Année politique Suisse 1984 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires
Regierung
Im selben Jahr, in dem die für die Bildung der Regierung des Bundes massgebliche «
Zauberformel» ihr 25jähriges Bestehen feiern konnte, hatte sie zugleich auch ihre bisher ernsteste Krise zu überstehen. Im Anschluss an die Nichtwahl der offiziellen Kandidatin der
SP, Lilian Uchtenhagen, am 7. Dezember 1983, sprach sich der
Parteivorstand mehrheitlich für den Regierungsaustritt aus und berief zu einem Entscheid darüber einen Sonderparteitag auf den 11./12. Februar nach Bern ein. Da sich im Gegensatz zu früheren Jahren diesmal auch die Parteileitung und insbesondere deren Präsident Hubacher für eine Beendigung der Konkordanzpolitik stark machten, schien ein Bruch mit der Tradition in greifbare Nähe gerückt. Für die Austrittswilligen war die Nichtberücksichtigung ihrer Bundesratskandidatin allerdings nicht das Hauptargument, sondern stellte vielmehr den Tropfen dar, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Generell stellten sie fest, dass sich in den letzten Jahren die Kompromissbereitschaft der in der Regierung vertretenen bürgerlichen Parteien radikal verschlechtert habe. Ein wesentlicher Grund dafür sei, so wurde in einer politologisch orientierten Analyse konstatiert, das gegenüber vergangenen Perioden merklich abgeschwächte Wachstum der Wirtschaft im allgemeinen und der Staatsausgaben im besonderen. Während in den Hochkonjunkturphasen der sechziger und frühen siebziger Jahre allseits befriedigende Kompromisse im Verteilungskampf hätten geschlossen werden können, komme die SP als Minderheitspartner in der heutigen Situation, in der es oft sogar um die Verteilung der Opfer gehe, notgedrungen zu kurz
[1].
Mit einem Austritt aus der Landesregierung und einer konsequenten Oppositionspolitik könnte die SP wieder zu einem glaubhaften Sammelpunkt für Veränderungswillige werden. Für einzelne prominente Austrittsbeftirworter handelte es sich bei der Frage um den Austritt denn auch nicht in erster Linie darum, wie die SP ihre politischen Positionen effektvoller durchsetzen könne, sondern darum, ob diese Partei überhaupt Überlebenschancen habe
[2]. Neben diesem doch weitgehend elektoralistischen Gesichtspunkt trat die Frage nach dem konkreten Verhalten der SP im Falle eines Rückzugs aus der Landesregierung — die Fortführung der Beteiligung auf Kantons- und Gemeindeebene stand nie zur Diskussion — in den Hintergrund. Zwar wurde ein vermehrter Gebrauch von Referendum und Volksinitiative zur Bekämpfung bürgerlicher Politik resp. Durchsetzung eigener Konzepte angekündigt. Da diese Wege, wie auch das Eingehen von Bündnissen mit nicht an der Regierung beteiligten Parteien und Gruppen bereits bisher gängige Praxis waren (insbesondere in der Verkehrs- und Energiepolitik), würde dies jedoch keine grundlegende Verhaltensänderung darstellen
[3].
