Année politique Suisse 1984 : Chronique générale / Défense nationale
Landesverteidigung und Gesellschaft
Im Unterschied zu früheren Jahren wirkte sich der Marschhalt in der Sozialpolitik — einem der sicherheitspolitischen Standbeine — in einer Verschärfung der Kontroverse um die Militär- und Rüstungspolitik — dem sicherheitspolitischen Marschbein — aus. Den Beschlüssen der Exekutive, vertreten durch den neuen EMD-Vorsteher Jean-Pascal Delamuraz, war kein einheitlicher Erfolg beschieden. Die Gegensätze zwischen den Parlamentariern der Regierungsparteien offenbarten sich vorab beim Kaufbeschluss des neuen Panzers «Leopard II»: Die bundesrätliche Vorlage passierte nach einer grösseren Kontroverse nur in gekürzter Form. Die übrigen parlamentarischen Konflikte betrafen im wesentlichen Fragen der Militärorganisation; auch sie waren durch einen Rechts/Links-Gegensatz gekennzeichnet.
Ebenso kann bemerkt werden, dass den Forderungen, die ausserparlamentarisch erhoben worden waren, wenig Erfolg beschieden war. Der Druck der Friedensbewegung liess spürbar nach. Organisatorisch wenig einheitlich, erreichten ihre Hauptkundgebungen — der internationale Ostermarsch in Basel und ein Friedenssymposium in Genf — nur noch wenig Resonanz
[1]. Auch thematisch gelang ihr keine Integration; die im Vorjahr von ihr vertretenen Anliegen entwickelten sich in unterschiedlicher Weise : Im Bereich der Militärdienstverweigerung wurde bei der Volksabstimmung über die zweite Zivildienst-Initiative ein negativer Entscheid gefällt. Im Fall des Waffenplatzes Rothenthurm bekämpften die Betroffenen den Vollzug des Parlamentsbeschlusses vor allem mit juristischen Mitteln. Ein möglicherweise neuer Konflikt bahnte sich schliesslich beim Zivilschutz an; es machten sich politisch motivierte Verweigerungen von Zivilschutzkursen bemerkbar.
Im Bereich der
Gesamtverteidigung (GV) hatte sich die Öffentlichkeit anfänglich weitgehend mit der Frage beschäftigt, ob, respektive wieweit die Frauen miteinbezogen werden sollten. Dies änderte sich in zweierlei Hinsicht: Einmal liess das publizistische Interesse nach Abschluss des Vernehmlassungsverfahrens zum Expertenbericht merklich nach; die für Ende 1984 erwarteten Ergebnisse der breit gestreuten Umfrage wurden noch nicht publik gemacht
[2]. Zweitens konstatierten die offiziellen Vertreter der GV eine verbreitete Unkenntnis der generellen Anliegen. Deshalb konzentrierten sie ihre Bemühungen auf den Einbezug der Gesamtverteidigung in den Alltag. Die Zentralstelle für Gesamtverteidigung gab eine Einführungsschrift heraus, welche die Konzeption, die Aufgaben und die wesentlichen Bereiche erläutert. Unter dem Prässidium von alt Bundesrat F. Honegger schloss sich ferner ein Verein «Chance Schweiz» zusammen, der inskünftig die Anliegen der gesamten schweizerischen Sicherheitspolitik dem öffentlichen Verständnis besser erschliessen möchte
[3].
Die
zaghafte politische Debatte um die Gesamtverteidigung beschränkte sich weitgehend auf zwei Ereignisse: Im Parlament war es wie schor in früheren Jahren die freisinnige Fraktion, welche den Bundesrat zu einer sicherheitspolitischen Standortbestimmung zur wegleitenden Konzeption der Gesamtverteidigung einlud. Darin sollte der veränderten Bedrohungslage seit 1973 respektive seit der ersten Zwischenbilanz von 1979 Rechnung getragen werden. Die Landesregierung zeigte sich bereit, das Postulat entgegenzunehmen; allerdings wollte sie keinen Termin für die Veröffentlichung einer neuen Botschaft zur Sicherheitspolitik der Schweiz fixieren
[4]. Sodann blieb das sicherheitspolitische Szenario der vierten Gesamtverteidigungsübung nicht unbestritten. Am fiktiven Beispiel einer internationalen Krise wurde die Zusammenarbeit ziviler und militärischer Führungsorgane geschult. Um ausserordentliche Lagen simulieren zu können, wurde ein Übungsbundesrat eingesetzt; erstmals in den Test miteinbezogen waren zivile Führungsstäbe einiger Kantone. Vom Übungsleiter Korpskommandant E. Lüthy wurden die gemachten Erfahrungen mit den rund 3000 Teilnehmern positiv beurteilt. Die politische Kontroverse entzündete sich an der nachträglichen Publikation der geheim gehaltenen Ausgangslage durch die alternative «Wochen-Zeitung». Diese machte bekannt, die Übung sei davon ausgegangen, in Griechenland breche nach innenpolitischen Wirren und dem Einmarsch der UdSSR der dritte Weltkrieg aus; der Schweiz drohe die Gefahr, aussenpolitisch isoliert zu werden. Auf eine diplomatische Note Griechenlands hin distanzierte sich das EDA von dem ihm unbekannt gebliebenen Szenario der internationalen Ausganslage, das der Gesamtverteidigung zugrunde lag
[5].
