Année politique Suisse 1987 : Eléments du système politique / Droits, ordre public et juridique
 
Öffentliche Ordnung
Unter den vielen Kundgebungen, die auch in diesem Jahr wieder durchgeführt wurden, fanden die Ereignisse, welche sich im Frühjahr und im Spätherbst in der Stadt Bern abgespielt haben, besonderes Interesse. Die Organisationen der Kernkraftgegner hatten für den 25. April zu einer grossen nationalen Kundgebung zum Gedenken des zweiten Jahrestags der KKW-Katastrophe in Tschernobyl (UdSSR) aufgerufen. Gegen die von den Organisatoren vorgesehene Umzugsroute durch die Marktgasse legten die Stadtbehörden ihr Veto ein. Sie begründeten ihren Entscheid in erster Linie damit, dass dadurch der öffentliche Verkehr zur Berner Frühjahrsmesse BEA massiv beeinträchtigt würde. Als ein guter Teil der rund 10 000 Demonstranten versuchte, sich über dieses Verbot hinwegzusetzen, eskalierte die zuerst friedliche Kundgebung zur Strassenschlacht. Die Polizei, welche den Auftrag hatte, den Demonstranten den Zugang zur Marktgasse zu verwehren, setzte massiv Tränengas und Gummikugelgeschosse ein. Über den Sinn und die Verhältnismässigkeit des polizeilichen Vorgehens, das von der Stadtexkutive uneingeschränkt gedeckt wurde, entbrannten in der Folge heftige Kontroversen, die auch im Stadtparlament und vor dem Richter ausgetragen wurden. Einen besonderen Akzent erhielt die Auseinandersetzung dadurch, dass sich die sozialdemokratische Gemeinderätin Gret Haller nachträglich von ihren Regierungskollegen distanzierte. Einige Wochen später hielten die Kernenergiegegner in Bern eine weitere grosse Demonstration ab, ohne dass es zu neuen Zwischenfällen kam [8].
Gegen Jahresende war Bern erneut Schauplatz zum Teil heftiger Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Ausgangspunkt war diesmal allerdings nicht eine nationale Kundgebung, sondern ein lokales Phänomen: auf einem unbebauten Grundstück am Ufer der Aare hatte sich seit zweieinhalb Jahren eine Gruppe von mehrheitlich jugendlichen Aussenseitern niedergelassen und dort – nachdem sie vorgängig aus besetzten Häusern vertrieben worden waren – ein Zelt- und Hüttendorf aufgebaut, dem sie den Namen Zaffaraya gaben. Während die Zaffarayaner und ihre Sympathisanten darin einen wichtigen Freiraum für die Erprobung neuer Lebensformen sahen, drängten ein Teil der Öffentlichkeit und die bürgerlichen Parteien auf eine Beendigung dieses Experimentes. Die vorgebrachten Argumente richteten sich weniger gegen das Experiment an sich. Kritisiert wurde vielmehr, dass die – mehrheitlich bürgerliche – Exekutive nicht gegen die Besetzung einer städtischen Liegenschaft und die Missachtung von kantonalen Planungs- und Baugesetzen einschritt. Nach erfolglosen Verhandlungen und verschiedenen Ultimaten vollzog die Polizei am Morgen des 17. November gewaltsam die Räumung des Areals. Dies war das Fanal zu einer wahren Solidarisierungswelle mit den Zaffarayanern. Sozialarbeiter traten in den Streik und Mittelschüler blieben als Zeichen des Protests dem Unterricht fern. Auf den Strassen im Stadtzentrum fanden während Tagen Kundgebungen statt, die den Feierabendverkehr lahmlegten und immer mehr Demonstranten zu mobilisieren vermochten. Ihren Höhepunkt fand diese Protestwelle in einer Demonstration mit rund 10 000 Teilnehmenden. Obwohl keine dieser Demonstrationen bewilligt war, griff die Polizei in der Regel nicht ein und beschränkte sich auf Verkehrsumleitungen. Aber auch auf seiten der Manifestanten war das Bemühen um Gewaltlosigkeit nicht zu übersehen, so dass sich Sachbeschädigungen im Rahmen hielten. Wenn auch das Ausmass der Protestwelle überraschend war, so kam diese Neuauflage der "Bewegung" der frühen achtziger Jahre nicht ganz aus heiterem Himmel. Noch vor der Räumung des Hüttendorfs waren Personen aus der alternativen Kulturszene mit spektakulären Aktionen an die Öffentlichkeit getreten, um auf das Fehlen von geeigneten Räumen für Veranstaltungen hinzuweisen. Nach einem nicht bewilligten Fest in der alten Reithalle, welche während der Jugendbewegung als autonomes Jugendzentrum gedient hatte und dann von den Behörden geschlossen worden war, erlaubte der Gemeinderat deren provisorische Wiedereröffnung [9].
