Année politique Suisse 1986 : Economie / Politique économique générale
Wirtschaftsordnung
Drastischer als alle wissenschaftlichen Analysen und Prognosen führten Katastrophen wie der Reaktorunfall in Tschernobyl (UdSSR), der Chemiebrand bei Basel und das Waldsterben der Öffentlichkeit und den politischen und wirtschaftlichen Führungskräften vor Augen, dass sich auf die Dauer die Fortführung des bisherigen weitgehend quantitativen Wirtschaftswachstums nicht mit dem Ziel der Erhaltung einer einigermassen intakten
Umwelt vereinbaren lässt. Die Diskussionen um das als optimal erachtete Wirtschaftssystem entfernten siçh vom traditionellen Gegensatz zwischen freier Marktwirtschaft und staatlicher Lenkung. Insbesondere bei der politischen Linken und den Gewerkschaften, aber — zumindest ansatzweise — auch bei den Unternehmern und den bürgerlichen Parteien setzte sich vermehrt die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer ökologisch orientierten Wirtschaft durch. Ob dieses Ziel mit marktwirtschaftlichen Steuerungsmitteln, wie beispielsweise der Internalisierung externer Kosten (Verursacherprinzip), oder mit staatlichen Verboten erreicht werden kann, wird zunehmend von einer Prinzipien- zu einer blossen Zweckmässigkeitsfrage
[1].
Wie diese neue Wirtschaftsweise und der Weg zu ihr aussehen könnte, legte eine vom Bundesrat eingesetzte
Expertenkommission dar. Das zu erreichende
Ziel einer primär auf qualitatives Wachstum ausgerichteten Wirtschaft definierte die Gruppe als Zunahme der individuellen und der gesellschaftlichen Lebensqualität, die mit geringerem oder zumindest nicht ansteigendem Einsatz von nicht vermehrbaren oder regenerierbaren Ressourcen und mit reduzierter oder zumindest nicht zunehmender Umweltbelastung erzielt wird. Der Bericht der Expertenkommission geht davon aus, dass der Entwicklung und Anwendung neuer Technologien bei der Durchsetzung dieser Leitidee eine grosse Bedeutung zukommt. Nur ein rohstoffschonender Wertschöpfungsprozess unter Verwendung der neuesten informations-, gen- und biotechnologischen Erkenntnisse erlaube es der Wirtschaft, sich im internationalen Konkurrenzkampf zu behaupten und zugleich den Anliegen des Umweltschutzes zu genügen. Diese Umstellung stellt für Individuen und Unternehmen erhöhte Ansprüche namentlich in bezug auf Kreativität und Qualifikation. Für das Wirtschaftssystem verlangen die Experten einen Abbau von Wettbewerbsbehinderungen und von strukturbewahrenden Massnahmen. Im Bereich der Umweltschutzpolitik soll der Staat dem Verursacherprinzip mit der Inrechnungstellung externer Kosten und mit finanziellen Anreizen vermehrt Nachachtung verschaffen. Weitere Analysen der Studie beziehen sich auf einzelne Politikbereiche und auf die Funktionsweise des politischen Systems
[2].
In ersten Reaktionen wurde das Bestreben anerkannt, eine umfassende Gesamtschau vorzunehmen und zum Teil neue, zum Teil bekannte, jedoch heftig umstrittene Massnahmen vorzuschlagen. Kritisiert wurde hingegen, insbesondere von Unternehmerseite, dass das Bemühen der pluralistisch zusammengesetzten Expertengruppe um Einstimmigkeit sich in einer
Vielzahl von widersprüchlichen Postulaten niederschlage. So etwa, wenn einerseits die Erweiterung des persönlichen Handlungsspielraums gefordert und andererseits staatliche Lenkungsmassnahmen zugunsten des Umweltschutzes befürwortet werden. Der Bundesrat nahm vom Bericht Kenntnis und bezeichnete ihn als wichtige Anregung für seine zukünftige Politik. Er setzte im weitern eine interdepartementale Arbeitsgruppe ein, die überprüfen soll, welche konkreten Massnahmen sich als Konsequenz aus den Ergebnissen der Studie für den Bund aufdrängen. Mit der Überweisung eines Postulats Longet (sp, GE) forderte der Nationalrat die Regierung zu einer ausführlichen Stellungnahme und zur Vorlage eines Zeitplans für die zu ergreifenden Massnahmen auf
[3].