Aus dem Gesichtswinkel einer Reform des politischen Systems erscheint demgegenüber ein vom ehemaligen persönlichen Berater Bundesrat Ritschards, Peter Hablützel, eingebrachter Vorschlag grundlegender zu sein. Diese Variante spricht sich
für eine auf Legislaturperioden befristete
Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten aus, deren jeweilige Weiterführung vom Grad der Kompromissbereitschaft der bürgerlichen Regierungsparteien abhängig gemacht werden soll. Eine wichtige Voraussetzung für die Realisierung dieser Regierungsbeteiligung auf Zeit wäre ein verbindliches Minimalprogramm der Koalitionsparteien. Andererseits hätten die SP und die mit ihr liierten Verbände sich während der Legislaturperioden gezielt auf ihre allfällige Oppositionsrolle vorzubereiten
[4]. Soviel Beachtung dieser Vorschlag in der interessierten Öffentlichkeit auch fand, im innerparteilichen Entscheidungsprozess hatte er keine Chance. Für die Austrittsbefürworter schien eine derartige Politik der bedingten Regierungszusammenarbeit weder gegenüber den bürgerlichen Parteien durchsetzbar, noch gegenüber den vom bisherigen politischen Prozess enttäuschten Bevölkerungsteilen glaubhaft vertretbar. Darüber hinaus verhehlten sie aber auch ihre Befürchtung nicht, dass im Parteivolk die Erregung über die Nichtwahl von L. Uchtenhagen bald einmal abklingen könnte und dann für einen eventuellen späteren Austrittsbeschluss ohnehin nie eine Mehrheit zu finden wäre
[5]. Aber auch die Vertreter des Status quo schenkten diesen Ideen keine grosse Beachtung. Sie wiesen einerseits auf die auch von ihren Opponenten kaum in Abrede gestellten Erfolge der bisherigen Politik hin und betonten andererseits, dass es gerade in Zeiten eines frostiger gewordenen politischen Klimas gelte, die mühsam errungenen Positionen zu verteidigen. Dies würde aber bei einem Auszug aus der Regierung — und damit verbunden sukzessive auch aus den ohnehin wenigen Spitzenposten in der Verwaltung — in Anbetracht der bestehenden politischen Kräfteverhältnisse äusserst schwierig. Die Erwartung einer wesentlichen Stärkung der SP durch den erhofften Zulauf aus dem Lager der politisch Unzufriedenen sei angesichts der bescheidenen Erfolge der seit Jahren agierenden Oppositionsparteien (LdU, POCH) wenig realistisch zu nennen
[6].
Im traditionell mit der SP eng verbundenen
Gewerkschaftsbund (SGB) waren die Meinungen ebenfalls gespalten. Mit relativ knappem Mehr empfahl der erweiterte Vorstand des SGB die Weiterführung der Regierungsbeteiligung. Die drei bürgerlichen Regierungsparteien hielten sich in ihren Äusserungen merklich zurück. Nur gerade die CVP, die als eigentliche Baumeisterin der Zauberformel gilt, drückte explizit ihre Hoffnung aus, dass diese weitergeführt werden könne. Der Präsident der FDP hingegen beschränkte sich darauf, die Sozialdemokraten vor einer Flucht aus der Verantwortung zu warnen. Andererseits blieb Nationalrat Blocher (svp, ZH) mit seiner Meinung, dass ein Regierungsaustritt der SP zu begrüssen wäre, da er eine konsequentere Durchsetzung bürgerlicher Anliegen ermöglichen würde, einigermassen isoliert
[7].
Die Kontroverse gab neben den bereits zitierten auch weiteren Wissenschaftern
Gelegenheit, sich grundsätzlich über das schweizerische Regierungssystem zu äussern. So nahm etwa der Politologe Germann seine These wieder auf, dass sich der Übergang vom Konkordanz- zum Konkurrenzsystem sowohl auf das Interesse und die Beteiligung des Bürgers an der Politik, als auch auf die Problemlösungskapazitäten des Staates positiv auswirken würde. Bedingung für das Funktionieren eines Systems mit klarer Trennung zwischen Regierung und Opposition wäre allerdings, wie auch Germann zugesteht, die Stärkung der Position von Regierung und Parlament auf Kosten der Volksrechte. Sowohl L. Neidhart als auch R.A. Rhinow wiesen demgegenüber darauf hin, dass das schweizerische System mit seinem Föderalismus, namentlich aber mit den Instrumenten Volksinitiative und Referendum bereits derart vielfältige Oppositionsmöglichkeiten zur Verfügung stelle, dass ein Konkurrenzsystem nach angelsächsischem Muster nicht erforderlich sei
[8].
