. oder insgesamt 34%. In Kenntnis all der vorgängig angeführten Berichte und Untersuchungen über die Lage der Sozialversicherungen bzw. der Rentner reichte Ständerat Miville (sp, BS) im September 1983 ein Postulat ein, worin er den Bundesrat ersuchte, bezüglich der Zukunft der Sozialwerke sowie der Notwendigkeit von Rentenaufbesserungen auch die Erschliessung von zusätzlichen Einnahmen in seine Überlegungen miteinzubeziehen
[3].
[1] Bundesamt für Sozialversicherung, Bericht über versicherungstechnische, finanzielle und volkswirtschaftliche Aspekte der sozialen Sicherheit in der Schweiz, Bern 1982; vgl. dazu Presse vom 5. und 8.1.83 sowie SPJ, 1982, S. 128 f. Vgl. ferner L'Impact suisse, Nr. 182, Aug. 1983; Suisse, 13.9.83; 29.12.83; «Die Soziale Sicherung der Schweiz im internationalen Vergleich», in wf, Dokumentation zur Wirtschaftskunde, Nr. 73, Okt. 1983. Zur Klimaänderung in der Sozialpolitik und zur Haltung des SGB vgl. Gewerkschaftliche Rundschau, 75/1983, S. 8 ff. und 277 if. sowie oben, Teil I, 4d (Sparmassnahmen). Zum System der sozialen Sicherheit in der Schweiz vgl. ferner BaZ, 8.1.83; 13.1.83; 15.1.83; M. Baranzini, Lo stato sociale: Cantone Ticino e Svizzera, Lugano 1983.
[2] Bericht und Reaktionen darauf: vgl. oben, Anm. 1; ferner SAZ, 2, 13.1.83; 42, 20.10.83; wf, Dok., 5, 31.1.83; 19, 9.5.83; TW, 3.3.83; SGB, 9, 17.3.83; 20, 23.6.83. Tschudi: TW, 12.11.83; NZZ, 14.11.83. AHV-Rechnung: Die Volkswirtschaft, 56/1983, S. 16* sowie Mitteilung des BAS.
[3] Bücher: P. Gilliand, Rentiers A VS: Une autre image de la Suisse. Inégalités économiques et sociales, Lausanne 1983 (vgl. SPJ, 1982, S. 129); A. Lüthi, Die wirtschaftliche Ungleichheit im Rentenalter in der Schweiz, Freiburg (Schweiz) 1983; vgl. Lib., 14.2.83; TLM, 28.2.83; TA, 26.4.83. Zu W. Schweizer vgl. SPJ, 1979, 143. Zur Lage der alten Menschen vgl. ferner auch R. Zimmermann, Integration in der offenen und geschlossenen Altershilfe, Bern 1982; Vieillesses, St-Saphorin 1983 (Untersuchung der Universität Genf); «Sicherheit auch im Alter», in Der Staatsbürger, Nr.1, Febr. 1983. Postulat Miville: Verhandl. B.vers:, 1983, IV, S. 90.
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