Die
neuen Technologien fanden nicht nur unter dem Gesichtspunkt des von ihnen erwarteten Beitrags zur Umstellung auf ein qualitatives Wachstum Beachtung, sondern ebenfalls unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für die Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit der schweizerischen Wirtschaft bzw. ihrer Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Die politischen Parteien zeigten sich bestrebt, das Kenntnisdefizit, welches ihnen in diesen Fragen attestiert worden war, zu beheben: Die FDP widmete ihren Parteitag dem Thema «Neue Technologien», die SPS befasste sich an ihrem Parteitag eingehend mit den Konsequenzen für die Arbeitswelt
[4]. Die
Förderung der Forschung und Entwicklung, wie sie insbesondere von einigen europäischen Staaten mit Nachdruck betrieben wird, sowie die Tendenz zu wachsender internationaler Zusammenarbeit in Form von Grossprojekten (z.B. EUREKA) liessen in der Schweiz den Ruf nach einem Überdenken der Forschungspolitik ertönen. Der Einsatz der politischen Behörden dafür, dass schweizerischen Unternehmen die Teilnahme an derartigen Projekten nicht verunmöglicht wird, wurde als vordringlich erachtet. Allgemeine Zustimmung fand auch das Postulat einer besseren Koordination der Aktivitäten von Staat, Wissenschaft und Wirtschaft. Die direkte Staatsbeteiligung an der praxisorientierten Forschung wird hingegen vom Vorort als wettbewerbsverzerrend abgelehnt und darf seiner Meinung nach nur in gut begründeten Ausnahmefällen wie beispielsweise in der Umweltforschung geschehen
[5].
Für die Unternehmerverbände stellt die
Reduktion der administrativen Belastungen, welche den Betrieben durch staatliche Auflagen und Vorschriften erwachsen, ein wichtiges Anliegen dar. Eine 1985 publizierte Untersuchung hatte das Ausmass dieses Aufwands quantifiziert und dabei aufgezeigt, dass kleine und mittlere Firmen davon stärker betroffen sind als Grossunternehmen. Als Gegenmassnahme wurde deshalb eine nach Betriebsgrösse differenzierte Anwendung der Vorschriften ins Gespräch gebracht. Der Nationalrat forderte die Regierung mit einem Postulat auf, eine zusätzliche Studie vorzulegen, welche unter anderem Abhilfemassnahmen unterbreitet
[6].
[1] Für die neue Akzentsetzung der Linken in bezug auf die Prinzipien des Wirtschaftssystems vgl. SPJ, 1985, S. 233; P. Vollmer, «Herausforderung der SP: Arbeit und Umwelt», in Rote Revue, 65/1986, Nr. 4, S. 6 f.; O. Stich, « Eine sozialdemokratische Antwort ist notwendig», a.a.O., Nr. 7/8, S. 17 ff. Auf bürgerlicher Seite war insbesondere nach der Chemiekatastrophe bei Basel eine Zunahme der Einsicht in die Notwendigkeit staatlicher Regelungs- und Überwachungsfunktionen spürbar (vgl. dazu die Voten von NR Feigenwinter (cvp, BL) und NR Bremi (fdp, ZH) anlässlich der Parlamentsdebatte, Amtl. Bull. NR, 1986, S. 1869 f. und 1872 f.). Zu Tschernobyl und dem Chemiebrand siehe unten, Teil I, 6a (Politique énergétique) und 6d (Umweltpolitik).