Der mit Spannung erwartete Parteitag, auf den wir, wie auch auf die innerparteilichen Auswirkungen dieser Kontroverse, an anderer Stelle eingehen werden
[9], endete mit einem doch recht überraschenden
Sieg der Befürworter der Zauberformel. Die unterlegene Parteileitung kündigte allerdings im Anschluss an dieses Verdikt an, dass die SP, auch wenn sie im Bundesrat verbleibe, von nun an eine wesentlich unbequemere Politik betreiben werde. Für zukünftige Bundesratswahlen speziell wichtig war dabei ein Vorschlag der Geschäftsleitung, dass offizielle Kandidaten der SP nur von der Fraktions- und der Parteivorstandsmehrheit nominiert werden dürften, und dass nichtoffizielle Kandidaten eine allfällige Wahl auszuschlagen hätten. Dieser Versuch, Vorgänge, wie sie sich wiederholt bei Wahlen sozialdemokratischer Bundesräte (Tschudi, Ritschard und Stich) zugetragen hatten, künftig zu verhindern, wurde dann allerdings am ordentlichen Parteitag vom 17./18. November in St. Gallen abgelehnt. Zum Scheitern hat wohl nicht zuletzt auch die Politik von Otto Stich in seinem ersten Amtsjahr beigetragen. Seine Sachkompetenz hatten zwar auch die parteiinternen Gegner nicht in Zweifel gezogen; die von ihm mehrmals an den Tag gelegte Hartnäckigkeit bei der Verfechtung sozialdemokratischer Positionen war hingegen nicht von allen erwartet worden. Zur Entspannung trug schliesslich ebenfalls der von Stich massgeblich beeinflusste Entscheid des Bundesrates bei, der ihn und seinen Kollegen Aubert von der Vertretung des ablehnenden Regierungsstandpunktes zur SP-Bankeninitiative an Radio und Fernsehen dispensierte
[10].
Ob die Politik der SP nun effektiv unbequemer geworden ist, lässt sich nach einem Jahr noch nicht schlüssig beantworten. Zwar verlangte die Nationalratsfraktion mehr als früher Abstimmungen unter Namensaufruf, umgekehrt sind der Partei bei der Lancierung von Initiativen und Referenden natürlich recht enge finanzielle und organisatorische Grenzen gesetzt. Da sich in den letzten Jahren der Bundesrat in vielen Fragen innovationsfreudiger gezeigt hatte als das Parlament, ergab sich zudem nicht selten die Situation, dass die Sozialdemokraten die Regierungspolitik gegen die Opposition aus den bürgerlichen Reihen verteidigen mussten. Die Wortführer der anderen Regierungsparteien glaubten jedenfalls keine härtere Linie in der Politik der Sozialdemokraten zu erkennen, sondern bescheinigten diesen vielmehr einen ausgesprochenen Willen zur Zusammenarbeit
[11]. Bereits anlässlich des ersten der institutionalisierten Gespräche der Bundesratsparteien nach dem Entscheid der SP, wurde von den Beteiligten ein verbessertes Klima und gesteigerte Kooperationsbereitschaft ausgemacht. Um diese Zusammenkünfte im Berner «von Wattenwyl-Haus» nicht zu einem unergiebigen Ritual verkommen zu lassen, kam man überein, sie in Zukunft nicht mehr regelmässig vor den Sessionen, sondern entsprechend dem Bedarf abzuhalten. Überdies wurden die Parteisekretäre beauftragt, abzuklären, ob sich eine Art minimales Regierungsprogramm erstellen lasse
[12].
Neben den grundsätzlichen Auseinandersetzungen über Sinn und Bestand des Regierungssystems rückten die Richtlinien der Regierungspolitik für die Legislaturperiode 1983-1987 in den Hintergrund. Diese bereits zum fünften Mal veröffentlichten Richtlinien stellen denn auch nicht eine rechtlich verbindliche Regierungserklärung dar, sondern vielmehr eine politische Absichtserklärung des Bundesrates, zu deren Verwirklichung er sich einzusetzen gedenkt. Inhaltlich gliedern sie sich in die Rahmenbedingungen politischen Handelns, die politischen Leitlinien (dies als Neuerung) sowie den Aufgabenkatalog. Im Vergleich mit den Richtlinien für die vorangegangene Legislaturperiode fällt auf, dass der Bundesrat dem Schutz und der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen heute einen wesentlich höheren Stellenwert einräumt. Da die Weltwirtschaft sich im Beginn einer konjunkturellen Aufschwungphase befindet, verlieren demgegenüber die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Probleme ihre dominierende Position. In den politischen Leitlinien wird erneut auf das Dilemma hingewiesen, mit aus wirtschaftlichen und politischen Gründen beschränkten Ressourcen einen leistungsfähigen Staat zu bewahren und den Anforderungen einer sich rasch wandelnden Gesellschaft gewachsen zu sein. Diese Situation zwinge den Bund vermehrt zu einer Differenzierung zwischen dem Wünschbaren und dem Notwendigen, d.h. zu einer Streichung oder zumindest einer zeitlichen Verschiebung von weniger dringlichen Vorhaben.