Neben diesen beiden die öffentliche Meinung polarisierenden Ereignissen traten die übrigen Demonstrationen etwas in den Hintergrund. Sie waren zwar auch in diesem Jahr zahlreich, vermochten aber nirgends mehr als 2–3 000 Personen zu mobilisieren. Hauptsächliche Themen bildeten weiterhin die Asylpolitik und die Kernenergie. In der Westschweiz gingen zudem vermehrt auch die Arbeiter auf die Strasse, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen [10].
Die Anschläge, welche im Jahr 1984 die Stadt Winterthur in Atem gehalten hatten, sind gerichtlich immer noch nicht bewältigt. Das kantonale Kassationsgericht hob das ausschliesslich auf Indizien basierende Urteil von 1986 gegen einen der beiden Hauptangeklagten wieder auf und wies den Fall zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück [11]. In den Kantonen Bern und Jura kam es im Herbst zu einer Serie von Sprengstoff- und Brandanschlägen, zu denen sich ein "Front de libération du Jura" bekannte. Wir treten auf diese Ereignisse im Zusammenhang mit der Jurafrage ein [12].
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Polizei
Im Vorjahr hatte die "Wochen-Zeitung" behauptet, dass in der Stadt Zürich getarnte Polizisten (sogenannte V-Leute), die zur Überwachung von linken politischen Gruppen eingesetzt waren, selbst zu Straftaten aufgerufen und sich daran beteiligt hätten. Obwohl einer der Beschuldigten zugab, beim Legen einer Bombenattrappe vor dem Büro eines lateinamerikanischen Generalkonsuls dabei gewesen zu sein, stellte die Bezirksanwaltschaft das Verfahren wegen Amtsmissbrauch ein. Sie begründete ihren Entscheid damit, dass bei dieser Aktion der Straftatbestand der Schreckung der Bevölkerung nicht erfüllt gewesen sei, und dass der V-Mann dank seinem Mitmachen das Legen einer richtigen Bombe verhindert habe. Die Angelegenheit hatte auch ein parlamentarisches Nachspiel in den Räten von Stadt und Kanton, doch fand die Linke, unterstützt von einem Teil der Grünen, keine Mehrheiten für den Verzicht oder zumindest die parlamentarische Kontrolle des Einsatzes von V-Leuten im Bereich des Staatsschutzes [13].
Die kantonalen Polizeidirektoren kamen auf ihren Beschluss aus dem Vorjahr betreffend der Verwendung der völkerrechtlich geächteten Hohlspitzmunition zurück. Diese äusserst wirksamen, jedoch grosse Wunden verursachenden Geschosse sollen nun doch in einigen genau definierten Fällen von der Polizei eingesetzt werden dürfen [14].
 
[8] Bund, 18.4., 23.-28.4., 1.5., 8.5., 9.6. und 30.10.; BZ, 23.-28.4., 9.6. und 11.11.87; Presse vom 27.4.und 9.6.87.
[9] Bund, 26.10., 16.11., 18.-23.11., 11.12. und 14.12.87; Presse vom 18.-23.11.87; WoZ, 30.10.87; TAM, 14.11.87. Vgl. auch unten, Teil I, 8b (Kultur).
[10] Demonstrationen mit mehr als 1000 Beteiligten: Kernkraft: Genf (zweimal, Suisse, 28.6.87; JdG, 13.11.87) / Asylpolitik und gegen Fremdenfeindlichkeit: Bern (BZ, 14.2.87), Genf (JdG, 30.3.87), Langenthal (Bund, 30.11.87) / PTT-Angestellte: Genf (JdG, 1 3.2.87) / Bauarbeiter: Genf (24 Heures, 26.3.87).
[11] TA, 20.7.87; vgl. SPJ, 1986, S. 16.
[12] Siehe unten, Teil I, 1d (Jurafrage).
[13] TA, 22.5., 2.6., 18.8., 3.9. und 10.9.87; WoZ, 27.5.87; SPJ, 1986, S. 16.
[14] Amtl. Bull. NR, 1987, S. 1523 f.; SPJ, 1986, S. 17 (Anm. 16).