Eine zunehmende Bedeutung der Sicherheitspolitik äusserte sich auch in der wissenschaftlichen Diskussion. Grosses Echo fand eine Publikation des Friedensforschers J. Galtung. Ausgehend von den vier Vergleichspunkten «glaubwürdiges nicht-provokatives Verteidigungskonzept», «internationale Bündnisfreiheit», «umfassende Autarkie» und «Nützlichkeit für das Ausland» empfahl er die schweizerische Gesamtverteidigung als Modell für Europa und attestierte dem Land die grösste Sicherheit auf dem Kontinent. Ablehnend zu dieser Sicht «von aussen» äusserten sich vor allem pazifistische Exponenten. Sie erhoben den Vorwurf; aus der «innern Perspektive» müsste bei der GV eher von einer Militarisierung des Denkens gesprochen werden. Diese sei für die aussenpolitische Unbeweglichkeit und die Intoleranz etwa beim ungelösten Dienstverweigerer-Problem verantwortlich
[6].
Unter dem Aspekt der politischen Planung untersuchte schliesslich eine Berner Dissertation die rechtliche Bedeutung der Gesamtverteidigungskonzeption. Der Autor kam zum Schluss, dass diese für die Verwaltung eine verbindliche Weisung darstelle, politisch jedoch nicht bindend sei, weil die Räte von ihr nur Kenntnis genommen hätten. Angesichts der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung, die ihr für die längerfristige staatliche Sicherheitspolitik zukomme, befriedige dies nicht; bei einer Revision müsse dem Parlament eine stärkere Beteiligung eingeräumt werden
[7].
Einer der entwickeltsten Teile der Gesamtverteidigung ausserhalb der Armee, der Zivilschutz, erfuhr in der Berichtsperiode nur wenige organisatorische Veränderungen. Praktisch diskussionslos nahm der Ständerat von der bundesrätlichen Zwischenbilanz zum Ausbau des Zivilschutzes Kenntnis. Im Rahmen der Aufgabenneuverteilung beschloss die grosse Kammer nach dem Ständerat finanzielle Entlastungen des Bundes bei den Ausbildungsbeiträgen an die Kantone vorzunehmen. Ferner gestaltete der Nationalrat die Ansätze für Bausubventionen flexibler; damit will er den regionalen Unterschieden besser Rechnung tragen
[8].
Ausserparlamentarisch machte sich ein
latenter Widerstand gegen den Zivilschutz bemerkbar. Im Gefolge des amerikanischen Spielfilmes «The Day After» mehrten sich kritische Einwände gegen das Zivilverteidigungskonzept. Zwei Lausanner Professoren traten mit furchterregenden Berechnungen über die Auswirkungen von Atomkriegen im In- und Ausland, die auch durch Zivilschutzanstrengungen nicht verhindert werden könnten, an die Öffentlichkeit. Um gegen die durch den Schutzgedanken verstellte Optik zu protestieren, verweigerte der Filmemacher A. J. Seiler zum dritten Male einen Zivilschutzkurs; das Gericht büsste ihn mit einer unbedingten Haftstrafe von 10 Tagen. Auf eine zunehmende Verweigerungstendenz deutet ferner die rasch steigende Zahl von Verstössen gegen das Zivilschutzgesetz hin
[9]. Die Verteidigung des Zivilschutzes übernahmen Spitzenvertreter aus Militär und Politik. Bundesrat R. Friedrich machte die Verminderung der Erpressbarkeit des Landes durch die Drohung mit einem konventionell oder mit chemischen Waffen geführten Krieg geltend. Das Bundesamt für Zivilschutz seinerseits produzierte mehrere Filme, um der Skepsis entgegenwirken und für die Aufgaben des Zivilschutzes zu werben
[10].