Diese
Prioritätensetzung gelangte denn auch beim Entscheid über die Aufnahme neuer Geschäfte in den Aufgabenkatalog zur Anwendung. Um den Handlungsspielraum für die Erfüllung dringender neuer Vorhaben zu erweitern, wurden ferner die bestehenden Aufgaben systematisch auf Möglichkeiten der Rationalisierung, des Abbaus oder gar des Verzichts überprüft. Insgesamt enthält die Liste 67 Projekte, welche die Regierung im Verlaufe der Legislaturperiode 1983 bis 1987 dem Parlament vorlegen will. Bei 23 davon handelt es sich um Pendenzen aus der letzten Legislaturperiode; sechs der in den Regierungsrichtlinien 1979-1983 angekündigten Vorhaben sollen hingegen im Sinne der Prioritätensetzung auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Die im Aufgabenkatalog enthaltenen haushaltrelevanten Geschäfte sind auf den Finanzplan 1985-1987 abgestimmt. In der Presse wurden die Richtlinien als pragmatisches, aber doch wertvolles, strukturiertes und kommentiertes Inventar der in nächster Zeit auf Bundesebene zur Lösung anstehenden Probleme charakterisiert. Der Verzicht auf ein echtes Regierungsprogramm mit mehr grundsätzlichen Ausblicken sei zwar bedauerlich, ein solches müsste aber eher von den politischen Parteien denn vom Bundesrat, der ja bloss als oberste Vollzugsbehörde wirkt, vorgelegt werden
[13].
Verheerend fielen demgegenüber die Pressekommentare zur
parlamentarischen Behandlung der Regierungsrichtlinien aus. Da diese eine Absichtserklärung des Bundesrates darstellen, nimmt das Parlament von ihnen lediglich Kenntnis. Immerhin besteht seit 1980 die Möglichkeit, mit sofort zu behandelnden Motionen Ergänzungen anzubringen. Solange diese Debatte aber nicht zur grundsätzlichen Auseinandersetzung, sondern in erster Linie zur Geltendmachung von Sonderwünschen genutzt wird, stellt sie im Urteil vieler Journalisten eine reine Zeitverschwendung dar. Von den eingereichten Motionen vermochte sich, nach einigem Hin und Her zwischen den beiden Kammern, bloss eine durchzusetzen: Zum Zweck einer verbesserten Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament solle der Bundesrat die Aufgabenliste nach Prioritäten ordnen. Aus dieser Klassierung müsse insbesondere hervorgehen, welche Geschäfte auch erst in einer späteren Periode vorgelegt werden könnten. Einer anderen Motion des Nationalrates, welche die Vorlage einer Botschaft über die Ausmerzung der «taxe occulte» bei der Warenumsatzsteuer forderte, verweigerte hingegen der Ständerat wegen ihrer präjudizierenden Form die Zustimmung. Bereits in der grossen Kammer scheiterten zwei Motionen der vorwiegend aus Vertretern der SP gebildeten Kommissionsminderheit, die erstens ein Notprogramm gegen das Waldsterben und zweitens eine aktivere Forschungspolitik verlangten
[14].
Als Mittel zur Entlastung von Regierung und Parlament beschloss nach dem Ständerat nun auch der Nationalrat den
Verzicht auf den 1979 eingeführten Zwischenbericht über die Verwirklichung der Regierungsrichtlinien nach der Hälfte der Legislaturperiode. Eine andere Neuerung von 1979, die Vorberatung der Richtlinien durch die Kommissionen, wird hingegen beibehalten
[15].
Bereits ein Jahr nach der Nichtwahl von Lilian Uchtenhagen bot sich dem Parlament erneut Gelegenheit, einen Schritt zu machen, den es aus unterschiedlichen Gründen damals noch nicht für opportun erachtet hatte: Die
erstmalige Wahl einer Frau in die Landesregierung. Nach nicht einmal zweijähriger Amtsdauer musste Ende August der freisinnige Bundesrat Rudolf Friedrich aus gesundheitlichen Gründen seinen Rücktritt auf den 20. Oktober bekanntgeben. Der auch von seinen Gegnern für seine Tüchtigkeit und Geradlinigkeit gelobte Bundesrat nahm seinen Rücktritt zum Anlass, um auf Organisationsprobleme und die damit verbundene Arbeitsüberlastung im Regierungskollegium aufmerksam zu machen. Insbesondere warf er die Frage auf, ob sich die Bundesräte nicht durch Staatssekretäre an den Sitzungen der Parlamentskommissionen vertreten lassen könnten. Diese Anregungen wurden von der freisinnigen Fraktion sowie von Ständerat Masoni (fdp, TI) aufgenommen und als Motionen ins Parlament gebracht
[16].