[2] BA für Konjunkturfragen, Qualitatives Wachstum — Bericht der Expertenkommission des Eidg. Volkswirtschaftsdepartement, Bern 1985 ; siehe auch Presse vom 14.2.86. Den Anstoss zum Bericht hatte ein 1981 vom NR überwiesenes Postulat Ziegler (cvp, SO) gegeben (Amtl. Bull. NR, 1981, S. 426); mit einer als Postulat überwiesenen Motion hatte zudem 1984 die LdU/EVP-Fraktion den BR um eine Definition des in den Regierungsrichtlinien verwendeten Begriffs des qualitativen Wachstums ersucht (Amtl. Bull. NR, 1984, S. 1413 f.). Ähnliche Gedankengänge wie im Expertenbericht finden sich auch in P. Tschopp, Politique et projet collectif, Lausanne 1986 und Ch. Lutz, « Wertschöpfung gegen die Natur?», in Schweizer Monatshefte, 66/1986, S. 127 ff. Vgl. ferner B. Stricker, «Die Avantgarde wird rehabilitiert», in VCS-Zeitung, 1986, Nr. 5, S. 8 f.; P. Fornallaz, Die ökologische Wirtschaft, Aarau 1986. Zur Umweltgefährdung und -politik siehe unten, Teil I, 6d.
[3] Wirtschaft: wf, KK, 7, 17.2.86; wf, Dok., 35, 1.9.86; vgl. auch die vom St. Galler Zentrum für Zukunftsforschung formulierte Kritik (Bilanz, 1986, Nr. 5, S. 16 ff.). BR Furgler in Amtl. Bull. NR, 1986, S. 552 f. ; ders., «Qualitatives Wachstum — eine neue Dimension der Wirtschaftspolitik», in Mitteilungsblatt für Konjunkturfragen, 40/1986, S. 18 ff.; ders., Staat und Wirtschaft auf dem Weg ins neue Jahrhundert, Zürich 1986. Der NR regte mit einem Postulat die vermehrte Anwendung marktwirtschaftlicher Instrumente (namentlich Lenkungsabgaben) in der Umweltschutzpolitik an (Amtl. Bull. NR, 1986, S. 1030 f.). Im selben Sinn äusserte sich an der ausserordentlichen Delegiertenversammlung der FDP vom 25. Oktober BR Kopp (Presse vom 27.10.86).
[4] Kenntnisdefizit: H. P. Hertig, «Bit, Byte, Parteien und die Herausforderung der neuen Technologien », in Schweiz. Jahrbuch für Politische Wissenschaft, Bern 1986. FDP: Presse vom 25.8.86; NZZ, 26.8.86; Politische Rundschau, 65/1986, Nr. 2 und 3. SPS: Presse vom 23.6.86; Rote Revue, 65/1986, Nr. 7/8.
[5] H. Sieber, «Staat und Wirtschaft im internationalen Technologiewettbewerb», in Mitteilungsblatt für Konjunkturfragen, 40/1986, S. 50 ff.; H. Mey, «Der Technologiewandel und die Zukunft der Schweizer Industrie», in Politische Rundschau, 65/1986, Nr. 2, S. 19 ff.; H. Afheldt, «Der Staat — mehr als ein blinder Nachtwächter», in Der Monat, 1986, Nr. 12, S. 15 ff.; Bilanz, 1986, Nr. 6, S. 53 ff.; Schweiz. Handels- und Industrie-Verein (Vorort), Jahresbericht, 116/1985-86, S. 31 ff.
[6] Bund, 8.2.86 ; 9.12.86; Amtl. Bull. NR, 1986, S. 2048 (Postulat Allenspach, fdp, ZH). Vgl. dazu auch oben, Teil I, 1c (Regierung) sowie SPJ, 1985, S. 63, Anm. 13.
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