Entspannt scheint sich die Kontroverse zu haben, die 1983 um das neue Armeeleitbild in der ständerätlichen Kommission ausgebrochen war und zu einer Motion der SP-Fraktion geführt hatte. Bundesrat Delamuraz nahm nun im Nationalrat die Motion, mit dem die sozialdemokratischen Parlamentarier die Frage der Gewichtung hochtechnisierter Waffensystem innerhalb zukünftiger Leitbilder aufgeworfen hatten, in Form eines Postulates entgegen. Der Bundesrat will demnächst einen Bericht vorlegen, um in diesem Punkt mehr Transparenz zu schaffen
[11]. Auch innerhalb der Armeeführung wurde dieser Problemkomplex erörtert. Die konzeptionellen Diskussionen kreisten vorab um die
Miliztauglichkeit dieser Technologien. Für den Ausbildungschef der Armee, Korpskommandant Mabillard, stellt sich das Problem erst längerfristig. Er rechnet mit einer allmählichen Ausdehnung der militärischen Grundausbildung für bestimmte Aufgaben; wo die ständige Einsatzbereitschaft erforderlich sei, werde auf eine beschränkte Anzahl von Berufseinheiten zurückgegriffen werden müssen. Akzentuierter sprach es Generalstabschef Zumstein aus, der für den strategischen Nachrichtendienst sowie bei der elektronischen Aufklärung und der «Luftpolizei» der Flugwaffe den Übergang zu einer Berufsarmee forderte
[12].
[1] Friedenszeitung, 32, April 1984; 40, Dez. 1984 sowie TA, 24.4.84; 30.10.84. Vgl. auch: Die Friedensbewegung der 80er Jahre und die Sicherheitspolitik der Schweiz, Beilage zu ASMZ, 151/1985, Nr. 1 sowie D. L. Bäschlin, Wehrwille und grüne Kraft, Gümligen 1984.
[2] Vgl. SPJ, 1983, S. 53; 1982, S. 47; 1981, S. 52; vgl. exemplarisch TA, 30.11.84.
[3] Zentralstelle für Gesamtverteidigung, Einführung in die Gesamtverteidigung, Bern 1984. Chance Schweiz: NZZ, 9.10.84.
[4] Amtl. Bull. NR, 1984, S. 1420 ff.; NZZ, 15.9.84. Vgl. auch SPJ, 1980, S. 46 f. sowie generell zum Thema: B. Näf, «Anfang und erste Entwicklung einer schweizerischen Strategie», in SAMS, 8/1984, S. 51 ff. und ASMZ, 150/1984, S. 353 ff.
[5] Sicherheitspolitik: NZZ, 5.6.84; 9.11.84; 14.11.84; 21.11.84. GV-Übung: Wochen-Zeitung, 44, 10.12.84. NZZ, 12.12.84; 14.12.84; 15.12.84; 17.12.84; TA, 18.12.84.
[6] J. Galtung, Es gibt Alternativen! Vier Wege zu Frieden und Sicherheit, Opladen 1984; vgl. auch Friedenszeitung, 32, April 1984; ASMZ, 150/1984, S. 571 ff. Kritik: TA, 19.3.84; Vr, 30.3.84.
[7] U. Zwygart, Die Gesamtverteidigungskonzeption unter besonderer Berücksichtigung der strategischen Fälle, Diss. Bern/Diessenhofen 1984; ferner H. Rütti, Die Leistungsorganisation der Gesamtverteidigung als besondere Stabsorganisation des Bundes, Diss. Zürich 1984.
[8] Zwischenbilanz: Amtl. Bull. StR, 1984, S. 149 ff.; Bund, 23.3.84; vgl. auch SPJ, 1983, S. 62. Aufgabenneuverteilung: Amtl. Bull. NR, 1984, S. 116 ff.; TA, 8.3.84. Vgl. auch oben, Teil I, 1d (Aufgabenneuverteilung).
[9] TA, 4.5.84; 25.6.84; 2.10.84; Ww, 40, 4.10.84. Freigesprochen wurde dagegen der Zivilschutzverweigerer und Berner POCH-Stadtrat P. Eichenberger, der im Radio den Zivilschutz in ähnlicher Weise kritisiert hatte (TA, 30.6.84). Verweigerungstendenz: AT, 22.8.84; TA, 10.11.84; Friedenszeitung, 38, Okt. 1984.
[10] Bund, 23.3.84; SZ, 2.4.84; ASMZ, 150/1984, S. 53 f.
[11] Amtl. Bull. NR, 1984, S. 381 ff.; SPJ, 1983, S. 58. Eine leicht gekürzte Fassung des Armeeleitbildes findet sich in E. Wetter, Schweizer Militärlexikon, Frauenfeld 1984.
[12] Vgl. exemplarisch NZZ, 29.10.84 sowie Kantonale Offiziersgesellschaft Zürich, Die Zukunft der Milizarmee, Zürich 1984. Siehe auch W. Meyer, A. Riklin, L. Bossard, «Die ausserordentliche Belastung von Milizoffizieren», in SAMS, 8/1984, S. 3ff.
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