Als aussichtsreichste Kandidaten für die Nachfolge von Friedrich kristallisierten sich bald der Aargauer Ex-Regierungsrat und Nationalrat Bruno Hunziker sowie die Zürcher Nationalrätin Elisabeth Kopp heraus. Beide galten allgemein als fähig und kompetent, wobei sich Hunziker eher als Vertreter von Wirtschaftsinteressen profiliert hatte, während E. Kopp, bei aller Treue zu freisinnigen Grundsätzen, sich ihren nationalen Bekanntheitsgrad zu einem guten Teil durch ihr umweltschutzpolitisches Engagement erworben hatte. Nachdem diese beiden Bewerber von ihren Kantonalparteien nominiert worden waren, trat etwas ein, das in der neueren Geschichte der Bundesratswahlen als Novum zu betrachten ist. Nicht nur die Qualitäten und allfälligen Mängel der Kandidaten wurden von der Öffentlichkeit unter die Lupe genommen, sondern — allerdings nur bei E. Kopp — auf diejenigen ihres Ehepartners. Mit der Ausbreitung von zum Teil mehr als zehn Jahre zurückliegenden Vorkommnissen aus dem Privat- und Berufsleben des Wirtschaftsanwalts Hans Kopp wurde versucht, die Integrität von Elisabeth Kopp in Frage zu stellen. Die Herkunft der Angreifer war schwer zu umreissen, hervorgetreten war namentlich der freisinnige ehemalige Luzerner Nationalrat und Stadtpräsident H. R. Meyer
[17].
Der Parlamentsfraktion der FDP bot sich nun die Chance, nicht nur die erste Frau im Bundesrat zu stellen, sondern auch den Imageverlust, den sie 1983 durch die Bekämpfung der Kandidatur Uchtenhagen bei vielen Frauen erlitten hatte, wieder wettzumachen. Diese Chance nahm sie jedoch nur zum Teil wahr, da sie der Bundesversammlung eine Zweierkandidatur Kopp/Hunziker vorschlug. Von den zum Entscheid aufgerufenen übrigen Fraktionen sprach sich lediglich die SP für die weibliche Bewerberin aus, alle andern gaben die Stimme frei. Bereits im ersten Wahlgang wurde am 2. Oktober 1984
Elisabeth Kopp bei einem absoluten Mehr von 121 mit 124 Stimmen
gewählt, der Gegenkandidat Hunziker erhielt deren 95. Der erstmalige Einzug einer Frau in die Landesregierung, dreizehn Jahre nach der Einfiihrung des Frauenstimm- und -wahlrechts, wurde in der Öffentlichkeit allgemein begrüsst und auch als Anerkennung der bisherigen Leistungen der weiblichen Politikerinnen gewertet. Da die neue Bundesrätin das Departement ihres Vorgängers (EJPD) übernahm, drängten sich keine weiteren Rotationen auf. Zum Bundespräsidenten für das Jahr 1985 wurde Kurt Furgler gewählt
[18].
Die
Verfassungsbestimmung, wonach nicht zwei Bundesräte im selben Kanton heimatberechtigt sein dürfen, hatte zwar bei der diesjährigen Ersatzwahl, im Gegensatz zu 1983, zu keinen Problemen Anlass gegeben. Trotzdem möchte Nationalrat Bircher (sp, AG) diese Klausel durch einen Passus ersetzen, der lediglich eine angemessene Berücksichtigung der Regionen garantiert. Ebenfalls im Anschluss an die turbulenten Ersatzwahlen von 1983 lancierte im Kanton Jura die Frauengruppe des Rassemblement jurassien eine Volksinitiative für die Einreichung einer Standesinitiative zugunsten der Wahl des Bundesrates durch das Volk. Durch die Schaffung von linguistisch definierten Wahlkreisen will das Begehren die Vertretungsansprüche der verschiedenen Sprachgruppen berücksichtigen und darüber hinaus durch das Wahlprozedere auch für eine angemessene Präsenz der Frauen sorgen
[19].
[1] Zur Nichtwahl von Uchtenhagen siehe SPJ, 1983, S. 20 ff. sowie Ch. Fehr, «Das Beispiel vom 7. Dezember 1983: Drehbuch einer Bundesratswahl », in ders. (Hrsg.), Heil dir Helvetia, Hägendorf 1984, S. 5 ff. Hubacher: TA, 17.1.84. Noch 1979 hatte sich Hubacher klar gegen einen Austritt ausgesprochen (vgl. SPJ, 1979, S. 23 und 197). Parteivorstand: Presse von 23.1.84. Analyse: W. Linder, «Geliebte, gehasste, verwünschte Konkordanz», in R. Brassel u.a. (Hrsg.), Zauberformel: Fauler Zauber?, Basel 1984, S. 117 ff.
[2] T. Maissen, «SPS am Scheideweg», in Rote Revue, 63/1984, Nr. 1, S. 1 f. Ähnlich u.a. auch P. Vollmer (Vizepräsident der SP), «Bundesratswahl als Signal», in ebenda, S. 5 ff. sowie NR Bäumlin (sp, BE) in Vr, 25.1.84. Zu den Chancen der SP, zu einem Kristallisationspunkt für Sympathisanten sogenannt alternativer Bewegungen zu werden, siehe H.P. Kriesi, «Konkordanzsystem und Opposition», in Rote Revue, 63/1984, Nr. 2, S. 4 ff..
[3] Siehe dazu R.A. Rhinow in TA, 9.2.84.
[4] P. Hablützel, «Chance vernünftig nutzen», in R. Brassel u.a. (Hrsg.), a.a.O., S. 222 ff. Vgl. auch P. Gilg, «Soll das schweizerische Regierungssystem geändert werden?», in Bund, 21.1.84. Für eine gründliche Vorbereitung einer allfälligen Oppositionsrolle sprach sich auch der SP-Zentralsekretär R. H. Strahm aus («Kopflose Parteileitung?», in Rote Revue, 63/1984, Nr. 2, S. 25 ff.).
[5] Siehe insbesondere T. Maissen, « Der 'dritte Weg' führt in die Sackgasse», in R. Brassel u.a. (Hrsg.), a.a.O., S. 233 ff. sowie J. Zwicker, «1929-1984», in Rote Revue, 63/1984, S. 16 ff.
[6] F. Schlegel, «War die Wahlniederlage unvermeidlich?», in Rote Revue, 63/1984, Nr. 2, S. 14 ff. Für die Weiterführung der Bundesratsbeteiligung sprach sich insbesondere auch die Mehrheit der Parlamentsfraktion aus (Presse von 29.1.84 sowie Suisse, 30.1.84).
[7] SGB, 19.1.84. CVP: NZZ; 18.1.84 und Vat., 18.1.84. Der Freisinn, Nr. 2, Februar 1984. Blocher: Blick, 16.1.84.
[8] R.E. Germann in TA, 9.2.84; L. Neidhart, «Oppositionsmöglichkeiten in der Konkordanzdemokratie», in NZZ, 18.2.84; R.A. Rhinow in TA, 9.2.84. Vgl. ferner auch A. Fisch, «Opposition in der Schweiz», in Schweizer Monatshefte, 64/1984, S. 187 ff. ; wf, Dok. (Artikeldienst), 6.2.84 sowie oben, Teil I, 1a (Staatsrecht) und SPJ, 1975, S. 11.
[9] Siehe unten, Teil III a (Sozialdemokraten).
[10] Sonderparteitag: Presse vom 13.2.84 und Rote Revue, 63/1984, Nr. 3. Parteitag in St. Gallen: Presse vom 19.11.84 sowie «SP-Intern », Beilage zu Rote Revue, 63/1984, Nr. 12. Amtsführung: SZ, 17.4.84; BaZ, 7.12.84. Medienauftritte: NZZ, 2.5.84.
[11] Bund, 9.11.84; R. Reich in Schweizer Monatshefte, 64/1984, S. 459 ff.
[12] NZZ, 21.2.84; 23.2.84; 20.3.84; BaZ, 23.2.84. Zu der namentlich vom SVP-Generalsekretär Friedli geäusserten Befürchtung einer Erstarrung vgl. SPJ, 1983, S. 20. Einen ersten Versuch mit der Ausarbeitung eines verbindlichen Minimalprogramms unternahmen die Regierungsparteien bereits 1971 (vgl. SPJ, 1971, S. 19).
[13] BBl, 1984, I, S. 157 ff. Siehe auch die illustrierte Ausgabe Richtlinien der Regierungspolitik 1983-1987, Bern 1984. Zu den Richtlinien 1979-1983 siehe SPJ, 1980, S. 21 f., zum Finanzplan unten, Teil I, 5 (Finanzplan). Reaktionen : Presse vom 27.1.84; vgl. ferner R. Reich in Schweizer Monatshefte, 64/1984, S. 551 f. Siehe ausserdem L. Schlumpf, «Die Richtlinien der Regierungspolitik», in Documenta, 1984, Nr. 1, S. 4 ff. sowie W. Buser, «Die Erarbeitung der Regierungsrichtlinien », in ebenda S. 6 f. NR Bäumlin (sp, BE) reichte hingegen eine Motion ein, die vom BR anstelle der heutigen Richtlinien langfristige Perspektiven sowie alternative Varianten zielgerichteter Politik fordert ( Verhandl. B.vers., 1984, V, S. 209).
[14] Amtl. Bull. StR, 1984, S. 227 ff. und 372 f. ; Amtl. Bull. NR, 1984, S. 736 ff., 808 ff. und 924 f.; Presse vom 16.6.84. Die vom BR ausgearbeitete Prioritätenliste unterscheidet zusätzlich zwischen Geschäften, die den Räten in der ersten (30), und solchen, die in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode präsentiert werden sollen (22). Bei 14 Vorlagen erklärt sich der BR bereit, auf eine Unterbreitung in der laufenden Legislaturperiode zu verzichten (BBl, 1984, Il, S. 1332 ff.).
[15] SPJ, 1983, S. 20; Amtl. Bull. NR, 1984, S. 1859 f. und 1957; Amtl. Bull. StR, 1984, S. 739. Diese Vereinfachung des Ratsbetriebs geht auf eine parlamentarische Initiative Generali (fdp, TI) zurück. Über weitere Bestrebungen zur Straffung der Verhandlungen orientieren wir unter dem Stichwort Parlament.
[16] Rücktritt: Presse vom 30.8.84. Reorganisation: Schweizer Monatshefte, 64/1984, S. 767 f.; Ww, 6.9.84. Motionen : Verhandl. B.vers., 1984, V, S. 30 und 84. Im NR reichte Pini (fdp, TI) eine Motion ein, mit der expliziten Forderung der Wahl je eines Staatssekretärs für die sieben Departemente durch das Parlament ( Verhandl. B.vers., 1984, V, S. 69).
[17] Potentielle Bewerber: Presse vom 30.8.84. Nominierungen: NZZ, 14.9.84 (FDP-ZH); AT, 15.9.84 (FDP-AG). Zu den Auseinandersetzungen über Hans Kopp siehe v.a. AT, 14.9.84; LNN, 20.9.84; 22.9.84; Blick, 27.9.84; Wochen-Zeitung, 28.9.84; 5.10.84.
[18] FDP-Fraktion: NZZ, 25.9.84. SP-Fraktion: NZZ, 26.9.84. Wahl: Amtl. Bull. NR, 1984, S. 1489 ff.; Presse vom 3.10.84. Amtsantritt: NZZ, 4.10.84; Presse vom 20.10.84. Bundespräsident: Amtl. Bull. NR, 1984, S. 1977.
[19] Parlamentarische Initiative Bircher: Verhandl. B.vers., 1984, V, S. 16; BaZ, 22.8.84; vgl. auch SPI, 1983, S. 23 (Motion der SVP). Standesinitiative: LM, 1.2.84 (Lancierung); 24 Heures, 18.2.84; NZZ, 12.3.84; FAN, 20.12.84. Frühere eidgenössische Initiativen für die Einführung der Wahl des Bundesrates durch das Volk waren 1900 resp. 1942 vom Souverän abgelehnt worden.
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